Wenn der 23. Parteitag der DKP an diesem Wochenende diskutieren wird, schwingt immer die Frage mit, wie diese längst reifen Verhältnisse denn nun zum Tanzen zu bringen sind. Der Blick richtet sich suchend in die Ferne, viel zu wenig richtet er sich auf ihren Mittelpunkt, ins Herz beziehungsweise Gehirn der Revolutionäre, ihre Weltanschauung, ihre Philosophie.
Antonio Gramsci, Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, war einer derjenigen, die sich mit diesen Fragestellungen beschäftigten. Bis zum Beginn der 1920er Jahre hatte die kommunistische Weltbewegung im Anschluss an die russische Revolution auf schnelle Siege in den imperialistischen Ländern orientiert. Mit dem Beginn der faschistischen Herrschaft in Italien im Oktober 1922 und dem Scheitern des Hamburger Aufstands ein Jahr später endete die revolutionäre Nachkriegsphase, der Imperialismus saß wieder fest im Sattel.
Viele Parteien der gerade gegründeten 3. Internationale hatten sich erst am Ende des Weltkrieges von den reformistischen Kräften gelöst und waren noch mit linksradikalen Kinderkrankheiten beschäftigt. So auch der PCI, dessen Führung Gramsci 1924 übernahm. Bis zu seiner Verhaftung nur drei Jahre später führte er die italienischen Kommunisten auf einen leninistischen Kurs. Im faschistischen Kerker arbeitete der Philosoph und Arbeiterführer seine von Lenins Überlegungen zur Hegemonie ausgehende Strategie aus, welche den italienischen Kommunisten nach seinem Tod 1937 eine führende Rolle im antifaschistischen Kampf und im Wiederaufbau ermöglichten.
„Man muss das weitverbreitete Vorurteil zerstören, die Philosophie sei etwas sehr Schwieriges aufgrund der Tatsache, dass sie die spezifische intellektuelle Tätigkeit einer bestimmten Kategorie von spezialisierten Wissenschaftlern oder professionellen und systematischen Wissenschaftlern ist. Man muss daher vorab zeigen, dass alle Menschen ‚Philosophen‘ sind, indem man die Grenzen und die Wesenszüge dieser ‚spontanen Philosophie‘ definiert, die ‚jedermann‘ eigen ist, nämlich der Philosophie, die enthalten ist 1. in der Sprache selbst, die ein Ensemble von bestimmten Bezeichnungen und Begriffen ist und nicht etwa nur von grammatikalisch inhaltsleeren Wörtern; 2. im Alltagsverstand und im gesunden Menschenverstand; 3. in der Popularreligion und folglich auch im gesamten System von Glaubensinhalten, Aberglauben, Meinungen, Sicht- und Handlungsweisen, die sich in dem zeigen, was allgemein ‚Folklore‘ genannt wird.“
Kritisch denken
Jedes Verhalten des Menschen ist ein Verhalten gegenüber einem besonderen Teil der Welt, welches seinerseits Teil der ganzen Welt ist. Somit ist jedes Verhalten des Menschen auch ein Verhalten gegenüber der Welt als Ganzem und damit Ausdruck seiner jeweiligen Auffassung dieser Welt als Ganzem. Das führt Gramsci zu der Frage: „Ist es vorzuziehen, ‚zu denken, ohne sich dessen kritisch bewusst zu sein, auf zusammenhangslose und zufällige Weise, das heißt, an einer Weltauffassung ‚teilzuhaben‘‚ die mechanisch von der äußeren Umgebung ‚auferlegt‘ ist, und zwar von einer der vielen gesellschaftlichen Gruppen, in der jeder automatisch von seinem Eintritt in die bewusste Welt einbezogen ist (…) oder ist es vorzuziehen, die eigene Weltauffassung bewusst und kritisch auszuarbeiten und folglich, im Zusammenhang mit der Anstrengung des eigenen Gehirns, die eigene Tätigkeitssphäre zu wählen, an der Hervorbringung der Weltgeschichte aktiv teilzunehmen, Führer seiner selbst zu sein und sich nicht einfach passiv und hinterrücks der eigenen Persönlichkeit von außen Stempel aufdrücken zu lassen?“
Die uns umgebende Welt prägt uns dadurch, dass wir gezwungen sind, uns zu ihr in einem bestimmten historischen Moment zu verhalten und dass wir in der Lage sind, die Reflektion der Welt auf unser Verhalten wiederum zu reflektieren.
„Der Anfang der kritischen Ausarbeitung ist das Bewusstsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ‚Erkenne dich selbst‘ als Produkt des bislang abgelaufenen Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inventarvorbehalt. Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen.“
Das Verhalten der Menschen zu und in der Welt ist als allererstes auf die Produktion der Überlebensmittel gerichtet. Der Faustkeil und die Reflektion seiner Anwendung führen zu anderen Bewusstseinsinhalten, als die Situation als Arbeiter Teil der gesellschaftlichen Arbeitsteilung zu sein. Die bestimmte Form der Bewusstseinsinhalte ergibt sich in letzter Instanz aus dem Stand der Entwicklung der Produktivkräfte. Die ihnen entsprechenden Produktionsverhältnisse werden durch diese durch die Produktionsmittel bestimmte Form des Verhaltens zur Welt reproduziert als auch der Mensch selbst sich dadurch als Teil des Ganzen reproduziert.
Das Verhalten der Menschen in und zur Welt ist damit immer zugleich Produktion ihrer Überlebensmittel als auch Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse, also auch ein politisches Verhalten. Solange dieses Verhalten spontan, unreflektiert bleibt, kann es nicht über die bestehenden Verhältnisse hinaus und wird diese auch reproduzieren.
Widersprüchliche Bewusstseinsinhalte
„Es gibt in der Tat nicht die Philosophie im Allgemeinen: es gibt unterschiedliche Philosophien oder Weltauffassungen, und man trifft immer eine Wahl zwischen ihnen. Wie kommt diese Wahl zustande? (…) Dieser Gegensatz zwischen dem Denken und dem Handeln, das heißt die Koexistenz zweier Weltauffassungen, einer mit Worten behaupteten und der anderen, die sich im effektiven Handeln ausdrückt, beruht nicht immer auf Unaufrichtigkeit. Die Unaufrichtigkeit kann eine befriedigende Erklärung bei einigen einzeln betrachteten Individuen sein oder auch bei mehr oder minder zahlreichen Gruppen, sie ist jedoch unbefriedigend, wenn der Gegensatz in der Lebensäußerung breiter Massen auftritt: dann kann er nur gesellschaftlich-geschichtlicher Art sein. Was bedeutet, dass eine gesellschaftliche Gruppe, die eine eigene, wenn auch embryonale Weltauffassung hat, die sich in der Aktion und folglich unregelmäßig, gelegenheitsbedingt äußert, wenn also eine solche Gruppe sich als organische Gesamtheit bewegt, hat sie aus Gründen intellektueller Unterwerfung und Unterordnung eine Auffassung, die nicht die ihre ist, von einer anderen Gruppe übernommen, behauptet diese in Worten und glaubt auch, ihr zu folgen, weil sie ihr zu ‚normalen Zeiten‘ folgt, das heißt, wenn das Verhalten nicht unabhängig und autonom ist, sondern eben unterworfen und untergeordnet.“
Gramsci sieht dabei die vielfältigen Vermittlungen, in denen sich die Weltauffassung der herrschenden Klasse durchsetzt. Gerade dadurch, dass die spontan übernommene Weltauffassung nicht die Auffassung einer gesamten Klasse, sondern eine Mischform ist, erscheint sie eben nicht als klassengebunden. Das Verhalten in und zur Welt findet konkret statt, im Betrieb, der Familie, dem sozialen Umfeld, Vereinen, Schulen, Kunst und Museen, den konsumierten Medien. Hier findet die Vermittlung in ihrer gesamten Vielfältigkeit statt, aber auch in ihrem Gemeinsamen, Allgemeinen.
Diese Widersprüchlichkeit lässt sich auf den Grundwiderspruch des Kapitalismus zurückführen: die gesellschaftliche Produktion im Gegensatz zur privaten Aneignung der Arbeitsergebnisse. Im Betrieb handeln die Kollegen gemeinsam, sie produzieren in gesellschaftlicher Arbeitsteilung, in kaum noch zu überblickenden, komplexen Abläufen. Im gleichen Moment wirkt die Konkurrenz, die sowohl die Kapitalisten als auch die Arbeitenden erfasst. Die Reflektion dieser ökonomischen Verhältnisse durch die ideologische Brille des Kapitals lässt in den Hirnen eine kaum zu rekonstruierende Hexenbrühe entstehen.
„Der aktive Mensch der Masse wirkt praktisch, hat aber kein klares theoretisches Bewusstsein dieses seines Wirkens, das dennoch ein Erkennen der Welt ist, da er sie umgestaltet. (…) Man kann beinahe sagen, dass er zwei theoretische Bewusstseine hat (oder ein widersprüchliches Bewusstsein), eines, das in seinem Wirken impliziert ist, das ihn auch wirklich mit all seinen Mitarbeitern bei der praktischen Umgestaltung der Realität verbindet, und ein oberflächlich explizites oder verbales, das er von der Vergangenheit ererbt und ohne Kritik übernommen hat.“
Heute gibt es eine viel ausdifferenziertere und mächtigere Meinungsmachungsindustrie als zu Gramscis Zeiten. In diese investiert der Imperialismus viel, um seine Weltanschauung weiterhin unkritisiert zu vererben. Gleichzeitig gelingt ihm dies in einem Umfeld, wo alternative Informationen leichter zugänglich sind als je zuvor und das widersprüchliche Bewusstsein dadurch zur Kritik angeregt werden könnte.
Glauben oder Selbst-Bewusst-Sein
„Das wichtigste Element hat unzweifelhaft nicht-rationalen Charakter, ist Glaube. Aber an wen und an was? Besonders an die gesellschaftliche Gruppe, der er angehört, insofern sie in allen Einzelheiten so denkt wie er: der Mann aus dem Volk denkt, dass so viele nicht irren können, so im Block, wie der argumentierende Gegner gerne glauben machen möchte; dass er zwar unfähig ist, die eigenen Gründe so zu vertreten und darzulegen, wie der Gegner die seinen, dass es aber in seiner Gruppe jemanden gibt, der das tun könnte (…). Einmal blitzartig überzeugt worden zu sein ist der bleibende Grund, bei der Überzeugung zu bleiben, auch wenn man sie nicht mehr argumentativ zu vertreten vermag.“
Dies zeigt uns Kommunisten die Begrenztheit der reinen ideologischen Überzeugungsarbeit auf und die Anfälligkeit der Massen für allerlei Scharlatanerie. Es deutet gleichzeitig die Möglichkeiten und Aufgaben an: Die Ausarbeitung eines Hegemoniekonzeptes, das die wissenschaftliche Weltanschauung verbindet mit dem Glauben der Massen, mit ihrem gesunden Menschenverstand. Das bedeutet für Gramsci nicht populistisch zu werden, sondern das genaue Gegenteil. Es erfordert, die eigene Weltanschauung allumfassend auszuarbeiten und mit ihr einen Gegenentwurf zur historisch überholten Auffassung zu entwerfen. Dem neuen muss es gelingen, an den gesunden Menschenverstand der Massen, ihrem aus dem gesellschaftlichen Widerspruch erwachsenden, fortschrittlichen Bewusstsein anzusetzen und ihn mit der wissenschaftlichen Weltanschauung zu verbinden, ein Selbst-Bewusstsein des konkreten historischen Verhaltens zur Welt und damit auch der historischen Mission.
„Jedoch ist in den jüngsten Entwicklungen der Philosophie der Praxis (des Marxismus-Leninismus; BB) die Vertiefung des Begriffs der Einheit von Theorie und Praxis erst in einer Anfangsphase: noch gibt es Reste von Mechanizismus, denn man spricht von Theorie als ‚Ergänzung‘‚ ‚Zubehör, der Praxis‘, von Theorie als Magd der Praxis. (…) Kritisches Selbstbewusstsein bedeutet geschichtlich und politisch Schaffung einer Elite von Intellektuellen: eine menschliche Masse ‚unterscheidet‘ sich nicht und wird nicht ‚per se‘ unabhängig, ohne sich (im weiten Sinn) zu organisieren, und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle, das heißt ohne Organisation und Führer, das heißt, ohne dass die theoretische Seite des Theorie-Praxis-Nexus sich konkret ausdifferenziert (…).“
Die Aufgabe der Organisation und ihrer Führung, die sich aus den Massen rekrutiert und aufs Engste mit ihnen verbunden sein muss, ist die theoretische Reflektion der gesamten bisherigen Kultur und ihrer nationalen Besonderheiten und Traditionen. Daran ansetzend ergibt sich die Möglichkeit, allen bestimmten Formen des Verhaltens von Menschen zur Welt, der alten die neue Weltauffassung entgegen zu halten. In einer Form, die den Massen einleuchtet, an die sie auch glauben können, ohne schon verstanden zu haben und gleichzeitig alles zu tun, dass sie zu verstehen lernen. Das heißt, nach und nach den Herrschenden ihre ideologische Führung streitig zu machen und durch die Hegemonie der Arbeiterklasse zu ersetzen, um die Herrschaft des Imperialismus zu beenden.
„Daraus leiten sich bestimmte Notwendigkeiten für jede kulturelle Bewegung ab, die danach strebt, den Alltagsverstand und die alten Weltauffassungen im Allgemeinen zu ersetzen:
1. Niemals müde zu werden, die eigenen Argumente zu wiederholen (und dabei literarisch die Form abzuwandeln): die Wiederholung ist das wirksamste didaktische Mittel, um auf die Mentalität des Volkes einzuwirken;
2. Unablässig daran zu arbeiten, immer breitere Volksschichten intellektuell zu heben, das heißt, dem amorphen Massenelement Persönlichkeit zu geben, was bedeutet, daran zu arbeiten, Eliten von Intellektuellen eines neuen Typs hervorzurufen, die direkt aus der Masse hervorgehen und gleichwohl mit ihr in Kontakt bleiben, um zu ‚Korsettstangen, derselben zu werden. Diese zweite Notwendigkeit ist, wenn man ihr gerecht wird, diejenige, die wirklich das ‚ideologische Panorama‘ einer Epoche verändert.“
Die Suche in den Weiten der bürgerlichen Tiefebene bleibt erfolglos, solange es nicht gelingt, sie in den (Be-)griff zu bekommen. Das Selbst-Bewusst-Sein erwächst aus dem Begriff. Sein Weg ist der Weg nach Oben.
Antonio Gramsci
„Notizen zu einer Einführung und einer Einleitung ins Studium der Philosophie und der Kulturgeschichte“
in: Gefängnishefte, Hamburg 1994