Meine Vorfreude auf die X. Weltfestspiele verfing sich in einem Lied. Gerade noch Journalistikstudent in Leipzig, war ich für ein paar Tage nach Hause in die Hauptstadt gekommen. Da traf ich vor der Schönhauser Allee 27, wo ich geboren wurde und noch immer wohnte, zufällig auf den Liedermacher Reinhold Andert. Als Gründungsmitglieder des Oktoberklubs waren wir seit Jahren befreundet und ich wusste, dass Reinhold für den Zentralrat der FDJ etwas tat, was der Dichter KuBa bereits in Vorbereitung der III. Weltfestspiele 1951 in Berlin übernommen hatte: Er leitete eine Arbeitsgruppe zur Herstellung neuer Festivallieder. Wir verabredeten uns auf ein paar Gläser Schnaps bei mir auf der zweiten Etage – und weil Reinhold meinte, Wodkatrinken ohne Liedermachen wäre reine Sauferei, schrieben wir nach einer fertigen Melodie von Wolfram Heicking den Text zum Lied „Wir sind überall“. Vielleicht wurde es deshalb zum meisterinnerten Song der X. Weltfestspiele, weil es ein so hoffnungsvolles und stolzes Gefühl beschrieb, das dann das Festival und alle Erinnerungen daran begleitete: Wir wollen Frieden, Freundschaft und antiimperialistische Solidarität. Man zeige uns einen bewohnten Platz auf der Erde, wo sich nicht Menschen unseres Schlages finden lassen. Wir sind überall – und wir werden mehr. Damals drehte sich das internationale Geschehen trotz mancher Rückschläge merklich nach links. Auf das Festival freuten wir uns.
Ein Vorschlag aus Valparaiso
1971 war auf einer Exekutivtagung des WBDJ in Valparaiso beschlossen worden, dem Internationalen Vorbereitungskomitee (IVK) für die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten die DDR-Hauptstadt Berlin als Austragungsort vorzuschlagen. Diesem Ruf aus dem neuen, von Salvador Allendes Unidad Popular regierten Chile war das IVK gefolgt – eine große Ehre für die FDJ, die zum zweiten Mal in der Festivalgeschichte Gastgeber für das bedeutsamste antiimperialistische Treffen der Weltjugend sein sollte. Nach Prag (1947), Budapest (1949), Berlin (1951), Bukarest (1953), Warschau (1955), Moskau (1957), Wien (1959), Helsinki (1962) und Sofia (1968) fiel die erneute Wahl unserer Hauptstadt in eine Zeit beachtlicher Aufbauerfolge der DDR, deren internationale Anerkennung nach Jahrzehnten westdeutscher Hallstein-Anmaßungen endlich Realität wurde. Sie war eine Geste der Solidarität mit dem sozialistischen deutschen Staat und bot einer breiter gewordenen Festivalbewegung ein attraktives Podium.
Die Jugend klagt den Imperialismus an
Vor 50 Jahren, am 28. Juli 1973, wurden die X. Weltfestspiele von WBDJ-Präsident Roberto Viezzi im Stadion der Weltjugend eröffnet. Unter der Losung „Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft“ hatten sich über 25.500 Delegierte aus 140 Ländern als Vertreter von mehr als 1.700 nationalen sowie 18 internationalen Jugend- und Studentenorganisationen versammelt. An den neun Festivaltagen trafen sie auf eine halbe Million Jugendlicher aus dem Gastgeberland. Mit dieser Dimension waren die X. Weltfestspiele die bis dahin größte und umfassendste antiimperialistische Demonstration der jungen Generation weltweit. Als Präsident des Nationalen Festivalkomitees wünschte Erich Honecker den Teilnehmern einen erfolgreichen Kampf für ihre „Gegenwartsinteressen und Zukunftsideale“. Olympiasieger Wolfgang Nordwig entzündete das Feuer aus den neun bisherigen Festivalstädten in der Flammenschale. Umjubelt marschierten weit vorn die Abgesandten des siegreichen Vietnam ins Stadion, ohne anderen, manchmal illegal angereisten Kämpfern die Beachtung zu nehmen. Die Solidarität war unteilbar. Sie hatte auf dem Festival unvergessliche Gesichter: Die kleine Vo Thi Lien, die im südvietnamesischen Son My die Mordattacke der US-Invasoren überlebte. Angela Davis, die freigekämpfte schwarze Bürgerrechtskämpferin aus den USA, an ihrer Seite. Jassir Arafat, der die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO führte, als Ehrengast. Die Interpreten der chilenischen Gruppe „Inti Illimani“, die so eindrucksvoll Triumph und Gefährdung der Unidad Popular besangen.
Bedeutender Teil des Festivalprogramms war das Tribunal „Die Jugend und Studenten klagen den Imperialismus an“. Was Jugendliche aus aller Welt vortrugen, war sehr konkret. Lehren der Geschichte wurden durch aktuelle Erfahrungen fundiert: Wie der Imperialismus Rüstung und Kriegsvorbereitung als profitables Geschäft betreibt; wie er den psychologischen Krieg gegen die Welt des Sozialismus und gegen alle befreiten und sich befreienden Völker führt; wie er Faschismus fördert und faschistische Diktaturen errichtet, wenn er sein Profitsystem anders nicht mehr aufrechterhalten kann; wie er die junge Generation in ein System der Ausbeutung und der sozialen Diskriminierung presst, dabei selbst Kinderarbeit und Kinderelend in Kauf nimmt; wie er Länder in kolonialistischer und neokolonialistischer Abhängigkeit hält, um sich deren Reichtümer billig anzueignen; wie er Rassendiskriminierung betreibt und vor allem für die Kinder ärmerer Schichten unüberwindliche Bildungsbarrieren errichtet. Eine alarmierende Bilanz war zusammengetragen, die am Ende des Tribunals im Friedrichstadt-Palast präsentiert wurde. Liest man das heute, erschrickt man über die brennende Aktualität der Anklagen. Damals schallende politische und soziale Ohrfeigen, waren sie nach dem Niedergang des sozialistischen Staatensystems in Europa, das unleugbare Alternativen aufgezeigt hatte, als linksideologische Narretei abgetan worden. In den heutigen Werteauseinandersetzungen gewinnen sie wieder an Argumentationskraft.
Fest der Kultur und Lebensfreude
Zum Zorn, der in neue Kämpfe münden würde, gesellte sich riesiger Spaß. Die Buntheit des Festivals – es gab über 1.500 politische, kulturelle und sportliche Veranstaltungen, die von 7,3 Millionen Menschen besucht wurden – erschöpfte sich nicht in organisierten Events. Die Straßen und Plätze, die Innenhöfe und Parks kannten keine Sperrstunde, sondern waren jederzeit voll jungen Volks, das debattierte, tanzte, sang. Allein das PLX (gesprochen: pe-el-iks) als Weltfestspielausgabe des ansonsten im Februar veranstalteten Festivals des politischen Liedes gestalteten über 100 Gruppen und Solisten aus 45 Ländern aller Kontinente. Die berühmte Miriam Makeba begeisterte zu mitternächtlicher Stunde eine unübersehbare Menge auf dem Alexanderplatz. Am Bebelplatz erlebten Tausende die Aufführung von Beethovens IX. Sinfonie durch das FDJ-Sinfonieorchester der Hochschulen für Musik. Es gab Ausstellungen, Solibasare und immer wieder spontane Diskussionsgruppen überall in der Stadt. Selbst Vertreter der Jungen Union waren aus Westberlin herübergekommen. Als FDJler 1951 die Festivalidee in die Berliner Westsektoren tragen wollten, waren sie von der dortigen Polizei niedergeknüppelt worden. 1973 wurden die Nachwuchs-CDUler auf dem Alexanderplatz angehört und nur manchmal, wenn sie allzu sehr stänkerten, auch ausgelacht, bevor sie sich bei Moskauer Eis wieder abkühlten. Auch ein Ausdruck von Weltoffenheit.
Erinnern und Kräfte sammeln!
Als Angela Davis zum Abschluss des Festivals am 5. August in deutscher Sprache einen „Ruf an die Jugend der Welt“ vortrug, enthielt der bei allem Optimismus auch eine verhaltene Warnung: „Aber wir kennen den Imperialismus. Deshalb werden wir unsere Aktionen und unseren Kampf verstärken.“ Hieß auch: Das Erreichte musste gesichert werden. Ich erlebte noch die nachfolgenden Weltfestspiele in Havanna, Moskau und Pjöngjang, die den Schwur erneuerten: Das Erreichte muss gesichert werden. Das haben wir in Europa nicht geschafft. Nach-Denken über die Gründe unserer Niederlage und Vor-Denken für Wege in eine gerechtere Zukunft begleiten unsere Kämpfe. Auch das ermutigende „Wir sind überall!“ bleibt vital. Denn überall, wo wir sind, gilt es Kraft zu sammeln und die wachsende Wut über gesellschaftliche Malaisen wie guten Wind auf die Mühlen progressiver Veränderung zu leiten. Erinnern – Kraft tanken – kämpfen. Das bleibt eine gute Troika!