Ideologische Trance im Regierungsirrgarten

Wissen sie, was sie tun?

Kolumne
09 Kolumne koenig hartmut 1331 - Wissen sie, was sie tun? - Bundesregierung, Russland - Positionen

Der SPD-Außenpolitiker Michael Roth, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, sinnierte jüngst über ein Dezennium „folgenschwerer strategischer Fehler“ in der deutschen Russlandpolitik. Berlins Festhalten an Dialog und „Stabilität um jeden Preis“ hätte Putin nicht von seinem aggressiven Kurs abgehalten. Krudes Fazit: „Sicherheit kann es in Europa nur noch gegen, nicht mehr mit Russland geben.“ Auch Willy Brandt hätte heute seinen Kurs „den neuen Realitäten angepasst“. So klingt es, wenn sozialdemokratische Schmaldenker kategorisch ausschließen, dass der Kanzler der Ostverträge die ihnen abgehende Courage besessen hätte, heraufziehende Gefahren für Europa und die Welt beizeiten zu analysieren und vor dem Bruchpunkt zum Krieg einen Interessenausgleich anzustreben. Oder – wie Schröder beim Irakkrieg – aus einer amerikahörigen Koalition der Willigen auszuscheren. Denn bereits der Vorkrieg um die Ukraine war als antirussische Aufstellung der schwächelnden überseeischen Gegenmacht erkennbar und es gab keinen vernünftigen Grund, sich in diesen Konflikt politisch, militärisch oder ökonomisch hineinziehen zu lassen. Das medial befeuerte ideologische Treuebekenntnis der Ampelregierung zur gründlich desavouierten „regelbasierten“ Pax americana liegt jenseits dieser Vernunft.

„Weniger Moskau“ trötet der Botschafter-Melnyk-Versteher Roth. Das könne man von Willy Brandt lernen. Schließlich sei der „in Warschau auf die Knie gegangen, nicht in Moskau“. Solche atemberaubende Verwirrung fügt sich zum Dauerton grünen Russland-Bashings, mit dem die Phalanx Fücks-Beck-Nouripour-Harms-Habeck-Baerbock-Hofreiter die politische Atmosphäre schon früh vergiftete, und sie passt zu den bellizistischen Rüstungsappellen der FDP-Amazone Strack-Zimmermann. Eine ideologisch einschießende Trance tobt sich im Regierungsirrgarten aus. Sie rüstet maßlos auf und brüstet sich mit immer absurderen Sanktionen, die der deutschen Wirtschaft mehr schaden als der russischen. Dabei erheischt sie Verständnis, wenn die Lebenshaltungskosten für viele Menschen jenseits des Verkraftbaren explodieren und pervertiert das schöne Wort Solidarität. Regierungspolitiker, die geschworen haben, Schaden vom Land abzuwenden, müssten die destruktiven Gefahren der Rüstungs- und Sanktionsspirale ernst nehmen und entschlossen gegensteuern.

Nun reibt sich der nicht zur US-Fellowship gehörende Teil der Weltgemeinschaft, der weitaus größere übrigens, bei so viel germanischer Unvernunft die Augen. Ihm will nicht einleuchten, dass die bewunderte Industrienation Deutschland wegen des Ukraine-Konflikts auf günstige russische Rohstoffe verzichtet, während doch die meisten Exportländer des erhofften Ersatzes, vor allem die USA mit ihrem teuren und schmutzigen Fracking-Substitut, ihrerseits grausame Kriege angezettelt haben. Man belächelt diese seltsame Moral und kauft billig, was sich in der Druschba-Trasse leert, während in Schwedt und überall Arbeitsplätze in Gefahr geraten und deutsches Kurzduschen zur persönlichen Freiheitsgeste stilisiert wird. Umkehr zur Vernunft ist dringend geboten.

Die für die Wirtschaftskreisläufe und den weltweiten technologischen Fortschritt benötigten Rohstoffe sind nun mal nach Laune der Natur in der Welt verteilt und gegenseitig vorteilhafter Handel trotz politischer Gegnerschaft hat selbst in rauesten Zeiten des Kalten Krieges zuverlässig funktioniert. Anstatt Nord Stream 2 zu öffnen, wirft die Ampel diese Erfahrung auf den Müll, weil sie Russland ruinieren will. Was sie momentan wirklich ruiniert, darüber werden uns nachfolgende Generationen eine Standpauke halten. Aber die Stimmung kippt schon. Das Volk würde mehrheitlich ein Umsteuern zu nüchterner Realpolitik unterstützen. Nicht nur, weil bald die Nachzahlungsbescheide für Gas und Strom ins Haus fliegen.

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"Wissen sie, was sie tun?", UZ vom 5. August 2022



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