In unserer Artikelreihe zu den Ursachen und Folgen der Konterrevolution in Deutschland und dem Leben und Arbeiten in der DDR folgt in dieser Ausgabe der UZ ein Interview mit Rechtsanwalt Hans Bauer. Hans Bauer wurde 1941 in Thüringen geboren. Nach Abitur und Militärdienst in der NVA studierte er Jura an der Humboldt-Universität zu Berlin. 1966 wurde er zum Staatsanwalt ernannt, fünf Jahre später zur Generalstaatsanwaltschaft der DDR versetzt, bei der er bis zum Stellvertretenden Generalstaatsanwalt der DDR aufstieg. Von 1973 bis 1978 absolvierte Bauer ein Fernstudium als Gesellschaftswissenschaftler an der Parteihochschule „Karl Marx“. Anfang der 1980er Jahre wirkte er mehrere Jahre als Regierungsberater in der Volksdemokratischen Republik Jemen. Das Ende der DDR bedeutete für Bauer die Entlassung aus dem Justizdienst. Seit 1993 arbeitet er in Berlin als Rechtsanwalt.
UZ: Du bist 1941 geboren, hast früh deinen Vater verloren. Dennoch konntest du dein Abitur machen und Jurist werden. Wie hast du deine Jugend am Beginn der DDR erlebt?
Hans Bauer: Trotz der schwierigen Nachkriegszeiten hatte ich eine glückliche Kindheit und Jugend. Das verdanke ich einer fürsorglichen Mutter und der neuen Ordnung, der späteren DDR, die sich besonders der Bedürftigen annahm. Schule und Pionierorganisation vermittelten mir Wissen und wachsende Bewusstheit. Auch Selbstvertrauen. Ich fühlte mich geborgen. Nach der 8. Klasse der Grundschule, die Polytechnische Oberschule (POS) wurde erst ab 1959 eingeführt, wurde ich für die EOS (Erweiterte Oberschule) vorgeschlagen. Eigentlich wollte ich einen Handwerksberuf erlernen, Elektriker oder ähnliches, aber nach einem Gespräch mit dem Kreisschulrat und dem Wunsche meiner Mutter folgend entschied ich mich für die EOS, um das Abitur zu machen. Erst später wurde mir bewusst, dass die Delegierung dorthin etwas mit dem Brechen des bürgerlichen Bildungsprivilegs zu tun hatte. Betonen muss ich aber, dass ich während meiner Schulzeit niemals Unterschiede nach der sozialen Herkunft verspürt habe, auch nicht unter meinen Mitschülern.
Aus Interesse und Überzeugung ging ich freiwillig zur NVA. Das waren für mich alles Selbstverständlichkeiten. Mehrere Studienrichtungen kamen für mich nach der Armeezeit 1961 in Frage, Pädagogik, Ökonomie, Journalistik. Ich entschied mich dann aber für die Rechtswissenschaft in Berlin. Die finanzielle Unterstützung durch den Staat war gesichert. Vor dem Studienabschluss wurde ich für die Staatsanwaltschaft geworben. Das entsprach meinen politischen Überzeugungen und meinen Interessen für Kriminologie und Kriminalistik.
UZ: Zu Beginn deiner Tätigkeit als Staatsanwalt gab sich die DDR 1968 eine neue Verfassung. Was war das Besondere an ihr?
Hans Bauer: Die gesamte Verfassung atmete den Geist eines sich entwickelnden sozialistischen Staates. Es war eine Verfassung, die klar die politischen und ökonomischen Grundlagen unseres Staates definierte. Und dabei die führende Rolle der SED benannte. Das fand bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung – mit 95 Prozent – Zustimmung. Besonders hervorheben möchte ich die Grundrechte und Grundpflichten der Bürger wie Würde und Freiheit der Persönlichkeit, die Mitgestaltung des gesellschaftlichen Lebens, das Recht auf Arbeit, auf Bildung, auf Gesundheit. Auf Wohnraum, Gleichberechtigung von Mann und Frau, aber auch auf Schutz und Sicherung des Errungenen. Die Einheit von Rechten und Pflichten und die Verantwortung des Staates und aller seiner Organe waren eine völlig neue Qualität deutscher Verfassungen. Nahezu an jedem Artikel dieser Verfassung ließe sich der sozialistische Charakter nachweisen.
Eine solch zutiefst humanistische Verfassung, die politische und soziale Rechte als Einheit beinhaltet, ist für eine kapitalistische Gesellschaft undenkbar.
UZ: Der DDR wird heute vorgeworfen, sie sei undemokratisch gewesen, da es keine freien Wahlen gegeben hätte. Wie konnte sich die Bevölkerung in die politischen Entscheidungsprozesse einbringen?
Hans Bauer: Es ist Unsinn, dass es keine freien Wahlen in der DDR gab. Allein die Abstimmung und das Ergebnis der 1968er-Verfassung beweisen, wie ernst die Demokratie genommen wurde. Für uns unterschieden sich Wahlen grundlegend vom bürgerlichen Wahlrummel der BRD früher und heute. Die eigentliche Wahl fand in der Auswahl der Kandidatinnen und Kandidaten statt. In Bürgerversammlungen und in Arbeitskollektiven wurden die Befähigtsten auf die Listen der Nationalen Front gesetzt. Und in allen Bereichen mussten sie Rede und Antwort stehen. Der Wahlakt selbst war schließlich der Abschluss eines langen demokratischen Prozesses. Selbstverständlich konnte auch hier noch für oder gegen Kandidierende gestimmt werden.
Selbst wenn an einzelnen Ergebnissen gezweifelt wurde oder es Einsprüche gab, war die Zustimmung regelmäßig so überwältigend, dass es am Gesamtergebnis nichts änderte.
UZ: Nach der Verfassung gab es ein umfangreiches Eingaben- und Petitionsrecht. Hat es den DDR Bürgern genutzt?
Hans Bauer: Bürger und gesellschaftliche Organisationen konnten sich nach dem Gesetz schriftlich oder mündlich mit Vorschlägen, Hinweisen, Anliegen und Beschwerden an die jeweils Verantwortlichen oder Institutionen, aber auch an Abgeordnete wenden. Diese hatten innerhalb von vier Wochen zu antworten und bei Bedarf Maßnahmen zur Klärung eines Problems einzuleiten.
Ich kenne die Eingabepraxis aus eigener Tätigkeit, da auch in der Staatsanwaltschaft viele Eingaben eingingen. Diese berührten nicht die prozessualen Rechte im Straf- oder anderen Verfahren, sondern betrafen zumeist die gesetzlich geregelten Aufgaben von Staats- und Wirtschaftsorganen und ihren Mitarbeitern; das waren zum Beispiel oft Wohnungsfragen. Bürger wandten sich vertrauensvoll an Verantwortliche in Staat und Partei, natürlich auch mit Beschwerden über amtliche Entscheidungen.
Die Einhaltung des Eingabegesetzes wurde streng kontrolliert. Regelmäßig alle ein bis zwei Jahre musste die Tätigkeit auf diesem Gebiet eingeschätzt werden, nach Gegenstand, Bearbeitungsdauer, Resonanz beim Bürger, Schlussfolgerungen. Diese Analysen auf allen Ebenen wurden vom Staatsrat zusammengefasst und waren eine Grundlage für die wissenschaftliche Leitung der Gesellschaft.
Für viele Bürger war das Recht auf Eingaben sehr hilfreich bei der Lösung persönlicher Probleme. Es half, das Verhältnis Staat-Bürger zu festigen.
UZ: Als Staatsanwalt war deine Aufgabe, Straftäter der DDR anzuklagen. Wie sah denn die Kriminalstatistik der DDR überhaupt aus?
Hans Bauer: Zunächst: Die Staatsanwaltschaft war ein selbstständiges Organ der sozialistischen Rechtspflege. Es wurde vom Generalstaatsanwalt der DDR geleitet; dieser wurde von der Volkskammer gewählt, war ihr rechenschaftspflichtig (zwischen den Tagungen dem Staatsrat). Er war also im Interesse seiner Unabhängigkeit nicht Mitglied der Regierung und natürlich auch keinem Justizminister unterstellt. Die Staatsanwaltschaft war nach dem Gesetz über die Staatsanwaltschaft „Hüter der Gesetzlichkeit“ im ganzen Lande. Damit ging ihre Kompetenz weit über die Anklagetätigkeit hinaus. Das war eine völlig andere staatsrechtliche Stellung als die der BRD-Staatsanwaltschaft.
Eine der wichtigsten Aufgaben als Staatsanwalt bestand allerdings darin, das Ermittlungsverfahren in Strafsachen zu leiten und Schuldige anzuklagen. Dieses ganze Verfahren war verbunden mit gezielten Maßnahmen zur Vorbeugung weiterer Gesetzesverletzungen, das heißt, der Feststellung ihrer Ursachen und Bedingungen. Das entsprach der Forderung von Marx, der weise Gesetzgeber müsse das Verbrechen verhindern, um es nicht bestrafen zu müssen. In Verwirklichung dieser Aufgabenstellung hatte der Staatsanwalt gemeinsam mit anderen Organen viele Verpflichtungen, vorbeugend tätig zu werden. So wurden Arbeits- und Wohnkollektive einbezogen, staatliche Leiter hatten Stellung zu nehmen, Forderungen nach Herstellung gesetzlicher Vorgaben konnten erhoben werden. Rechtsfragen hatte er in Betrieben und Wohngebieten zu behandeln, die Gesellschaftlichen Gerichte hatte er anzuleiten und so weiter.
Ich selbst habe viele Veranstaltungen in Schulklassen und Jugendkollektiven durchgeführt, wo ich zum Beispiel über die Jugendgesetzgebung sprach oder auch Strafverfahren auswertete.
Die Verhütung von Straftaten war also tatsächlich eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das Ergebnis war eine niedrige Kriminalitätsrate. Über Jahre hinweg wurden in der DDR jährlich um 120.000 Straftaten begangen. Das waren etwa 700 Straftaten pro 100.000 Einwohner. In der BRD (alt) lag die Häufigkeitsziffer um die 7.000 Straftaten. Die Kriminalitätsbelastung war also mehr als zehn mal höher als in der DDR. Heute betragen die festgestellten Straftaten in ganz Deutschland über 5,4 Millionen. Hier hat also offenbar die Integration der DDR, die Angleichung der Lebensverhältnisse, gut geklappt.
UZ: Was hat einen Gerichtsprozess in der DDR von einem in der BRD unterschieden? Am Ende wurde ja jeweils „im Namen des Volkes“ Recht gesprochen.
Hans Bauer: Richtig, Recht wurde in beiden deutschen Staaten „im Namen des Volkes“ gesprochen. Die Unterschiede lagen im Charakter des Staates. In jedem Falle hat Rechtsprechung mit den politischen Interessen zu tun. Die DDR hat das nie geleugnet. Die BRD verschleiert, dass Recht immer auch Klassencharakter trägt.
Viele Prozesse waren und sind natürlich nicht vordergründig politisch bedingt. Und die Gerichtsprozesse sind sogar von der äußeren Form her ähnlich. Bei näherer Betrachtung gibt es aber wesentliche Unterschiede. Ich war Jahrzehnte Staatsanwalt in der DDR und nun Rechtsanwalt in der BRD, traue mir einen Vergleich aus persönlicher Erfahrung gut zu. Die Gliederung, Rechtsmittel und Regelungen der verschiedenen Instanzen waren sehr unterschiedlich. Die Recht sprechende Tätigkeit staatlicher und gesellschaftlicher Gerichte (Konflikt- und Schiedskommissionen) war in der DDR einmalig. Das war Ausdruck von Demokratie, die Übertragung ursprünglich staatlicher Aufgaben auf die Gesellschaft.
Im staatlichen Gerichtsprozess der BRD spielen prozessuale Fragen eine dominierende Rolle. Mit prozessualen Tricks kann ein Verfahren verhindert und verzögert werden. In der DDR war wichtiger die Feststellung der Wahrheit. Auch deshalb gab es unter anderem eine Beweisrichtlinie des Obersten Gerichts zur einheitlichen Anwendung bei der Wahrheitsfindung.
Entscheidende Unterschiede sind auch Regelungen zur Schadenswiedergutmachung, zur Mitwirkung der Arbeits- und Wohnkollektive in Verfahren, zur erzieherischen Einflussnahme auf den Straftäter. Der Strafprozess im BRD-Recht beinhaltet im Wesentlichen ein Abstrafen, uns ging es um die Veränderung im Denken und Handeln der Gesetzesverletzer und der Verhältnisse.
UZ: Welche Mängel hatte das Rechtssystem der DDR?
Hans Bauer: Auch das Rechtssystem war insgesamt stabil. Ich bin überzeugt, es war eines der besten der Welt: progressive Entwicklung fördern, einheitliche Gesetzlichkeit im Lande sichern, Rechtsverletzungen vorbeugen.
Neue Entwicklungen erforderten natürlich auch neue Überlegungen. Das betraf die Einführung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit Mitte der 1980er Jahre. Auch Überlegungen, die Verfassung stärker zu nutzen und ins Bewusstsein der Menschen zu rücken, wären notwendig gewesen. Vielleicht hätte man sogar über ein Verfassungsgericht diskutieren müssen. Das hat nichts mit einer Dreigewaltenteilung zu tun, die in den kapitalistischen Staaten heute ohnehin eine Farce ist. Im Sozialismus existiert eine einheitliche sozialistische Staatsmacht. Was aber nicht ausschließt, dass auch Gesetze und Entscheidungen auf Verfassungsmäßigkeit geprüft werden.
Für die Strafjustiz wären Überlegungen notwendig gewesen, ihre Unabhängigkeit zu stärken. Die Staatsanwaltschaft hätte als „Hüter der Gesetzlichkeit“ erheblich personell aufgestockt werden müssen.
Neue Erscheinungsformen der Kriminalität mussten schließlich rechtzeitig auf ihre Vorbeugung und Bekämpfung untersucht und ausgerichtet werden. Das waren neofaschistische und rechtsradikale Vorkommnisse in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, zunehmende Angriffe auf das persönliche Eigentum, Stärkung von Gesetzlichkeit, Sicherheit und Ordnung beim Schutz sozialistischen Eigentums.
UZ: Die Anti-DDR-Propaganda nutzt gerne das Wort „Unrechtsstaat“. Sicher unterschieden sich Rechtsnormen und die Chancen, Recht zu bekommen, in BRD und DDR. Wikipedia definiert einen Rechtsstaat als „ein Staat, der einerseits allgemein verbindliches Recht schafft und andererseits seine eigenen Organe zur Ausübung der staatlichen Gewalt an das Recht bindet.“ War die DDR ein Rechtsstaat?
Hans Bauer: Ja, selbstverständlich. Aber sie wollte kein bürgerlicher Rechtsstaat sein. Sie war auf dem Weg zu einem sozialistischen Rechtsstaat. Und ist dabei weit vorangekommen. Auch in der DDR war das Recht verbindlich, ebenso waren alle staatlichen Organe daran gebunden. Der materielle Inhalt der Rechtsnormen war allerdings auf das Wohl aller Bürger gerichtet. Und das Wohl aller Bürger war garantiert.
Der bürgerliche Rechtsstaat ist angesichts des Privateigentums an den Produktionsmitteln dazu gar nicht in der Lage. Letztlich setzen sich auch in der Rechtsetzung und -sprechung immer die Interessen des Kapitals zur Erzielung von Profit durch, selbst, wie wir jetzt gerade erleben, im Gesundheitswesen und bei bestimmten Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung.
Ich bin stolz, in einem sich entwickelnden sozialistischen Rechtsstaat der DDR als Staatsanwalt gedient zu haben.