Ausblick: ver.di befragt Beschäftige im öffentlichen Dienst zu Tarifforderungen

Wo Personalmangel auf Stellenabbau trifft

Der Tarifvertrag für die rund 2,3 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen läuft Ende 2022 aus. Um die anstehende Tarifauseinandersetzung vorzubereiten, hat ver.di schon jetzt eine Beschäftigtenbefragung gestartet. Ziel ist es, die zentralen Forderungen der anstehenden Tarifrunde aufzustellen und die Bereitschaft der Kolleginnen und Kollegen abzuklopfen, hierfür aktiv zu werden, neue Mitglieder zu gewinnen und – wenn nötig – zu streiken. Final werden die Forderungen dann in der Tarifkommission am 11. Oktober beschlossen.

In der Tarifrunde zuvor hatte ver.di Corona-bedingt mit den öffentlichen „Arbeitgebern“ von Bund und Kommunen vereinbart, dass die Löhne und Gehälter zunächst zum 1. April 2021 um 1,4 Prozent, mindestens aber 50 Euro, und zum 1. April 2022 um weitere 1,8 Prozent angehoben wurden. Auszubildende hatten jeweils 25 Euro mehr bekommen. Zusätzlich gab es eine Corona-Prämie. Für Pflegekräfte wurden zusätzliche Gehaltssteigerungen vereinbart und ein Durchbruch bei der Arbeitszeitangleichung Ost/West erzielt. Ab 1. Januar 2023 sinkt die Ost-Arbeitszeit auf Westniveau.

Die zentrale Herausforderung bei der nun anstehenden Tarifrunde ist, die extremen Preissteigerungen in Folge von Krieg und Krise zumindest ansatzweise zu kompensieren. Eine Aufgabe, vor der auch die IG Metall und die IG BCE in ihren diesjährigen Tarifauseinandersetzungen stehen. Inwieweit die IG Metall in diesem Jahr wieder die traditionelle „Türöffner-Funktion“ bei der Durchsetzung von Lohnerhöhungen übernimmt, bleibt abzuwarten. Für die 68.000 Beschäftigten in der nordwestdeutschen Stahl­industrie wurde eine Lohnerhöhung von 6,5 Prozent bei 18 Monaten Laufzeit abgeschlossen. Für die Metall- und Elektroindustrie liegt die Forderungsempfehlung des IGM-Vorstands bei 7 bis 8 Prozent.

Neben drohenden Reallohnverlusten gibt es für die im öffentlichen Dienst beschäftigten Kolleginnen und Kollegen eine Reihe weiterer Herausforderungen. Der Arbeitsalltag dort ist längst wie der vieler anderer Lohnabhängiger auch durch Stellenabbau, Arbeitsverdichtung, Befristung und andere Formen prekärer Beschäftigung geprägt. Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus begann Anfang der 1990er Jahre eine bis heute andauernde Phase der Kürzungen und Privatisierungen. Zwischen 1991 und 2020 ging die Anzahl der Beschäftigten bei Bund, Ländern und Kommunen von 6,74 auf 4,97 Millionen zurück.

Wie stark der Personalrückgang im öffentlichen Dienst Auswirkungen auf die dortige Arbeitsintensität hat, verdeutlicht eine Sonderauswertung des „DGB-Index Gute Arbeit“. In der Untersuchung gaben 45 Prozent aller Befragten an, sehr häufig oder oft wegen fehlenden Personals mehr arbeiten zu müssen. Bei den Beschäftigten in öffentlichen Krankenhäusern liegt der Wert sogar bei 78 Prozent. Die mangelnde Personalausstattung hat immer öfter gesundheitliche Beeinträchtigungen für die Beschäftigten zur Folge. In den vergangenen Jahren haben psychische Erkrankungen als Grund für Arbeitsunfähigkeit immer mehr an Bedeutung gewonnen.

Ein weiterer Aspekt des Stellenabbaus der letzten Jahrzehnte ist, dass die öffentliche Hand in Deutschland im Vergleich zu anderen Staaten an beschäftigungspolitischer Bedeutung verliert. In Schweden, Dänemark und Norwegen liegt der Anteil der Beschäftigten im öffentlichen Dienst im Verhältnis zur Gesamtbeschäftigung nach Zahlen der OECD bei knapp 30 Prozent. In der BRD sind es dagegen nur 10,6 Prozent. Auch gemessen an der Wirtschaftsleistung geben die skandinavischen Länder mit durchschnittlich 14,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts deutlich mehr für ihren öffentlichen Dienst aus als Deutschland mit gerade einmal 8,5 Prozent.

Der öffentliche Dienst ist nicht nur durch Stellenabbau, sondern auch durch die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichnet. So stieg der Anteil befristeter Arbeitsverträge zwischen 2004 und 2020 von 9,8 auf 14,5 Prozent an. Im Juni 2020 waren insgesamt 445.405 Kolleginnen und Kollegen befristet beschäftigt, davon 74.000 ohne Sachgrund. Besonders hoch ist der Anteil der befristet Beschäftigten an den Hochschulen und Universitäten. 2018 waren dort 67,9 Prozent aller hauptberuflichen wissenschaftlichen Beschäftigten befristet beschäftigt.

All diese Probleme wird man sicher nicht in der anstehenden Tarifauseinandersetzung lösen. Mit der Durchsetzung von Lohnerhöhungen, die nicht vollständig von der Inflation aufgefressen werden, können sich die Beschäftigten gegenüber der Kapitalseite den nötigen Respekt verschaffen, um sich perspektivisch auch in den anderen Konfliktfeldern durchzusetzen.

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"Wo Personalmangel auf Stellenabbau trifft", UZ vom 24. Juni 2022



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