Vor fünfzig Jahren wurde Salvador Allende gewählt

Wir lernten

Andi Nopilas

Am 4. September jährt sich der Wahlsieg von Salvador Allende bei den chilenischen Präsidentschaftswahlen zum fünfzigsten Mal. Drei Jahre später, im September 1973, wurde der erstaunliche Versuch, den Sozialismus nicht nur auf der Basis, sondern vor allem mit den Regeln der zu überwindenden Gesellschaft aufzubauen, weggeputscht.

Wo auch immer irgendein Medium eine Bemerkung zu Präsident Allende macht, darf bei der ehrlichen Entrüstung über den Putsch und den erzwungenen Selbstmord des Sozialisten der Zusatz „der demokratisch gewählte“ nicht fehlen. Dass auch oft linksgerichtete Autoren so formulieren, ist durchaus tragisch. Ungewollt wird dadurch nämlich das Wegputschen entweder offenbar nicht demokratisch gewählter oder auf irgendeine andere Art als nach bürgerlichen Wahlen den Sozialismus anstrebender Präsidenten relativiert, wenn nicht legitimiert – gewollt ist dabei von manchen Kräften die Verurteilung revolutionärer Bewegungen, die aus dem guten Grund schlechter Erfahrungen an die Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft nicht glauben mögen. Wer ab 1980 beziehungsweise 1983 regelmäßig Jahrestagsartikel zu beiden Ereignissen gelesen hat, weiß, dass diese Strategie gern von linksliberalen Medien angewandt wird – und bedauert, dass linke Kräfte sie bis heute unbedacht aufgreifen.


Immerhin, wir lernten so oder so: Sozialismus per Wahlen anzustreben, ist legitim. Für Salvador Allende war es der vierte Versuch, die Präsidentschaft zu erringen. Und immer wurde er von den Kommunisten unterstützt, aufbauend auf einer Vereinbarung vom November 1951 seiner noch kleinen Sozialistischen Partei und der stärkeren, aber illegalen KP für die Präsidentschaftswahlen, bei denen er am 4. September 1952 mit nur 5,65 Prozent abgeschlagener Vierter für die „Front des Volkes“ wurde. Für das breitere Bündnis „Front der Volksaktion“ unterlag Allende dem Rechtsnationalisten Jorge Alessandri sechs Jahre später mit 28,9 Prozent gegenüber 31,6 Prozent – und hätten zwei weitere, linksbürgerliche Konkurrenten zu Gunsten Allendes auf ihre Kandidatur verzichtet, wäre der chilenische Versuch bereits 1958 gestartet. 1964, inzwischen mit dem Rückenwind der Kubanischen Revolution und der erfolgreichen Entkolonialisierungsbewegungen des afrikanischen Kontinents, unterlag Allende erneut als Zweiter (38,9 Prozent) gegen Eduardo Frei; viele hatten mit seinem Sieg gerechnet.
Für 1970 war die Kandidatur des dreimal Gescheiterten keine ausgemachte Sache; seitens vier der Bündnisparteien gab es eigene Kandidaturvorschläge, darunter die Pablo Nerudas für die KP Chiles. Aber ein weiteres Mal verständigte man sich auf Allende, und es war richtig. Allendes Sieg passte in die Zeit, in der auch die sozialistischen Staaten Europas, namentlich die DDR, im Aufwind waren, die Blockfreien in der internationalen Politik ihre Stimme erhoben, die Niederlage des französischen und des US-Imperialismus in Indochina greifbar war und die faschistischen Regimes in Spanien und Portugal zu bröckeln begannen.

Allende erreichte als Kandidat der linken Unidad Popular („Volkseinheit“ aus KP, Radikaler Partei, Sozialdemokratischer Partei, einiger kleinerer Gruppierungen und der SP Chiles, seiner Partei) 1970 mit 1,07 Millionen Stimmen eine einfache, relative Mehrheit bei 36,6 Prozent, knapp vor dem ehemaligen Staatspräsidenten Alessandri mit 1,03 Millionen Stimmen (35,3 Prozent). Radomiro Tomic von der Christdemokratischen Partei wurde mit 28,1 Prozent Dritter. Der „Compañero Presidente“ hatte nach seiner Wahl keine parlamentarische Mehrheit, konnte sich aber auf demokratische Gepflogenheiten verlassen. Chiles Wahlsystem sah nämlich keine Stichwahl durch das Volk, sondern eine parlamentarische vor. Die Christdemokraten hatten vorab erklärt, ihre Abgeordnetenstimmen dem Sieger der souveränen Entscheidung durch das Volk zu geben, was bis auf wenige Enthaltungen auch geschah: 153 von 195 Abgeordneten wählten Salvador Allende am 24. Oktober zum Staatspräsidenten. So wurde Allende mit relativer Mehrheit im Volk und absoluter Mehrheit bei den Volksvertretern zum Staatschef der Republik Chile.


Es war ein großer politischer Sieg der Linken. Angesichts der bis heute gehenden Diskussionen über den „demokratischen Weg zum Sozialismus“ (undialektisch-determinierend ist jener über Wahlen gemeint, als wenn seit Jahrhunderten überall auf der Welt stattfindende, nicht-elektorale Aufstände der Mehrheiten gegen mit Polizei und Militär bewaffnete Minderheiten nicht demokratisch wären) und sein tragisches Ende war er auch ein Sieg für das Lehrbuch der Klassenauseinandersetzungen im Weltmaßstab des Übergangs zum Sozialismus, wie er damals an der Tagesordnung war und nur als eine Frage der Zeit erschien.
Und es war ein Sieg für den Aufbruch der Linken, die kurz davor schien, bürgerliche Kräfte einbinden zu können, unterstützte in den ersten beiden Jahren doch auch die Christdemokratische Partei die Regierungsarbeit – gegen die mit den USA verbandelten Nationalisten und Rechten, aus deren Reihen noch vor dessen Vereidigung ein Mordanschlag auf Allende verübt wurde. Die USA unter Präsident Nixon hatten schon zuvor danach getrachtet Allendes Präsidentschaft gar nicht erst wahr werden zu lassen: Einem von US-Sicherheitsberater Henry Kissinger und der CIA geplanten Putsch gegen Allende war der verfassungstreue General René Schneider im Weg. Der Oberbefehlshaber des Militärs wurde am 22. Oktober, zwei Tage vor der parlamentarischen Wahl, angeschossen und starb drei Tage später an den Folgen der Verletzung.

Wir konnten auch über Bündnispolitik in Theorie und Praxis lernen: Es war anfangs auch ein großer Sieg der Einheit der Linken. Die Unidad Popular schien ein Beispiel für eine gute Verständigung der verschiedenen Strömungen der Linken, vielleicht auch anderswo, zu sein. Aber schon bald brachen die Unterschiede wieder auf, die auf dem Weg zur politischen Macht verdeckt geblieben waren. Die „Izquierda Cristiana“ (Christliche Linke), die Bewegung der Volkseinheitsaktion (MAPU) und die linke Mehrheit der Sozialistischen Partei (PS) waren es, die den Umgestaltungsprozess schneller voran treiben wollten; Kommunisten, Allendes Minderheit bei der PS und die Radikale Partei setzten auf einen reformerischen Weg, weil sie die Kräfteverhältnisse in der Gesellschaft, vor allem aber im Militär realistischer einschätzten. Andere Kräfte, wie die „Bewegung der Revolutionären Linken“ (MIR), die der UP nicht angehörte, aber zeitweilig Allendes Leibwache stellte, schlossen im Gegenteil gerade aus der problematischen Ausgangslage, dass die Umwälzungen radikaler sein müssten und kritisierten Allende als Reformisten und die KP als revisionistisch. Die drei Jahre waren ein ständiger Kompromiss – die ganze Macht hatte Salvador Allende also nicht einmal halb, und selbst die halbe Macht nicht annähernd ganz, sondern er teilte sie mit den schwierigen Partnern in der Unidad Popular.

Wir lernten über Möglichkeiten: Wenn man mit heutigen Koalitionsregierungen in bürgerlichen Staaten vergleicht – egal, auf welchem Kontinent –, dann erstaunt, was angesichts der beschriebenen Situation andauernder Kompromisse an realen Veränderungen dennoch alles möglich wurde; und das in Richtung Sozialismus. Die UP setzte in den drei Jahren Minderheitsregierung eine Agrarreform, Alphabetisierung und erhebliche Verbesserungen im Gesundheits- und Sozialbereich durch. Die heute längst wieder privatisierte Bildung – ein Thema, das Schüler- und Studierendenschaft in den letzten Jahren immer wieder zu breiten Aktionen mobilisiert – war unter Allende kostenfrei gestellt worden. Einige ausländische Unternehmen wurden enteignet; in die UP-Zeit fiel auch die Verstaatlichung von Bodenschätzen, darunter am 11. Juli 1971 die der Kupferindustrie, die sogar von den Rechten unterstützt und formal selbst von Pinochets Diktatur nicht angetastet wurde. Dass all das von Linksaußen als Reformismus angesehen wurde, sagt wohl weniger etwas über den Grad der Veränderungen als über die damals ständig diskutierten Themen und mehr noch über die diskutierbaren revolutionären Möglichkeiten.


Durch diese Maßnahmen schaffte die UP, was einer amtierenden Regierung selten gelingt – sie erhöhte ihren Stimmenanteil. Im März 1969, bei den letzten Parlamentswahlen vor Allendes Sieg, hatten KP, SP und Radikale zusammen 44 Prozent bekommen, was 61 Abgeordnete gegenüber 56 Christdemokraten und 33 Nationalisten bedeutete. Ab Herbst 1970 starteten Wirtschaftsboykottmaßnahmen seitens der USA; später begann die Unterstützung der bürgerlichen Mitte zu fehlen, nachdem 1971 ein früherer christdemokratischer Minister von einer von der CIA unterstützten linkssektiererischen Gruppe namens VOP (Arbeitervolks­avantgarde) ermordet worden war und sich in der Folge die Christdemokratische Partei den Nationalisten anschloss. Spätestens 1972 kamen massivere Unternehmerstreiks hinzu; hunderte Attentate auf Versorgungs- und Infrastruktureinrichtungen hatten ihr Übriges zur Verschlechterung der Versorgungslage getan. Und dennoch: Im März 1973 – inmitten eines enormen Mangels an Versorgungsgütern und einer Hyperinflation – waren es bei der UP 63 Abgeordnete, was auf den Anstieg bei der Sozialistischen Partei zurückzuführen war. Die mittlerweile zur „Konföderation für die Demokratie“ zusammengeschlossenen Kräfte verloren leicht, obwohl inzwischen sogar die „Partei der Radikalen Linken“ dorthin gewechselt war: Die Christdemokraten sanken auf 50, die Nationalisten stiegen leicht auf 34 Abgeordnete. Aber die Arbeit blieb zäh, und zudem war die innere Sicherheit durch die in aller Öffentlichkeit betriebenen Putschvorbereitungen bedroht, sodass an planvolle Politik kaum mehr zu denken war. Während Allende nach wie vor auf die Verfassungstreue von Militär und Polizei vertraute, verlangten radikalere Kräfte innerhalb der UP die Bewaffnung des Volkes. Beides erfüllte sich nicht.


Wir lernten auch und für alle Zeit: Sozialismus per Wahlen anzustreben, ist mindestens kühn, wenn nicht sinnlos, solange man auf dem Spielfeld des Gegners antritt und dieser sich nicht einmal an die von ihm selbst aufgestellten Spielregeln hält. Er ist es, der den Völkern die Wahlergebnisse diktiert – entweder, indem er sie selbst fälscht oder indem er ungelegene Wahlergebnisse zu Fälschungen erklärt. Im Schatten der Abstrusitäten aus dem Repertoire der derzeitigen US-Regierung und immer mit dem Finger auf deren Chef zeigend, hat die Europäische Union dabei eine eigene Neuerung eingeführt: Die Vorabfestlegung von Wahlergebnissen als Fälschung beziehungsweise als nicht anerkennungsfähig, bevor überhaupt an die Urnen gegangen wird. 2018 in Venezuela, 2019 in Bolivien, kürzlich in Syrien und jetzt in Belarus. Wenn ungleiche Bedingungen für Regierung und Opposition das Kriterium sind und dabei „Opposition“ nicht nur die regierungsnahen Nichtregierenden meint, dann war in der BRD nach 1949 keine Bundestagswahl fair und frei.

Aber alles ist noch steigerungsfähig. Steigerungsfähig nicht etwa durch eine Abschaffung der Wahlen, die ja eine gewisse Konsequenz hätte. Sondern steigerungsfähig durch Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts für Leute, deren niedriger Sozialstatus sie die Sinnhaftigkeit wirtschaftlicher Entscheidungen sowieso nicht durchschauen lässt. Das antike Griechenland hat’s vorgemacht: Demokratie ja. Aber nicht gleich für jeden.

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"Wir lernten", UZ vom 4. September 2020



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