Vom Jubel des EU-Establishments über eine verlorene Wahl

Wir siegen uns zu Tode

Von Klaus Wagener

„Klatsche für Wilders“ (Stern), „Rutte-Partei stärkste Kraft – Wilders abgeschlagen“ (Handelsblatt), „Europa lebt“ (Die Zeit), der Jubel des neoliberalen Establishments über die Wahl in den Niederlanden ist überschwänglich. Da ist es auch egal, wie das Wahlergebnis tatsächlich aussieht. Geert Wilders‘ PVV hat mit einem Zugewinn von 2,9 Prozentpunkten nur darum „verloren“ und Mark Ruttes VVD mit einem Verlust von 5,5 Prozentpunkten nur darum „gewonnen“, weil zuvor eine, wie immer politisch zielorientierte Umfragengestaltung ein irreales Horrorszenario an die Wand gemalt hatte. So ließ sich nun die frohe Botschaft verkünden: Der rassistische Anti-Europäer hat die Wahl verloren, das (austeritäts- und markantilismusversessene) Pro-Europa hat gewonnen.

Für die große Pro-Europa-Erzählung muss selbst das Offensichtliche ausgeblendet werden. Die FAZ will ihre Leser gar glauben machen: „Der Rechtsruck in den Niederlanden bleibt aus.“ Und das angesichts der Tatsache, dass sich die Ausländerfeindlichkeit des niederländischen Regierungschefs von der seines rechtspopulistischen Herausforderers nur dadurch unterscheidet, dass Rutte („Holland First“) sie gegen den nicht minder reaktionären türkischen Staatschef, der dieses Spiel in seinem Machtinteresse genüsslich mitspielte, in konkrete Politik umsetzen konnte und sich somit gegen Wilders den Bonus des Machers sichern konnte. Die niederländischen Wähler, derartig in den rechten, demagogischen Panik-Schwitzkasten genommen, wählten, oh Wunder, rechte Parteien.

Das hindert die „Zeit“ natürlich nicht, das Rattenrennen um die ausländerfeindlichsten Standards hemdsärmlig zu einem Pro-Europa-Votum umzuinterpretieren: „So wie Mark Rutte in Richtung Türkei klar sagte: Es reicht!, so haben auch die Wähler der Niederlande gesagt: Es reicht. Geert Wilders hat mit seinem europafeindlichen Wahlkampf eine Grenze überschritten. Die Menschen folgen ihm auf diesem Weg nicht mehr.“

Den Gipfel der Realitätsverweigerung erreichte aber wieder einmal die SPD-Spitze. Sowohl Sigmar Gabriel als auch Martin Schulz zeigten sich erfreut und begrüßten das Wahlergebnis als „gutes Zeichen“ und Absage an die „Hetze von Geert Wilders“. Wir lernen: ausländerfeindliche Hetze von Geert Wilders ist böse, weil europafeindlich, ausländerfeindliche Hetze wie von Mark Rutte ist gut, weil proeuropäisch. Dass bei diesem Spiel mit der Angst die SPD-Schwesterpartei PvdA um satte 19,1 Prozentpunkte von 24,8 Prozent auf 5,7 Prozent geschrumpft wurde, scheint im Willy-Brandt-Haus niemanden zu beunruhigen. Offenbar kann der verzückte Glaube an den Messias aus Würselen hier die Berge des fortschreitenden politischen Bedeutungsverlustes versetzen.

Die niederländische Bourgeoisie hatte schon frühzeitig die von Margaret Thatcher und Ronald Reagan markierten neoliberalen Zeichen der Zeit erkannt. Schon 1982 setzte die damalige „christdemokratische“ Regierung Ruud Lubbers mit dem „Poldermodell“, einer Art konzertierten Aktion von Unternehmens- und Gewerkschaftsvertretern, dauerhafte, strukturelle Reallohnsenkungen bzw. -geringentwicklungen durch. Die Idee war die gleiche, wie sie auch die von Reagan und Thatcher war, und wie sie heute die Politik der Bundesrepublik und Europas dominiert: nationale „Standortvorteile“ durch Senkung der Lohn-, Sozial- und Steuerstandards maximieren. Die Niederlande sind bis heute ein führendes Steuervermeider-Paradies. Diese Idee ist von zahlreichen baltischen, keltischen, südostasiatischen u.ä. „Tigerstaaten“ mit einem gewissen „Erfolg“ kopiert worden.

Der Spaß für die kleinen, neoliberalen „Tiger“ hörte dann auf, als die „Global Player“ ins Spiel kamen. Gegen die Exportoffensive der Weltmeister Deutschland und China hatten auch kleine „Tiger“ keine Chance. Nach einer „Wiedervereinigungs“-Schamfrist hatte Deutschland den asozialen Vorsprung auch der Niederlande durch die Agenda-Politik schnell neutralisiert und überholt. Selbst solche Länder wie Spanien und Italien, sogar Frankreich gehen, im Zwangskorsett eines für fast alle EU-Staaten über-, für Deutschland dramatisch unterbewerteten Euro, vor der deutschen Exportwalze ökonomisch in die Knie.

Die deutsche Bourgeoisie versucht diese für sie hochprofitable Lage, die ihrer Regierung einen dominanten Einfluss in Europa verschafft, gegen alle menschlichen Leiden, Pleiten und Widerstände auf Biegen und Brechen zu stabilisieren. Da sich die europäische Sozialdemokratie mit dem Schröder/Blair-Papier weitgehend in das neoliberale Formierungsprogramm Europas selbst eingebunden hat, äußert sich der Protest dagegen nahezu ausschließlich in rechtspopulistischer, typisch kleinbürgerlicher Form. Es ist vom Charakter ein Protest der klein- und mittelständischen Teile der Bourgeoisie, die zu den unvermeidlichen Verlierern der ungehemmten finanzkapitalistischen Zurichtung des Globus und speziell Europas gehören, und der dadurch von der ganzen rückwärtsgewandten, reaktionären Borniertheit kleinbürgerlichen Protestes gegen die international agierende Finanzoligarchie durchzogen ist.

Diese Lage hat es den Systemmedien leicht gemacht, mit dem „Querfront“-Verdikt jeden Protest als braun-rechtspopulistisch zu kontaminieren und damit vor allem linken Widerstand als illegitim zu marginalisieren. Die  Nichtexistenz freiwilliger reformistischer Spielräume von oben hat auch die PvdA, wie die SPD, zu einer zweiten neoliberalen Power-Group gemacht und somit gleichzeitig überflüssig erscheinen lassen. Vielleicht wird man sich selbst in der autistischen SPD-Zentrale, nach der Restlaufzeit von „Mr. 100 Prozent“, an das PvdA-Menetekel erinnern dürfen.

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"Wir siegen uns zu Tode", UZ vom 24. März 2017



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