Der Briefwechsel zwischen Sarah Kirsch und Christa Wolf

„Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt“

Briefwechsel
Sarah Kirsch, Christa Wolf „Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt“. Der Briefwechsel Suhrkamp Verlag 2019, geb., 438 Seiten, 32 Euro

Zwei Frauen unterwegs als Autorinnen, keine Schwestern im Geiste, aber sie verstehen sich gut. Doch sind sie so unterschiedlich, dass am Ende Trennendes steht. Verantwortlich dafür ist der gesellschaftlich-politische Hintergrund, es sind die Vorgänge um 1989. Während Sarah Kirsch längst mit der DDR abgeschlossen hatte, schnell Positionen und Haltungen wechselt wie oft, und 1977 das Land offiziell verließ, suchte Christa Wolf nach einer Zukunft für dieses Land. Ihre Gegensätze werden auch in ihrer Beziehung zur Literaturkritik erkennbar. Während Christa Wolf den unsäglichen Reich-Ranicki, der statt mit Sachlichkeit mit Tiraden argumentiert, mit Recht als „grausigen R. R.“ bezeichnet, ist er für Sarah Kirsch ein „weiser Rabe“ – nicht „weißer Rabe“.

Diese Autorinnen führten einen freundschaftlichen und offenen Briefwechsel, der nicht nur die Literatur, sondern auch das alltägliche und oft schwierige Leben mit Wohnungssuche und finanziellen Engpässen betrifft, vor allem eingebracht von Sarah Kirsch, deren Ehe mit Rainer Kirsch ebenso scheitert wie andere Beziehungen, oder die zu Karl Mickel, die zur Zerreißprobe wird. Vieles ist unterhaltend, manches grenzt auch an Belanglosigkeit und, bei Sarah Kirsch, an Trivialität. Sarah Kirsch ist schwankend, gefühlsbetont und planlos, amüsiert sich mit pikanten Abenteuern, über die sie detailliert schreibt wie über das mit Wolfgang Kohlhaase, aber sie ist wenig ambitioniert, wenn es um Hilfe für andere, gar Leidende geht: So bedauert sie ihren Zivildienst leistenden Sohn, weil er „den Siechen die Windeln wexeln“ (sic!) muss und um einen für die Abdeckerei fälligen Esel vergießt sie mehr Tränen „als um (ihren) Vater“. Als ihr einstiger Mann Rainer Kirsch 1990 zum neuen Präsidenten des Schriftstellerverbandes gewählt wurde, erklärte sie ihn für verrückt, „jetzt noch ‘ne Funktion“. Christa Wolf dagegen überzeugt mit klaren Haltungen und Konzepten und einem auf Familie und Gesellschaft gerichteten Leben. Sarah Kirsch spürt die Unterschiede und sucht bei der anderen Unterstützung, aber ihre Freundlichkeit wirkt oft aufgesetzt und hat den Unterton der Benachteiligten. Es ist kein Wunder, dass sich Sarah Kirsch schließlich abwendet, als 1990 der Literaturstreit wegen Christa Wolfs politischer Haltung, ausgelöst von Ulrich Greiner und Frank Schirrmacher, ausbrach und sie Unterstützung und Fürsprache nötig gehabt hätte. Da lässt die Kirsch die Freundin im Stich, verbreitet sogar Gerüchte und rät, „die Politik auch mal wieder dahin (zu) rücken wo sie hingehört“, sonst sei „es kaum möglich zu schreiben“. Das war das Ende der Freundschaft, die letztlich eine fragile war.

Das Leben der Christa Wolf war erfüllt und sinnvoll: Neben einem umfangreichen Schaffen der beiden Wolfs, ihr Mann Gerhard und sie reisten durch die Welt, zu Lesungen, Kuren, Besuchen, von den USA bis Italien, von der Slowakei bis zur Bundesrepublik. Wird ihre Wohnung an der Friedrichsstraße „generalrekonstruiert“, fanden sie Unterkunft in einem Schriftstellerheim. Christa Wolf gehörte zu ihrem Lande, dieses Land wurde vom Untergang bedroht und die Autorin mit. Die Vorgänge 1989/90 erschütterten sie. War der Briefwechsel bis dahin unterhaltsam und brachte Einblicke in innere Kreise der Literatur, so bekommt er durch Christa Wolf eine historische Dimension von beachtlicher Größe. Schon Ende 1988 stellten die Wolfs fest, dass „merkwürdige Dinge“ vorgehen, die in die Geschichte zurückreichen. Christa Wolfs Briefe wurden zunehmend politischer und stießen zunehmend auf Zurückhaltung bei Sarah Kirsch, die Christa Wolfs Probleme durch ihre dörfliche Pseudoidylle abzuwerten versuchte. Christa Wolf dagegen fand die „Bewegungen, die da umlaufen“, „sehr wichtig“ und unterstützte sie, einmal durch ihre Töchter, zum anderen durch eigenes Engagement, so am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz und vor allem durch den Aufruf „Für unser Land‘“ (28. November 1989), der die Wiedervereinigung, die ursprünglich nicht auf dem Programm der Demonstrierenden stand, ablehnte. An der Ausarbeitung eines Verfassungsentwurfs für eine erneuerte DDR war sie beteiligt: Christa Wolf wurde in dieser Zeit zu einer wirklichen Bürgerrechtlerin, entgegen jenen „Bürgerrechtlern“, die ihr Land zerstörten, seine Wirtschaft verschleuderten und zahlreichen Benachteiligten und Versagern aus dem Westen seinen Besitz und seine Strukturen in die Hände drückten: Statt Demokratisierung und Reformierung der DDR kam der Anschluss an die BRD. Fast schmerzlich musste Christa Wolf erkennen, dass das „Gemeinwesen schwindet, hinweg gewählt von der Mehrheit seiner Bewohner“, weil die Menschen „das Verbrauchen wählen und nicht das kreative Sein“. Folgen waren, dass „allenthalben die Frauen als erste entlassen werden“ und man „allerwegen auf Depressionen“ traf: „Scharfe soziale Spannungen“ wurden vorausgesagt. Der Briefwechsel könnte zur Pflichtlektüre bei Feiern zur sogenannten „friedlichen Revolution“ erhoben werden.

Ein informativer Anhang vervollständigt neben einer klugen und ausführlichen Kommentierung jedes Briefes die Ausgabe. Lediglich Gerhard Wolfs sprachspielerische Abhandlung über die Motive Sarah Kirschs ist entbehrlich, weil sie die Proportionen des Briefwechsels verschiebt und problematische Züge der Lyrik Sarah Kirschs ausklammert.

Bei Diskussionen um Literatur, wie über Volker Brauns „Hinze-Kunze-Roman“, werden nur kritische Beiträge genannt. Es gab aber immer auch andere, verständig wohlwollende, wenn auch meist nicht in den führenden Presseorganen. Hier entsteht der Eindruck, als wären bestimmte Werke ausschließlich verteufelt worden. Zu thematisieren wäre, warum in der DDR der Literatur eine so große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das ist eine andere Frage, aber für das Verständnis der Literatur, nicht für ihre Verurteilung unbedingt zu beantworten, um sich nicht dem Niveau eines Reich-Ranicki anzunähern.

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"„Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt“", UZ vom 13. Dezember 2019



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