Erinnerungen an den heldenhaften Kampf des vietnamesischen Volkes

Wir waren Zeugen der Verbrechen

Von Irene und Gerhard Feldbauer

Es ist jetzt 50 Jahre her, dass wir in Hanoi unseren ersten Einsatz als Auslandskorrespondenten für die Nachrichtenagentur ADN und die Zeitung „Neues Deutschland“ begannen. Warum ergreifen wir jetzt das Wort? Die internationale Lage ist derzeit gekennzeichnet von einer wachsenden Kriegsbereitschaft der USA und ihrer Verbündeten in der Nato, parallel dazu der von Deutschland angeführten EU, zur Durchsetzung ihrer weltweiten Vorherrschaft. Irak, Afghanistan, Syrien, Libyen stehen als einige Beispiele. Wir waren Zeitzeugen barbarischer Verbrechen des Imperialismus der USA und seines Hauptverbündeten aus der Bundesrepublik, aber auch des Scheiterns ihrer Pläne, das vietnamesische Volk ihren Weltherrschaftsplänen zu unterwerfen. Daran wollen wir erinnern.

Dabei vergessen wir nicht den gegenwärtig vorherrschenden Eindruck, dass die weltweiten neokolonialen Eroberungsfeldzüge des Imperialismus, bei denen sich neben den USA die Bundesrepublik hervortut, kaum zu stoppen wären. Das wird nicht so bleiben, auch diese Lehre vermittelt uns Vietnam: Bei unterschiedlichen und meist für die dem Imperialismus Widerstand leistenden Völker derzeit ungünstigen Kräfteverhältnissen sollte die Warnung nicht vergessen werden, welche die Vietnamesen während ihres Kampfes in unerschütterlicher Überzeugung verkündeten: Dass die Aggressoren scheitern werden: am Widerstandswillen, am unbändigen Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang des Volkes.

Wir trafen am 31. Juli 1967 abends mit einer IL-14 der China Airline in der Hauptstadt Nordvietnams, das damals Demokratische Republik Vietnam hieß, ein. Am nächsten Morgen erlebten wir gegen sechs Uhr den ersten Angriff US-amerikanischer Jagdbomber auf Hanoi. Von nun an wurden wir unzählige Male Augenzeugen barbarischer Luftangriffe, der Zerstörung von Wohnvierteln, Krankenhäusern, Schulen und Betrieben, Kirchen und Pagoden, Straßen und Brücken, Bewässerungsanlagen der Reisfelder. Wir sahen blutbefleckte Kleider, zerfetzte Schulbücher, Krankenbetten, die aus Trümmern ragten, verstümmelte Menschen, Arme, Beine abgerissen, die vielen, vielen Toten, Opfer in der Zivilbevölkerung, vor allem immer wieder Frauen, Kinder, alte Menschen. Am 19. November waren wir im größten Krankenhaus Hanois, dem Bach Mai, als es von mehreren Bomben, darunter den berüchtigten Kugelbomben, getroffen und ein Patient getötet, 20 weitere verletzt wurden. Bei unseren Fahrten ins Land sahen wir verbrannte Erde, die Mehrzahl der Städte und Dörfer in Schutt und Asche gelegt, und immer wieder das Leid, das man kaum beschreiben konnte.

Der Luftterror gegen die Zivilbevölkerung entlarvte Tag für Tag die heuchlerischen Behauptungen aus Washington, es würden nur militärische Objekte angegriffen. In klassischer Kolonialherrenmanier hatte US-General Curtis LeMay, der damalige Oberkommandierende des Strategic Air Command, unverhüllt gedroht: „Zieht eure Hörner ein, oder wir bomben euch in die Steinzeit zurück.“ Was hieß: Unterwerft euch unserer Herrschaft, macht Schluss mit dem Sozialismus, keinerlei Unterstützung dem Viet Cong[1] im Süden. LeMay hatte schon während der Kubakrise 1962 von Präsident J.  F. Kennedy gefordert: „Greifen wir an, zerstören wir Kuba vollständig“. Nach Erreichen des atomaren Patt durch die UdSSR hatte er noch bis Ende der 50er Jahre einen massiven atomaren Erstschlag gegen Moskau gefordert.

Feuertaufe am Roten Fluss

Mitte August befanden wir uns mittags vor der Long-Bien-Brücke am Roten Fluss, als F-105 „Thunderchief“ angriffen. Der „Donnergott“ konnte neben seiner Kanonen- und Raketenbewaffnung auch eine Bombenlast von 6 000 kg tragen. Er war der damals modernste Jagdbomber der US-Air Force. Die „Thunderchief“ griffen etwa eine halbe Stunde lang in sieben Wellen die Long-Bien-Brücke an. Den Angreifern schlug ein starkes Abwehrfeuer der 57- und 100-mm-Flak entgegen. Beim Besuch einer Batterie lernten wir später diese wirksamen sowjetischen Waffen näher kennen. Radargesteuerte Leitsysteme lenkten die Geschütze und steuerten ihre Granaten mit hoher Treffsicherheit ins Ziel.

Die aus einigen tausend Meter Höhe fallenden Bomben hatten zunächst etwa Streichholzgröße, aber in Sekundenschnelle wuchsen sie zu ihrem vollen Ausmaß an und explodierten. Ich erinnere mich noch heute, wie Furcht mich ergriff und der Gedanke, nur weg von hier. Wir standen bei vier oder fünf Vietnamesen. Als wir aus unserem „Moskwitsch“ sprangen, um Deckung zu suchen, hatten sie uns zu sich gerufen. Für sie war das Kriegsalltag und sie strahlten eine Ruhe aus, die uns, wie auch später noch oft, half, mit solchen Situationen fertig zu werden. Wir standen hinter einem etwa eineinhalb Meter hohen Schutzwall gegen Bombensplitter. Irene stand bei einigen Frauen, sie hatte ein kleines Mädchen auf den Arm genommen. Ein älterer Vietnamese legte kameradschaftlich seinen Arm auf meine Schulter, sein Lächeln schien zu sagen, keine Angst, wir halten durch. Die Long Bien wurde an diesem Tag nicht getroffen. Das Sperrfeuer der Luftabwehr hatte das verhindert.

Mit Fotoreporter Hubert Link von ADN-Zentralbild, der im Frühjahr 1968 für einige Wochen nach Vietnam kam, erlebten wir bei Vinh am Lam-Fluss in der Nacht einen furchtbaren Angriff auf einen Flussübergang. Wir konnten noch umkehren. Hinter uns sahen wir ein riesiges Flammenmeer und wussten, dort starben viele Menschen. Am Tag darauf erlebten wir in einem Dorf, in dessen Nähe wir keinerlei militärische Objekte gesehen hatten, erneut einen Angriff. Die Maschinen flogen so tief, dass wir die Köpfe der Piloten in den Kanzeln sahen. Wir hatten nur eins im Sinn, das Verbrechen mit unseren Kameras festzuhalten. Aber unsere vietnamesischen Begleiter wurden wie so oft unsere Lebensretter. Sie zerrten uns förmlich mit Gewalt auf unseren Jeep und wir rasten davon, das Dorf im Bombenhagel hinter uns zurücklassend.

Begegnungen mit Ho Chi Minh

Wir hatten das große Glück, mehrmals Ho Chi Minh zu begegnen. Wenn er mit uns sprach, uns die Hand drückte, uns freundschaftlich umarmte, sich nach unserem Befinden erkundigte, spürten wir in einer unvergesslichen Weise die kaum wiederzugebende Ausstrahlung dieser faszinierenden Persönlichkeit, an der nichts von Personenkult zu bemerken war. Auf einer Festveranstaltung rief er Irene, die vor der Tribüne fotografierte, zu sich, erkundigte sich, wie es ihr gehe, wie ihr Hanoi gefalle, wie sie die schweren Bedingungen des Krieges ertrage, ob sie etwas Vietnamesisch verstehe und fragte vieles mehr. Er erzählte, dass er in der DDR war und etwas Deutsch spricht.

Seine sprichwörtliche Bescheidenheit, seine Anspruchslosigkeit, die seine Gegner gern als gekünstelt, als einstudiert, als politisches Kalkül darstellten, entsprachen seiner Verbundenheit mit den Menschen aus dem Volk. Er wollte nicht besser leben als sie, es hätte ihn unglücklich gemacht, soll er einmal gesagt haben. Schon damit hat er ein wunderbares Vermächtnis hinterlassen. Sein Testament ist durchdrungen von der Liebe zu seinem Volk und der unerschütterlichen Gewissheit, dass es bis zum Sieg kämpfen werde.

Man möchte fast sagen, dass seine herausragende Führerpersönlichkeit erst nach seinem Tod sichtbar wurde. Denn als er während des erbitterten Befreiungskrieges im September 1969 starb, hinterließ er nicht, worauf seine Feinde spekuliert hatten, ein Vakuum, sondern eine kampfgestählte Partei mit einem starken Führungskollektiv und ein von seinem Unabhängigkeitswillen beseeltes Volk, die sein Werk fortsetzten.

MiG-Jäger über Ham Rong

Die militärische Unterstützung der UdSSR war die entscheidende Grundlage dafür, dass die DRV in der vierjährigen Luftschlacht gegen die US Air Force siegte. Als die USA am 1. November 1968 die bedingungslose Einstellung der Luftangriffe erklären mussten, hatte ihre Luftabwehr 3 243 USA-Flugzeuge abgeschossen, darunter eine Anzahl Hubschrauber. Die UdSSR bildete auch einen Großteil des vietnamesischen Militärpersonals bei sich im Lande, aber auch durch Spezialisten vor Ort aus. Nie haben sich Truppen der UdSSR oder anderer sozialistischer Staaten in Nordvietnam befunden. Vorschläge, darunter aus der DDR, Freiwillige nach dem Vorbild der Internationalen Brigaden in Spanien nach Vietnam zu entsenden, wurden aus Hanoi immer abschlägig beschieden. Man wollte den USA keinen Vorwand zur Rechtfertigung ihrer eigenen massiven Truppenpräsenz im Süden liefern.

Nach Berichten des US-Journals „The Reporter“ vom 12. Januar 1966 hatte Moskau zu dieser Zeit Nordvietnam bereits 7 000 Flugzeugabwehrgeschütze geliefert und für etwa 130 Abschussbasen SAM-Fla-Raketen. Die Zeitung schrieb, es seien „schon einige der sowjetischen Militärs in Nordvietnam verwundet oder sogar getötet worden“. Von der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS wussten wir, dass etwa 3 000 Vietnamesen militärisch in der Sowjetunion ausgebildet wurden, darunter zahlreiche Luftwaffenkadetten, die lernten, Abfangjäger MiG 21 zu fliegen. Vom ungarischen Militärattaché erfuhren wir, dass die DRV Anfang 1967 über 180 bis 200 MiGs verfügte und sich darunter die damals modernsten Typen befanden.

Die in den Luftstreitkräften des Warschauer Vertrages und anderer Verbündeter Staaten eingesetzte MIG 21 war damals das modernste sowjetische Jagdflugzeug, das sich in Vietnam den vergleichbaren US-Maschinen überlegen zeigte. Mit ihr fügten die nordvietnamesischen Piloten der US-Air Force im Luftkampf über der Ham-Rong-Brücke – nach der Long-Bien-Brücke von Hanoi der wichtigste Straßen- und Eisenbahn-Knotenpunkt nach Süden – am 3. April 1965 eine schwere Niederlage zu. Sie schossen 12 US-Flugzeuge ab, darunter mehrere F-105, die damals modernsten US-Jagdbomber. AP schrieb: „Es ist zur ersten Feindberührung mit der nordvietnamesischen Luftwaffe gekommen, bei der die Amerikaner eine Schlappe erlitten.“

McCain wasserte im Truc-Bach-See

Ende Oktober 1967 berichtete die Parteizeitung „Nhan Dan“ mit Fotos und Personenangaben über 15 in den vorangegangenen Tagen abgeschossene US-Piloten. Unter ihnen war der Marineflieger Major John Sydney McCain, Enkel des gleichnamigen Befehlshabers der US-Flugzeugträger im Pazifik während des Zweiten Weltkrieges und Sohn des Befehlshabers der US-Flotte in Europa. Er war am 26. Oktober mit seiner F 4 „Phantom“ über Hanoi abgeschossen worden. McCain stürzte in den Truc-Bach-See, brach sich Arme und Beine und wäre ertrunken, wenn der Leutnant der Volksarmee Mai Van On ihn nicht aus dem Wasser gezogen hätte. Eine Krankenschwester leistete erste Hilfe.

Nach seiner Entlassung 1973 besuchte McCain mehrmals Hanoi, ohne nach seinem Lebensretter zu fragen. Erst 1996, er war inzwischen Senator von Arizona, traf er sich mit Van On und überreichte ihm eine „Erinnerungsmedaille“ des US-Kongresses. 2000 kandidierte McCain für die Republikaner um die Präsidentschaft, 2008 ein zweites Mal. Die humane Rettungstat eines vietnamesischen Offiziers passte nicht ins Konzept seiner Wahlkampfreden und so behauptete er, die Nordvietnamesen hätten ihn misshandelt.

Washington erklärte, die Verluste seien gering. 15 innerhalb weniger Tage abgeschossene Flieger widerlegten das schon zur Genüge. Hinzu kam, dass die Piloten sich nicht immer an die ausgegebenen Parolen hielten. Der über Nordvietnam davongekommene Spitzenflieger Oberst Robin Olds erklärte, die Luftabwehr Nordvietnams habe sich „enorm verstärkt, sowohl durch Flakfeuer als auch MiGs und Boden-Luft-Raketen.“ Zu Letzteren gestand er ein: „Es sind furchterregende Raketen, wenn sie es wissen wollen.“ Oberst Robinson Risner, ein Flieger-Ass aus dem Koreakrieg, der am 16. September 1965 abgeschossene wurde gab an, dass die Nordvietnamesen bei einem Angriff seines Geschwaders von 18 „Thunderchief“ fünf abgeschossen hatten. Der britische Konsul sagte mir einmal, das seien, verglichen mit den Abschussziffern, welche die Royal Air Force in der Luftschlacht über England gegen Görings Flieger erzielte, Ergebnisse, die sich sehen lassen könnten.

Der Schwur von Nhan Trach

1975 siegte Vietnam über die Militärmacht der USA, die stärkste der westlichen Welt. Die große Hilfe des damals existierenden sozialistischen Lagers, darunter modernste konventionelle Waffen aus der UdSSR, die weltweite Solidarität der Völker und ihrer Friedenskräfte, eingeschlossen die in den USA, waren entscheidende Grundlagen dieses Sieges. Aber ausschlaggebend, dass diese Faktoren zur Geltung kommen konnten, war letztendlich der nicht zu brechende Widerstandswille des Volkes, den zu mobilisieren eine kommunistische Partei verstand, die der legendäre Führer Ho Chi Minh gegründet hatte. Die Antwort auf die uns immer bewegende Frage, woher das Volk Vietnams die Kraft nahm, diesen ungeheure Opfer auch an menschlichem Leben fordernden Kampf durchzustehen, erhielten wir bei den Begegnungen mit seinen Menschen. Ihre Erinnerungen an das ein Jahrhundert währende Kolonialjoch, das die USA wie vorher Frankreich wieder errichten wollten, waren so furchtbar, dass sie diese kaum vorstellbare Kraft zum Widerstand hervorbrachten.

Im Kohletagebau von Hong Gai erzählten uns ältere Arbeiter, wie sie ausgebeutet wurden; Es gab keinen freien Sonntag, keinen bezahlten Urlaub, keine gesundheitliche Betreuung, keine Sozialversicherung, keine Arbeitslosenunterstützung. Für die geringsten „Vergehen“ setzte es Prügelstrafen, Geldbußen und Gefängnis. Die französischen Unternehmer unterhielten in Hong Gai wie auch auf den Kautschukplantagen im Süden ihre eigene Polizei und eigene Gefängnisse. Die Grubenarbeiter mussten wie Strafgefangene auf der Arbeitskleidung Nummern tragen. Ihre elende Lage hatte der US-amerikanische Journalist H.  A. Frank in seinem 1926 in London erschienenen Buch „East of Siam“ beschrieben: „Es sind arme Sklaven, in armselige Lumpen gehüllt, und schwach ist die Hand, welche die Hacke schwingt. Die Sonne brennt erbarmungslos, die Arbeit ist kräftezehrend, doch sie bringt nur wenig ein. Es gab dort auch Frauen, und vor allem, hinter den Kohlekarren, kleine Kerlchen von kaum 10 Jahren; ihre von Erschöpfung gezeichneten, mit Kohlenstaub bedeckten Gesichter aber glichen denen von Vierzigjährigen. Ihre nackten Füße waren von einer harten Kruste bedeckt. Ohne Pause trotteten sie durch den Staub.“

Die verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise 1929 erfassten auch Vietnam. Das Jahreseinkommen der 220 000 Industrie- und Plantagenarbeiter und der über neun Millionen feudalabhängigen Bauern betrug nur sechs Prozent dessen, was französische Arbeiter erhielten. Eine furchtbare Hungersnot raffte über 100 000 Menschen dahin. In diesem unbeschreiblichen Elend wuchs der Hass gegen die Unterdrücker. Immer mehr Vietnamesen die sicher nicht Marx’ Worte kannten, dass sie nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten, kamen zu dieser Einsicht, die zur maßgeblichen Triebkraft des nationalen Befreiungskampfes wurde, an dem schließlich Millionen teilnahmen, erst gegen Frankreich, dann gegen die USA.

In den Provinzen Nghe An und Ha Tinh in Zentralvietnam lernten wir Teilnehmer an dem Bauernaufstand kennen, der im September 1930 gegen die Hungersnot ausbrach. Die gerade erst von Ho Chi Minh im Februar gegründete Kommunistische Partei, die nur 1 828 Mitglieder zählte, übernahm die Führung der spontanen Erhebung. Ein Großteil Kommunisten ging in die Aufstandsgebiete, wo mit Unterstützung der Arbeiter vietnamesische Sowjets entstanden, die Großgrundbesitzerland an die Bauern verteilten. 30 000 Kämpfer Roter Garden verteidigten die Sowjetgebiete über acht Monate gegen eine militärische Übermacht von über 100 000 Mann der Kolonialtruppen. An ihrer Spitze standen Militärkader, die, von Ho Chi Minh delegiert, ein Studium an der Militärakademie der Roten Armee in Moskau und an der Militärischen Lehranstalt Huang Pu bei Kanton, an der sowjetische Militärs Offiziere der Volksbefreiungsarmee als auch der Truppen Chiang Kai-sheks in der Periode der Einheitsfront ausbildeten, absolviert hatten.

Dem kolonialen Mordterror fielen Zehntausende zum Opfer, Dutzende Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht, Tausende Häuser niedergebrannt. Die meisten Mitglieder des Zentralkomitees der KPV fielen der Polizei in die Hände. Unter den Toten befand sich der Führer der Sowjetbewegung, das ZK-Mitglied Pho Nguyen Sac. Der erste Generalsekretär Tran Phu starb an den Folgen grausamer Folterungen. Ho Chi Minh, der nach China entkam, wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Die meisten Kommunisten besiegelten ihre Treue zur Revolution mit dem Tode.

Die revolutionäre Massenbewegung und die Sowjets 1930/31 bildeten, wie Ho Chi Minh einschätzte, das Vorspiel zur siegreichen Augustrevolution 1945. Hätten wir die Bauern 1930 im Stich gelassen, wären sie uns 1945 nicht gefolgt, so seine Wertung. In diesen Kämpfen entstand das unerschütterliche Vertrauen der Volksmassen in die kommunistische Partei als Führer des revolutionären Befreiungskampfes und der Verteidigung seiner Errungenschaften.

In Nhan Trach, einem Fischerdorf im Süden, zeigten die Einwohner uns ihr kleines Museum, das an die koloniale Vergangenheit erinnerte. Vor 1945 starben 261 Einwohner an Epidemien, 240 mussten als Arbeitslose das Dorf verlassen, 154 Mädchen mussten sich verkaufen, 76 Familien ihre Kinder verkaufen, 74 starben den Hungertod.

Im Widerstand gegen Frankreich von 1946 bis 1954 wurden 700 Einwohner gefoltert und deportiert, 422 fielen den Säuberungsaktionen der Kolonialtruppen zum Opfer, 54 wurden ermordet, 52 bei Folterungen verkrüppelt, 201 Häuser in Brand gesteckt, 72 Boote geraubt.

Ein alter Bauer schaute uns zu, als wir die Zahlen aufschrieben. Er war 76 Jahre alt, 61 davon hatte er unter dem Kolonialjoch gelebt. „Was Sie hier aufgeschrieben sehen, haben wir beseitigt. Wir haben uns ein menschenwürdiges Dasein geschaffen. Wir haben ein eigenes Dach über dem Kopf, die Boote gehören uns, ebenso der Boden und der Reis, den wir ernten, und die Fische, die wir fangen.“ In seiner Stimme klang Stolz auf das Erreichte: „Kein Kolonialherr und kein einheimischer Ausbeuter kann uns das mehr wegnehmen. Wir haben genug zu essen, unsere Kinder können zur Schule gehen und sogar studieren. Ich selbst habe im Alter noch lesen und schreiben gelernt. Wir sind freie Menschen, niemand kann uns mehr beschimpfen, treten oder gar einsperren. Das verteidigen wir gegen die Amerikaner, denn was wollen sie anderes in Vietnam, als ein neues Kolonialjoch zu errichten. Wir sehen es doch in Südvietnam, wie unsere Landsleute von ihnen gedemütigt, geknechtet und gemartert werden. Nein und nochmals nein! Lieber wollen wir in diesem Kampf sterben als in das Joch der Knechtschaft zurückkehren. Die Amerikaner sollen abziehen, sie sollen sich endlich nach Hause scheren und uns Vietnamesen in Ruhe und Frieden lassen.“

Die kleine Hütte hatte sich mit Menschen gefüllt und vor dem Eingang drängten sich weitere. Sie wiederholten seine letzten Worte wie einen Schwur: „Ja, sie sollen abziehen, sie sollen sich endlich nach Hause scheren und uns in Ruhe lassen.“[2]

Begegnungen des Internationalismus

In Hanoi trafen wir Madeleine Riffaud, von der unter anderem das packende Buch „Ecrit sous le Bombes“ (Geschrieben unter Bomben) stammte, das in der DDR unter „Unsichtbare Brücken“ erschien. Die leidenschaftliche und mutige Publizistin, die als Studentin der französischen Widerstandsbewegung angehörte, hatte 1965 als Kriegsberichterstatterin an zahlreichen Kämpfen der FNL in Südvietnam teilgenommen und darüber berichtet. Wir trafen die berühmten niederländischen Dokumentarfilmer Joris Ivens und seine Frau, deren Film „Der 17. Breitengrad“ 1967 weltweit die USA-Aggression anprangerte. Wir lernten Peter Weiss kennen, den schwedisch-deutschen Schriftsteller, der als Mitglied des Russell-Tribunals dazu beitrug, die barbarischen Verbrechen der USA in Vietnam zu enthüllen. Auf einem Empfang hatten wir ein rührendes Erlebnis mit Jassir Arafat. Als während der Vorstellung der anwesenden Diplomaten und Journalisten die Reihe an uns kam, erhoben wir unsere Gläser und sagten „Fi Sichatak“, „zum Wohl, auf deine Gesundheit“. Es waren die einzigen arabischen Wörter, die wir von gelegentlichen Besuchen in der ägyptischen Botschaft kannten. Arafat glaubte, wir sprächen Arabisch. Er umarmte uns herzlich und antwortete mit einem Wortschwall in seiner Landessprache. Wir mussten nun – in Französisch – Farbe bekennen, was jedoch der freundschaftlichen Begegnung keinen Abbruch tat, zumal wir ihm sagten, dass wir auf dem Flug nach Hanoi gerade in Kairo Station gemacht und im Nildelta die Trümmer einer abgeschossenen israelischen „Mirage“ besichtigt hatten. Der vietnamesische Protokollchef hatte Mühe, den Palästinenser-Präsidenten zum Weitergehen zu bewegen. Wir lernten einen Arafat kennen, der menschliche Wärme ausstrahlte, mit Leidenschaft und Überzeugung die Sache seines leidgeprüften Volkes vertrat.

Im März 1970 weilte Rolf Priemer als SDAJ-Vorsitzender auf Einladung des kommunistischen Jugendverbandes mit einer Delegation in der DRV. Die SDAJ hatte eine eigene Spende, einen Sanitätsbus, nach Hanoi geschickt. Mit der DKP war die SDAJ aktiv in der Protest- und Solidaritätsbewegung Westdeutschlands vertreten. Rolf Priemer arbeitete im Exekutivausschuss der „Initiative Internationale Vietnam-Solidarität“, welche die Aktivitäten koordinierte, mit. Deren Hilfe belief sich zu dieser Zeit bereits auf mehrere Millionen DM. Für den Bau eines Krankenhauses mit 250 Betten, der gerade beendet worden war, hatte die IIVS mit der Caritas zwei Millionen DM aufgebracht.

DDR und BRD auf entgegengesetzten Positionen

Während die DDR mit einer von Millionen ihrer Bürger getragenen Solidaritätsbewegung den Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes unterstützte, stand die BRD dagegen, wie auch in Kuba, Chile oder Südafrika, in Vietnam auf der Seite der Aggressoren. Das offizielle Bonn unterstützte bedingungslos politisch und wirtschaftlich, personell und moralisch, aber auch direkt, wenn oft auch verdeckt, militärisch den barbarischen USA-Krieg. Die IG-Farben-Nachfolger BASF und die Farbwerke Hoechst beteiligten sich an der Produktion und Lieferung von Giftgasen nach Saigon, 2 500 westdeutsche Techniker, darunter 120 Piloten, sammelten Kriegserfahrungen in Vietnam, Bundeswehroffiziere werteten sie in der Truppe aus.[3]

Vietnam heute

Im Oktober 1970 verließen wir Hanoi mit der Gewissheit, dass Vietnam siegen wird. 1975 war es so weit. 1976 beschlossen die DRV und die im Befreiungskampf gebildete Republik Südvietnam (RSV) auf dem Weg der Wahl einer Nationalversammlung die Wiedervereinigung und als Bekenntnis des gemeinsamen Weges zum Sozialismus die Staatsbezeichnung Sozialistische Republik Vietnam (SRV). Damit wurde der Konterrevolution im Süden die staatliche Basis entzogen, was eine entscheidende Grundlage dafür wurde, dass die KPV die Niederlage des Sozialismus in Europa 1989/90 überstand. Hoffnungen ihrer Gegner, die Partei werde den Weg osteuropäischer „kommunistischer und Arbeiterparteien“ gehen und den Pfad der Sozialdemokratie einschlagen, erwiesen sich als Trugschluss. Die Partei Ho Chi Minhs und seiner Nachfolger hat sich nicht gewendet. 2015, zum 40. Jahrestag des Sieges, zählte die KPV 3,6 Millionen Mitglieder. 60 Prozent davon sind Jugendliche. Unter ihrer unbestrittenen Führung beschreitet Vietnam weiter seinen sozialistischen Weg und steigt als einstiges Agrarland zu einer modernen Industrienation auf. Mit jährlichen Wachstumsraten von sechs bis acht Prozent ist die Wirtschaft Vietnams die stärkste im gesamten südostasiatischen Raum.

[1]    Viet Cong, übersetzt vietnamesische Kommunisten. Damit war die Nationale Befreiungsfront FNL in Südvietnam gemeint, deren Mitglieder mehrheitlich keine Kommunisten waren, sondern verschiedenen politischen Gruppierungen und Parteien angehörten.

[2]    Der Schwur von Nghan Trach. Beitrag des Autors in „Leipziger Volkszeitung“, 20. Juli, 1969.

[3]    Ausführlich zum Thema der Beitrag „Aus braunem Geist erschaffen“, jW Themen, 3. August 2017.

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"Wir waren Zeugen der Verbrechen", UZ vom 25. August 2017



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