Der Kapitalismus steckt voller Ironie: 40 Jahre, nachdem Pink Floyd ihre Kritik am Schulsystem in dem Schlachtruf formulierten, „Hey, Lehrer, lasst uns Schüler in Ruhe“, sitzen die Enkel ihrer Fans tatsächlich allein in den Klassenzimmern, während ihre Eltern klarstellen: „So war‘s nicht gemeint.“
Das Bündnis „Den Mangel beenden! – Unseren Kindern Zukunft geben!“ brachte in der vergangenen Woche eine Volksinitiative in den Landtag von Sachsen-Anhalt ein und fordert darin, dass 1 000 Lehrer und 400 pädagogische Mitarbeiter eingestellt werden. „Seit Jahren gibt es viel zu wenige Neueinstellungen in den Schuldienst. Gleichzeitig steigt aber […] die Zahl der Schülerinnen und Schüler. […] Das Schulsystem ist längst an seine Leistungsgrenze geraten. Die ständig steigenden Anforderungen führen dazu, dass immer mehr Lehrer und pädagogische Mitarbeiter in den älter werdenden Kollegien krankheitsbedingt fehlen und am Ende vorzeitig aus dem Schuldienst ausscheiden“, heißt es in dem Aufruf des Bündnisses, das sich zusammensetzt aus Gewerkschaften, Lehrer- und Elternverbänden und der Partei „Die Linke“.
Die Volksinitiative, für deren Erfolg 30000 Unterschriften erforderlich sind, wurde mit der Unterstützung von 77000 Bürgern eingereicht. Nun muss der Landtag darüber beraten, und das ist im bürgerlichen Staat so aussichtsreich wie ein Brief an den Weihnachtsmann: 2013 hatte sich die Volksinitiative „Kulturland Sachsen-Anhalt retten!“ gegen Einsparungen im Landeshaushalt gerichtet. Das Ergebnis: Man durfte im Dezember eine Rede halten, bevor die Kürzung im Januar trotzdem beschlossen wurde. CDU-Bildungsminister Marco Tullner formulierte seine „Ja, aber“-Haltung zur aktuellen Initiative gegenüber dem MDR mit den Worten: „Ich halte die Forderungen für einen sehr guten Beitrag für eine weitere bildungspolitische Debatte.“ „Ich bin natürlich an den Koalitionsvertrag und den Haushalt gebunden.“
Man kann auch sagen: Von den 2 Milliarden Euro, um den die Bundesregierung ihren Militäretat 2017 erhöht hat, könnte man mit einem Brutto-Durchschnittsgehalt von 4.000 Euro im Monat 40 000 Lehrer beschäftigen. Aber die Aufrüstung ihrer Armee ist der Bundesregierung mehr wert als die Schulbildung ihrer Kinder.
Bereits im April stellte der Grundschulverband des Landes in einer Erklärung fest: „Das Bildungsministerium Sachsen-Anhalt reagiert auf den ansteigenden Bedarf an Lehrkräften auf die einfachste Art und Weise: Die Stundenzuweisung an die Grundschulen wird abgesenkt, womit der Bedarf der Schulen rechnerisch verringert wird.“ Die Folgen davon sind eine Reduzierung der Zeit und Qualität des Unterrichts, der Ausfall von weiterführenden Förderangeboten (Chor, Theater, Ballsport, Mathematik, Schülerzeitung u. v. a. m.), der Anstieg der Teilnehmer von Lerngruppen und Schulklassen oder die Erhöhung von unbezahlter Arbeitszeit durch zusätzliche Aufsichtspflicht. Der Vorschlag des Verbandes, Grundschullehrer z. B. „durch den Wegfall von Klassenkonferenzen und Halbjahreszeugnissen zu [entlasten] und alternativ verbindliche und dokumentierte Elterngespräche auf der Grundlage der Kompetenzportfolios der Kinder zu ermöglichen“, sorgte für Schlagzeilen und Kritik von Eltern.
Obwohl Bildung in der föderalistischen Bundesrepublik Ländersache ist, sind die Probleme überall die gleichen. In mehreren Bundesländern werden zurzeit, besonders für naturwissenschaftliche Fächer, Quereinsteiger beschäftigt, die ohne pädagogische Ausbildung mit einer Weiterqualifizierung ihr Fachwissen Schülern vermitteln sollen. Laut der Internetplattform kommunal.de befinden sich in den Schulen Sachsens und Berlins unter den Lehrern bis zu 50 Prozent Seiteneinsteiger. Da sich beide Bundesländer beharrlich weigern, ihre Lehrer flächendeckend zu verbeamten, was außer in Thüringen und Sachsen-Anhalt in allen Ländern üblich ist, verwundert die Abwanderung von ausgebildetem Personal kaum. Ebenso wenig, wie die Tatsache, dass in den Bereichen Förderpädagogik, Grundschulbildung oder Sekundarstufe I die meisten Lehrer fehlen, die gegenüber ihren Kollegen an Gymnasien schlechter bezahlt werden.
Anders als deutsche Schulen braucht sich dagegen die Bundeswehr um Personal nicht sorgen. In der Mitte des Jahres gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass sich die Zahl der Bewerber gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent und die der Berufs- und Zeitsoldaten auf 170.000 erhöht haben. Der Soldatenberuf soll nach dem mehrfach erklärten Willen der Verteidigungsministerin attraktiver werden, und von den verwaisten Schulhöfen Deutschlands dürfen die zurückgelassenen Kinder bald die Antikriegsweise anstimmen: „Sagt uns, wo die Lehrer sind.“