Der Begriff „Sanktionen“ für eigenmächtig von einem oder mehreren Staaten verhängte Maßnahmen ist irreführend. Denn nichts und niemand gibt einem Staat wie den USA oder einem Staatenbündnis wie der EU das Recht, selbstherrlich Strafmaßnahmen zu verhängen. Dazu ist allein der UN-Sicherheitsrat legitimiert. Korrekter sollten wir daher, wie es in UN-Dokumenten der Fall ist, von unilateralen Zwangsmaßnahmen reden. Häufig werden die von westlichen Staaten verhängten „Sanktionen“ damit begründet, Menschenrechte in den betroffenen Ländern verteidigen, durchsetzen oder, wie im Fall des russischen Einmarsch in die Ukraine, Völkerrechtsverstöße ahnden zu wollen. Tatsächlich verstoßen eigenmächtige Zwangsmaßnahmen jedoch selbst auf mehrfache Weise gegen internationales Recht und Menschenrechte – auch die aktuellen gegen Russland.
Da sie per se nur von dominierenden Mächten oder Bündnissen verhängt werden können, ist ihr Einsatz auch entsprechend selektiv. Sie werden fast ausschließlich von den USA und ihren Verbündeten verhängt. Solche Mächte können sicher sein, dass sie selbst bei schlimmsten Verbrechen nicht selbst Ziel solcher Maßnahmen werden können. Unilaterale Zwangsmaßnahmen fördern keineswegs die „Stärke des Rechts“, sondern setzen das „Recht des Stärkeren“ durch und sind daher letztlich Akte der Willkür.
„Mittelalterliche Belagerungen“
Die USA haben mittlerweile – allein oder zusammen mit den EU-Staaten – gegen rund 40 Länder solche eigenmächtigen Maßnahmen verhängt. Einige, wie die Wirtschaftsblockaden gegen Kuba, Iran, Venezuela, Nordkorea und Russland, sind allgemein bekannt. Die verheerenden Folgen der Blockaden gegen bereits völlig verarmte Länder wie Nicaragua, Mali, Simbabwe oder Laos hat jedoch kaum jemand auf dem Schirm. Natürlich wird von westlicher Seite stets beteuert, dass ihre Maßnahmen sich allein gegen die jeweilige Regierung, das jeweilige Regime richten würden. Doch selbst wenn dies der Fall wäre, liegt auf der Hand, dass sie in erster Linie die Bevölkerung treffen. Dies ist keineswegs ein unerwünschter Nebeneffekt, sondern gehört – entgegen allen Beteuerungen – zum Kalkül. Soll auf diese Weise doch öffentlicher Druck auf die Regierungen aufbaut werden, den Forderungen der blockierenden Mächte nachzugeben.
Wirtschaftsblockaden sind daher eine Form der Erpressung, mit der die Regierungen der betroffenen Länder zur Unterordnung unter die Politik der westlichen Mächte gezwungen werden sollen. Oft, wie im Fall Kuba, Syrien, Iran oder Venezuela, werden mit ihnen auch offen „Regime Changes“ angestrebt, indem versucht wird, die Bevölkerung durch eine drastische Verschlechterung der Lebensbedingungen zum Aufstand zu nötigen. Alle Bürger der betroffenen Länder werden so als Geiseln genommen.
Der ehemalige Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates für Lateinamerika, Alfred De Zayas, brachte es auf den Punkt: Grundsätzlich seien Wirtschaftssanktionen vergleichbar mit „mittelalterlichen Belagerungen von Städten“, die zur Kapitulation gezwungen werden sollten „Die Sanktionen des 21. Jahrhunderts versuchen aber nicht nur eine Stadt, sondern souveräne Länder in die Knie zu zwingen. Ein Unterschied besteht vielleicht darin, dass Sanktionen des 21. Jahrhunderts von der Manipulation der öffentlichen Meinung durch ‚Fake News‘, einer aggressiven PR-Arbeit sowie einer Pseudo-Menschenrechtsrhetorik begleitet werden, um den Eindruck zu erwecken, dass das ‚Ziel‘ der Menschenrechte kriminelle Mittel rechtfertigt …“
Billig für Angreifer …
Mittlerweile ist diese heimtückische Form moderner Kriegsführung die am häufigsten angewandte. Da sie unblutig daher kommt, ist es leichter, dafür öffentliche Unterstützung zu finden.
Wirtschaftskriege werden von US-Politikern offen als günstigere Alternative zu militärischen Interventionen gepriesen, da sie wesentlich geringere Risiken und Nebenwirkungen für die Angreifer bergen. Doch auch diese Kriege sind zerstörerisch und können in den betroffenen Ländern Jahrzehnte des Fortschritts in den Bereichen Gesundheitsversorgung, sanitäre Einrichtungen, Wohnungsbau, Basisinfrastruktur und industrielle Entwicklung zunichte machen. Sie bergen zudem, wie die Geschichte zeigt, stets die Gefahr, in eine offene militärische Konfrontation zu eskalieren, eine Gefahr, die auch im Wirtschaftskrieg gegen Russland akut ist.
Kritik wegen der schädlichen Auswirkungen auf die betroffenen Menschen wird mit dem Hinweis zurückgewiesen, humanitäre Güter wie Nahrung und Medizin seien doch von den Blockaden ausgenommen. Das ist zwar formal richtig, in der Sache aber eine bewusste Irreführung. Tatsächlich sind Versorgungsengpässe bei umfassenden Blockaden programmiert. Handelsblockaden behindern jeglichen Import und verteuern ihn. Gleichzeitig verlieren die Länder durch Wegfall ihrer Exporte auch die zum Einkauf nötigen Devisen. Wenn betroffene Länder zusätzlich auch vom internationalen Zahlungsverkehr und Kreditwesen ausgeschlossen werden, können sie nicht auf übliche Weise bezahlen. All dies und die Sorge, unversehens gegen eine unbekannte Bestimmung im undurchsichtigen Geflecht der Embargoregeln zu verstoßen, lassen Lieferanten abspringen oder drastische Preisaufschläge fordern. Durch die gängige Blockade von sogenannten „Dual Use“-Gütern wird zusätzlich noch die Eigenproduktion von Maschinen, Ersatzteilen bis hin zu Pflanzendünger und Medikamenten stark beeinträchtigt.
… destruktiv für Opfer
Die heutigen Gesellschaften beruhen auf einem komplexen Netz unentbehrlicher Infrastruktur. Wenn aus Mangel an Ersatzteilen Pumpen, Generatoren oder Abwassersysteme ausfallen, können ganze Stadtteile im Sumpf versinken und sich Cholera- und Typhus-Seuchen ausbreiten. Erhalten Bauern nicht mehr genug Saatgut und Dünger, bricht die Eigenversorgung zusammen. Wenn mehrere solche Faktoren zusammenwirken, können lebensbedrohliche Notlagen entstehen. Richtig mörderisch wird es, wenn eine derart dominante Macht wie die USA ihre Gegner durch vollständige Blockaden zu strangulieren suchen, indem sie Drittländer durch Androhung von sogenannten „sekundären“ oder „extraterritorialen Sanktionen“ zwingen, sich den Embargomaßnahmen anzuschließen. Sie führen in besonderem Maße zu einer Übererfüllung der ohnehin schon massiven Sanktionsregelungen, da sie die Angst von Banken, Reedereien und Industrieunternehmen enorm verschärfen, unversehens in die Mühlen zu geraten, dass sie selbst vor Geschäften zurückschrecken, für die die blockierenden Mächte Ausnahmen aus humanitären Gründen eingeräumt haben.
Der „stille Tod“
Lang andauernde Wirtschaftskriege können daher mehr Opfer fordern als militärische. So kostete das umfassende Embargo gegen den Irak von 1990 bis 2003 mehr als eine Million Iraker das Leben, die Hälfte davon Kinder. Die damalige Außenministerin der USA, Madeleine Albright, sagte in einem Interview, dass die toten Kinder „den Preis wert waren“. Todesopfer sind bei den Sanktionierern einkalkuliert. Auch wenn die aktuellen Handels- und Finanzblockaden gegen Länder wie Syrien, Venezuela oder Kuba bisher noch nicht so verheerend wirken wie das Irak-Embargo, so töten ohne Zweifel auch sie. So forderten die US- und EU-Sanktionen gegen Venezuela nach Schätzungen des Washingtoner Forschungsinstituts Centre for Economic and Policy Research (CEPR) zwischen 2017 und 2018 40.000 Menschenleben. Selbst in einem Land wie dem Iran, der die Lage noch recht gut im Griff hat, führen die unter US-Präsident Donald Trump wieder verschärften Blockademaßnahmen zu massiven Versorgungsengpässen.
Kuba, das seit fast 60 Jahren mit einer Wirtschafts-, Handels- und Finanzblockade der USA konfrontiert ist, hat immer wieder mit Versorgungsengpässen zu kämpfen. Das kubanische Gesellschaftssystem sorgt zwar dafür, dass niemand hungert, das Land wird aber durch das Embargo massiv in seiner Entwicklung gehemmt, insbesondere da sich aufgrund der Androhung „extraterritorialer Sanktionen“ auch Unternehmen aus der EU und anderen Staaten der Blockadepolitik unterwerfen. Die Situation in Syrien ist noch dramatischer. Schon im Mai 2019 berichtete der damalige UN-Sonderberichterstatter Idriss Jazairy über negative Folgen eigenmächtiger Zwangsmaßnahmen. Ihre Opfer würden „einen stillen Tod“ sterben.
Gegen Völkerrecht und UN-Mehrheit
Die überwiegende Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten lehnt eigenmächtige Blockaden grundsätzlich ab, was sich seit Langem in Resolutionen sowohl der UN-Vollversammlung als auch des UN-Menschenrechtsrats niederschlägt. Bereits 1991 forderte die UN-Generalversammlung „dringend, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die Anwendung einseitiger wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen gegen Entwicklungsländer durch einige Industrieländer zu unterbinden, die das Ziel haben, direkt oder indirekt Zwang auf die souveränen Entscheidungen der von diesen Maßnahmen betroffenen Länder auszuüben“.
Eigenmächtige, nicht von UN-Organen autorisierte Zwangsmaßnahmen, so der Tenor aller späteren Resolutionen, widersprechen den Normen und Grundsätzen für friedliche Beziehungen zwischen Staaten und stellen, wie es zum Beispiel in der UN-Resolution vom Dezember 2013 heißt, „eine eklatante Verletzung der Prinzipien des Völkerrechts sowie der Grundprinzipien des multilateralen Handelssystems dar“.
Sobald die Blockierung des Außenhandels eines Landes das Leben der Bevölkerung als Ganzes bedroht, sind umfassende ökonomische Blockaden zudem auch schwere Menschenrechtsverletzungen, dies gilt auch, wenn sie vom UN-Sicherheitsrat autorisiert sind. Sie verstoßen dann gegen die in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ von 1948 fixierten Rechte. Zu diesen zählen das Recht auf Leben, auf angemessene Ernährung und Gesundheitsversorgung sowie auf soziale Sicherheit. Sobald Blockaden die Versorgung erheblich beeinträchtigen, wie im Jemen, Afghanistan oder in Syrien, verstoßen sie zudem auch gegen die Genfer Konvention, die das Aushungern der Zivilbevölkerung verbietet, und sind dann Kriegsverbrechen gleichzusetzen. Schließlich sind Blockaden auch eine Form kollektiver Bestrafung, die in völligem Gegensatz zu den Grundprinzipien des Rechts steht.
Die UN-Sonderberichterstatterin über die negativen Auswirkungen der einseitigen Zwangsmaßnahmen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte, Alena Douhan, geht davon aus, „dass etwa 98 Prozent der heute verhängten einseitigen Sanktionen gegen die internationalen Verpflichtungen der Staaten verstoßen“. Obwohl sie „meist im Namen der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit verhängt“ würden, untergrüben sie „genau diese Grundsätze, Werte und Normen“.
„Massenvernichtungs-Sanktionen“
Da das Irak-Embargo mit der Gefahr irakischer Massenvernichtungswaffen begründet worden war, untersuchten die beiden renommierten US-Politikwissenschaftler Prof. John Mueller und Dr. Karl Mueller 1999 die Folgen von Wirtschaftsblockaden und verglichen ihre humanitären Folgen mit denen des Einsatzes von atomaren, chemischen und biologischen Waffen. Sie kamen zum Schluss, dass Wirtschaftsblockaden damals schon mehr Todesopfer gefordert hatten als alle Massenvernichtungswaffen der Geschichte zusammen. Sie bezeichneten sie daher als „Massenvernichtungs-Sanktionen“.
Hinzu kommt, dass die Gründe für die Zwangsmaßnahmen meist mehr als zweifelhaft sind und von Doppelmoral nur so strotzen. Die von den USA und ihren Verbündeten verhängten Blockaden werden offensichtlich vorwiegend zur Verfolgung eigener Interessen verhängt – ausnahmslos gegen Länder, die als Gegner oder Rivalen angesehen werden oder ihren wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen im Wege stehen, und gegen Regierungen, die sich nicht den westlichen Regeln unterwerfen wollen. Der Anschein, dass hierin die wahren Gründe liegen, wird nicht zuletzt dadurch genährt, dass viele andere Staaten, wie die Türkei oder Saudi Arabien, trotz ihrer Kriege und Menschenrechtsverletzungen nicht mit Zwangsmaßnahmen belegt werden, sondern enge Verbündete bleiben.
Wirtschaftssanktionen oder besser Wirtschaftsblockaden sind somit alles andere als zivile gewaltfreie Alternativen zu militärischen Interventionen und schon aus humanitären und völkerrechtlichen Gründen genauso abzulehnen wie militärische Gewalt.