Rede der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano am 3. Mai 2021 in Hamburg

Wir sind da! Meine Befreiung im Mai 1945 und meine Hoffnungen.

Wir haben die Lande gemessen, die Naturkräfte gewogen, die Mittel der Industrie berechnet, und siehe, wir haben herausgefunden, dass diese Erde groß genug ist;

dass sie jedem hinlänglichen Raum bietet, die Hütte seines Glücks darauf zu bauen;

dass diese Erde uns alle anständig ernähren kann, wenn wir alle arbeiten und nicht einer auf Kosten des anderen leben will;

und dass wir nicht nötig haben, die größere und ärmere Klasse an den Himmel zu verweisen. Die […] Zeit ist gekommen, wo die Völker nicht mehr nach Köpfen gezählt werden, sondern nach Herzen. (Heinrich Heine, aus: Die romantische Schule, 1833/1836)

Liebe Freundinnen und Freunde da draußen – in Berlin, in Dortmund, in Essen, in Frankfurt und Hamburg und an vielen anderen Orten, ich grüße euch!

Heinrich Heine liebe ich für diese wunderbaren Zeilen! Lesen wollte ich die unter dem Heine-Denkmal hier in Hamburg. Eine Baustelle verhindert das – wir sind nun zu Lessing gegangen, dem großen Aufklärer und Verfasser von „Nathan, der Weise“.

Heute vor 76 Jahren bin ich in dem kleinen mecklenburgischen Städtchen Lübz befreit worden, befreit von den amerikanischen und den sowjetischen Truppen. Ihr kennt meine Geschichte: Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt, alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen – und ich habe dazu Akkordeon gespielt. Mein größter Wunsch für den heutigen Tag war, noch einmal zu erleben, wie Amerikaner und Russen sich wie damals in Lübz umarmen und küssen und gemeinsam das Ende des Krieges feiern! Den FRIEDEN feiern! Jetzt muss ich bis zum nächsten Jahr darauf warten. Aber wir feiern diesen Tag trotzdem. Und ihr alle feiert mit uns!

Und an euch, liebe Freundinnen und Freunde in Berlin, ich freue mich, dass ihr heute am Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus auf das nicht eingelöste Versprechen der Entnazifizierung hinweist. Es gab NIE eine STUNDE NULL! Alte Nazis bauten die Polizeibehörden, das Militär und viele Behörden in der Bundesrepublik auf. Diese Kontinuitäten und der aggressive Antikommunismus sind auch Ursachen für die heute fast täglich bekannt werdenden rassistischen und antisemitischen Vorfälle in den Sicherheitsbehörden. Es ist beschämend, dass heute noch neofaschistische Netzwerke in diesen Strukturen existieren können. Um diesen Bruch mit den NS-Kontinuitäten auszudrücken, brauchen wir endlich einen Feiertag am 8. Mai! Corona – im zweiten Pandemiejahr – fordert uns alle heraus: Der Beifall für die Pflegenden und die Dankeslieder von den Balkonen sind verklungen. Die in Pflegeberufen Arbeitenden warnen schon seit vielen Jahren: „Gesundheit ist keine Ware“. Die Kommerzialisierung von Pflege, Gesundheit und Krankheit zeigt in dieser Krise überdeutlich ihre Schwächen. Danke an alle, die helfen, wo immer es ihnen möglich ist, selbstlos und solidarisch. Orte wie Moria aber dürfen wir trotzdem nicht vergessen. Könnten wir uns je verzeihen, wenn wir diesem Elend auf den griechischen Inseln gleichgültig zuschauen?

Aber da gibt auch noch die anderen: die Coronaleugner, die Verschwörungsphantasten. Über die werde ich hier heute nicht sprechen.

Wo stehen wir – dieses Land, wo steht diese Gesellschaft heute – 76 Jahre nach der Befreiung? Im Januar 2020 hab ich mit dem Auschwitz-Komitee einen offenen Brief an die Regierenden geschrieben mit sechs Forderungen.

Die 5. Forderung lautet:

Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden.

Ich bin ja inzwischen fast ein Jahrhundertmensch. Als ich zehn Jahre alt war, haben Bertolt Brecht und Hanns Eisler im Exil geschrieben:

Vorwärts, und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht – beim Hungern und beim Essen – vorwärts und nicht vergessen: Die Solidarität!

Und wie Solidarität wirkt, konnten wir gerade erleben. Wir wussten es ja schon immer: Antifaschismus ist gemeinnützig. Nun haben das endlich auch die Finanzämter erkannt. Altmodisches Briefeschreiben hat gewirkt –ich hatte an den Finanzminister Olaf Scholz geschrieben. Erkämpft ist das durch viele, viele Menschen guten Willens – gemeinsam und solidarisch. Der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung, der VVN-BdA wurde ihre „Gemeinnützigkeit“ jetzt behördlich bestätigt. Und sie geht gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervor.

Und nun zu unserer 6. Forderung:

Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.

Das Echo darauf war gewaltig. Begeisterung und Kritik allenthalben. Dann initiierten #DIE VIELEN und die VVN–BdA Petitionen und übergaben viele tausend zustimmende Unterschriften an den Bundestag. Die Sammlung geht weiter!

Der 8. Mai ist in vielen Ländern Europas längst ein Feiertag. In Deutschland wird vom „Tag der Niederlage“ gesprochen, das sei kein Tag zum Feiern. Kritiker sollten aber einfach mal darüber nachdenken, wie wir heute leben würden, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten! Der 8. Mai ist ein Tag der Hoffnung, ein Tag des Nachdenkens! Und wir sollten das Grundgesetz feiern, das in seinem Verständnis von Freiheit, Demokratie und Menschenwürde ein klarer Gegenentwurf zur NS-Herrschaft ist, die am 8. Mai 1945 endete.

Der 8. Mai muss ein Feiertag werden. Arbeiten wir daran!

Baustellen überall: Nach dem anhaltenden Konflikt um die ehemalige Hamburger Gestapo-Zentrale Stadthaus soll auch ein neuer Erinnerungsort, der an die Deportationen von Juden und Jüdinnen,Roma und Sinti und anderen politisch Verfolgten gemeinsam erinnern soll, nun in ein Gebäude einziehen, in dem ein NS-belasteter Konzern seinen Sitz haben soll. Wir sagen NEIN und fordern die Auflösung der Verträge. Schon wieder droht ein Projekt in Private Public Partnership zu scheitern. Erinnerung ist nicht privatisierbar. Keine Hausgemeinschaft mit Firmen mit NS-Vergangenheit!

Wir wissen, wohin Rassismus, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, Antiziganismus führen. Wir dürfen nicht zulassen, dass Neurechte und Neonazis sich die Straßen nehmen und ihre Menschenverachtung in Parlamenten und Medien ausleben können. Nirgendwo. Wir fordern eindeutige Abgrenzungen zu rechten Brandstiftern. Die Anschläge in Halle, in Hanau, der Angriff vor einer Synagoge in Hamburg – schmerzen.

Wir müssen mehr erinnern, nicht weniger. Verschiedene Erfahrungen sichtbar machen. Das koloniale Erbe des Deutschen Reichs, die Thematisierung von Polizeigewalt durch die Black-Lives-Matter-Bewegung – in der postmigrantischen Gesellschaft fordern von Rassismus Betroffene nicht nur Sichtbarkeit in der Gegenwart, sondern auch für Vergangenes. Für unsere Arbeit ist das Internationalistische Selbstverständlichkeit – auch wenn unsere Kräfte oft dafür nicht ausreichen.

Ich appelliere an alle Menschen: bitte, bitte schweigt nicht, wenn ihr Unrecht seht.

Streitet für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus und Rassismus. Bleibt erschütterbar – und widersteht – wie der Hamburger Dichter Peter Rühmkorf schrieb.

Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig!

Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch!

Quelle: Auschwitz-Komitee

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