Die Zeitung „nd – Der Tag“ urteilte am Montag: „Parteichefin Janine Wissler hat nicht übertrieben, als sie nach der Klausur des Linke-Vorstands vor einer Spaltung warnte.“ Wissler hatte am Sonntag im brandenburgischen Rathenow erklärt, angesichts der dramatischen sozialen Verwerfungen in der Bundesrepublik finde sie es „verantwortungslos, wenn Mitglieder dieser Partei davon sprechen, irgendetwas Neues machen zu wollen, die Partei verlassen zu wollen“. Es gebe eine Verantwortung der Partei für Millionen Menschen, die sie gewählt hätten. Namen nannte Wissler nicht.
In einem am Montag in der „Frankfurter Rundschau“ veröffentlichten Interview bekräftigten Wissler und ihr Kovorsitzender Martin Schirdewan in einem ausführlichen Interview aber, dass sie andere Ursachen für die wirtschaftliche und soziale Krise sehen als Sahra Wagenknecht. Die Bundestagsabgeordnete hatte am 8. September im Parlament die „dümmste Regierung in Europa“ für eine sich anbahnende „soziale und wirtschaftliche Katastrophe“ verantwortlich gemacht und Wirtschaftsminister Robert Habeck zum Rücktritt aufgefordert. An ihn gewandt erklärte sie: „Aber nicht nur, dass Sie zu feige sind, sich mit den Krisengewinnern anzulegen, das größte Problem ist Ihre grandiose Idee, einen beispiellosen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen. Ja, natürlich ist der Krieg in der Ukraine ein Verbrechen. Aber die Vorstellung, dass wir Putin dadurch bestrafen, dass wir Millionen Familien in Deutschland in die Armut stürzen und dass wir unsere Industrie zerstören, während Gazprom Rekordgewinne macht – ja, wie bescheuert ist das denn?“
Noch im Bundestag begannen Grünen-Vertreter mit Pöbeleien gegen Wagenknecht. Fraktionschefin Katharina Dröge: „Mit besten Grüßen aus Moskau, Ihre Rede!“; Katrin Göring-Eckardt: „Putins langer Arm!“; Felix Banaszak: „oberste Kreml-Lobbyistin“. Es sei „eine dumme Idee, eine richtig schlechte Idee“ gewesen, Wagenknecht nach einstündiger Beratung in der Linke-Fraktion auftreten zu lassen. Nur etwa 19 der 39 Linke-Abgeordneten waren während Wagenknechts Rede anwesend.
Als dann am 9. September „taz“-Kommentator Stefan Reinecke – eine Art Mullah des Wächterrats, mit dem die Bürgermedien die Linkspartei begleiten – fragte, ob Wagenknecht „nicht längst die Seite gewechselt hat – hin zu einem putinaffinen Rechtsnationalismus mit sozialpopulistischer Garnitur“, verstanden die Regierungssozialisten in der Partei die Winke ihrer Führungsfiguren und traten mit einem offenen Brief unter dem Titel „Es reicht!“ in der Nacht zum Samstag an die Öffentlichkeit. Darin forderten die ostdeutschen Landespolitikerinnen Katharina Preuss-König, Henriette Quade und Juliane Nagel den Ausschluss Wagenknechts aus der Bundestagsfraktion und den Rücktritt der Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch und Amira Mohamed Ali. Bis zum Montag hatten den Brief mehr als 1.900 Menschen unterzeichnet, die meisten anonym.
Wissler sagte der „taz“, der Unmut sei „verständlich“. Im „FR“-Interview erklärte Schirdewan: Er würde den Begriff „Wirtschaftskrieg“ nicht benutzen, weil er „die Sanktionen für legitim halte, um einen völkerrechtswidrigen Aggressor in die Schranken zu weisen, und sie dazu beitragen, diesen fürchterlichen Krieg so schnell wie möglich zu Ende zu bringen“. Außerdem entspreche das dem Beschluss des Erfurter Parteitages im Juni. Darin hieß es, „die Möglichkeiten, den Import von fossilen Energieträgern aus Russland schnellstmöglich einzuschränken“, müssten ausgenutzt werden.
Vier Wochen vor den Landtagswahlen in Niedersachsen ist die Linkspartei kurz nach dem erfolgreichen Auftakt der Montagsdemonstration am 5. September in Leipzig erneut in einer Zerreißprobe. Insbesondere das der grünen Kriegspartei zuneigende Lager in ihr hat sie herbeigeführt.