Wir wollen Zeugnis ablegen

1985 erschien die Anthologie „An jenem Tag“ im Verlag Volk und Welt in der DDR in deutscher Übersetzung. Zum 40. Jahrestag der Zerstörung Hiroshimas und Nagasakis legte der Verlag diese Sammlung literarischer Zeugnisse vor, herausgegeben von Jürgen Berndt. Sowohl die Auszüge aus längeren Prosatexten wie die vorgestellten Gedichte können einen Eindruck davon vermitteln, welches Leid diese Apokalypse atomarer Vernichtung nicht nur in der ersten Zeit danach, sondern bis in die Gegenwart über die Menschen gebracht hat.

Sankichi Toge
Der Morgen

Sie träumen:
Der Arbeiter, Schweiß in den Narben vom Atombombenblitz lässt die Spitzhacke sinken und träumt
Die Frau, vom stechenden Geruch offener Wunden umnebelt
sitzt an der Nähmaschine und träumt
Das Mädchen am Schalter, das Karten entwertet
verbirgt mit beiden Armen zuckende Krämpfe und träumt
Der Junge, noch Glassplitter im Nacken,
bietet Zündhölzer feil und träumt.
Sie träumen
dass dank jener Kraft aus der unendlichen Spaltung
des silberweißen Elements, gewonnen aus Pechblende und Carnotit
dürstende Wüsten sich in fruchtbare Äcker verwandeln
Kanäle durch zerbrochenes Felsenmassiv glitzernd sich ziehn
und unter künstlichen Sonnen sogar in der Nähe des Nordpols
auf unfruchtbarem Grund goldglänzende Städte entstehen
Sie träumen
von festlich flatternden Wimpeln im Schatten der Bäume und
weiche Lippen die Legende von Hiroshima erzählen.
Dass die Ungeheuer in menschlicher Haut
die jene Kraft, durch die Magma versprüht und der Erde
Kruste erbebt
zu nichts anderem als zum Morden benutzten
nur noch in Bilderbüchern zu finden sein werden
dass die Energie des Atoms, zehnmillionenmal stärker als Sprengstoff
in die Hände der Völker gelange
und sie in Frieden
der Wissenschaft reiche Frucht
wie von Tau benetzte
üppige Trauben
für sich ernten
von dem Morgen
träumen sie

Sankichi Toge (19. Februar 1917–10. März 1953) erlebte den Abwurf nur wenige Kilometer vom Zentrum entfernt. Er war Mitglied der japanischen KP, er starb an den Folgen der Strahlung. Toge zählt zu den Begründern der sogenannten „Atombombenliteratur“.



Sadako Kurihara
Sag ich: „Hiroshima“


Sag ich: „Hiroshima“
wird mir dann mitfühlend entgegnet:
„Ja, Hiroshima“?
Hiroshima – das ist auch
Pearl Harbor
Hiroshima – das ist auch
das Massaker von Nanking
Hiroshima – das ist auch
der Feuertod von Manila wo Frauen und Kinder in Gräben
getrieben, mit Benzin übergossen und verbrannt wurden
bei lebendigem Leibe
Sag ich: „Hiroshima“, hör ich ein Echo von Flammen und Blut
Sag ich: „Hiroshima“
klingt es gar nicht mitfühlend zurück:
„Ja, Hiroshima!“
Die hilflosen Völker und die Toten in Asien brechen aus in
einen Schrei der Empörung über alles, was ihnen geschah
Damit mir sanft zur Antwort wird:
„Ja, Hiroshima!“
wenn ich sage: „Hiroshima“, müssen endlich die Waffen fort
die lang schon fort sein sollten
müssen die Stützpunkte auf fremder Erde verschwinden
Bis zu diesem Tag bleibt Hiroshima
eine Stadt bitteren Misstrauens und Grauens bleiben wir
von den verborgenen Strahlen gebrandmarkte Paria

Die Schriftstellerin, geboren 1913 in Hiroshima, erlebte den Atombombenabwurf in der Stadt selbst. Landesweit fand sie als Lyrikerin große Anerkennung, sie starb im März 2005.



Taro Yamamoto
Die Flieger lachten

Flug der Enola Gay mit der Atombombe an Bord
Die Flieger lachten fröhlich,
als ginge es zum Picknick.
Sie tirilierten wie Lerchen
hoch oben in der Bläue des Himmels.
Was haben wir vor?
Was wird geschehen?
Sie wussten es nicht und witzelten nur.
In vielen tausend Fuß Höhe
drückt der Finger, ohne zu zittern, den Knopf.
Präzis, wie auf der Karte verzeichnet,
senkt sich die Botschaft des Todes zur Erde.
Nach ihrer Rückkehr werden die Flieger hoch dekoriert,
und sie schmunzeln dabei.
Die Atombombe aber war in dem Augenblick nicht nur auf
Hiroshima, sondern, das steht außer Frage, auch auf Amerika
gefallen, hatte inmitten der Straßenschluchten frontal den
Humanismus getroffen und das reine Gewissen zertrümmert.
Die Flieger lachten.
Oben in einigen tausend Fuß Höhe
erreichte der Todesschrei von Hunderttausenden sie nicht.
Doch mit offenem Mund hatten sie auf den Atompilz gestarrt.

Taro Yamamoto, geboren am 24. November 1974, ist ein bekannter japanischer Künstler und politischer Aktivist. Er engagiert sich im Kampf gegen Atombomben und nutzt seine Popularität, das japanische Kaiserhaus mit seiner Verstrickung und seiner Verantwortung zu konfrontieren.

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"Wir wollen Zeugnis ablegen", UZ vom 7. August 2020



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