Wie sie den tödlichen Polizeieinsatz gegen den 16-jährigen Geflüchteten Mouhamed Lamine Dramé am 8. August 2022 in der Dortmunder Nordstadt erlebten, haben drei Rettungssanitäter der Berufsfeuerwehr Dortmund am 3. April, dem zehnten Prozesstag, geschildert. Sie waren von der Leitstelle zu der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth beordert worden und noch vor einigen der Polizisten dort eingetroffen. Weil ihnen mitgeteilt worden war, dass Mouhamed Dramé suizidgefährdet sei und ein Messer in der Hand halte, hatte die Besatzung des Rettungswagens bei der Anfahrt auf Sirene und Blaulicht verzichtet.
Zeuge G. sagt als erster der drei Sanitäter aus. Nachdem ihr Rettungswagen in der Jugendhilfeeinrichtung angekommen sei, habe er Blickkontakt zu den Polizeibeamten aufgenommen, die bereits vor Ort waren. Weil die Lage „unklar“ gewesen sei, habe er Material auf der Trage bereitgestellt. Dann seien seine Kollegen und er alarmiert worden wegen eines „Vorfalls“ und durch den Torbogen in den Innenhof der Einrichtung gerannt. Er habe den „Patienten“ bäuchlings auf dem Boden liegend vorgefunden, die Hände auf dem Rücken gefesselt. Zunächst habe er einen „Bodycheck“ gemacht, erzählt Herr G., also den niedergeschossenen Jugendlichen auf äußere Verletzungen überprüft. Dramé habe gerötete Augen gehabt – ein Indiz dafür, dass das Pfefferspray, mit dem die Angeklagte Jeannine Denise B. den Jugendlichen angegriffen haben soll, wohl doch getroffen hat. Mehrere Polizisten hatten das im Zeugenstand geleugnet. Der Patient habe sich „wehrig“ verhalten.
G., 29 Jahre alt, und seine beiden Kollegen sind Berufsfeuerwehrleute. Sie sagen routiniert aus im Zeugenstand und klingen, als hätten sie sich vorbereitet. Sie nutzen medizinisches Fachvokabular, und manchmal auch polizeiliches. Mit der Polizei zusammenzuarbeiten sind sie gewohnt. Das wird im Laufe dieses zehnten Prozesstages klar.
„Wehrig“ ist eine solche Polizeisprech-Vokabel. Zeuge G. präzisiert auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Thomas Kelm: Dramé habe versucht, seinen Oberkörper aufzurichten und aufzustehen. Weshalb, könne er sich nicht erklären, behauptet der Sanitäter. Ein Polizist habe dabei geholfen, Dramé auf die Trage zu legen. Ein Notarzt sei eingetroffen, „als wir den Patienten in den Rettungswagen geschoben haben“. Versuche, dem Patienten intravenöse Zugänge zu legen, seien anfangs gescheitert. Eine Sauerstoffmaske habe der Jugendliche „immer weggedreht“, letztendlich sei es aber gelungen, ihm eine aufzusetzen.
So schnell wie möglich habe man Mouhamed Dramé ins Klinikum Nord gebracht, sagt G. Der Patient habe „für mich unverständliche Laute“ von sich gegeben. Einmal, erinnert sich G., habe Dramé ihn angeschaut.
Der Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes vertritt zusammen mit Rechtsanwältin Lisa Grüter – sie ist heute nicht anwesend – die Nebenkläger, Mouhamed Dramés Familie. Er befragt den Zeugen G. zu Einsätzen bei Suizidversuchen. Feltes zitiert Fachliteratur, nach der diese etwa zehn Prozent aller medizinischen Rettungseinsätze ausmachten. „Das könnte hinkommen“, sagt G. Ob ein solcher Einsatz als Gefahren- oder Hilfeeinsatz bewertet werde, komme auf die Situation an. Der Einsatz an jenem 8. August 2022 sei „definitiv ein Hilfeeinsatz“ gewesen. Bislang habe er in einer solchen Situation noch keinen Psychiater angefordert, sagt G. „Aber man kann definitiv einen anfragen über die Leitstelle.“ Warum er das an diesem Tag nicht gemacht habe, wisse er nicht.
Ob sich suizidale Patienten lebhaft oder apathisch verhielten, sei „immer unterschiedlich“. Was man mit apathischen Patienten mache, fragt Feltes. Zeuge G. weiß: Ihnen rede man auf Entfernung gut zu. Sei das der Ansatz, der in der Fachliteratur „Talk them down“ genannt werde? Genau, antwortet G. Feltes bohrt nach: „Machen Sie das auch, wenn die Polizei da ist?“ Wenn die noch kein Gespräch mit dem Patienten aufgenommen habe, dann ja, sagt G.
Zeugin B. ist erst 22 Jahre alt. Sie ist Notfallsanitäterin in Ausbildung. Ihre Schilderungen decken sich weitgehend mit denen von G. Auf Nachfrage von Richter Kelm gibt B. an, sie sei mit ihren Kollegen erst in die falsche Richtung losgelaufen, nachdem die Schüsse gefallen waren. Auch B. sagt aus, Mouhamed Dramé habe sich „auf dem Boden gewunden. Er wirkte sehr agitiert, ja wehrhaft.“ Auch sie nimmt keine Einordnung vor, auch sie schlägt nicht vor, dass Mouhamed sich seiner Schmerzen wegen bewegt haben könne. Im Rettungswagen sei der Jugendliche bei Bewusstsein gewesen, habe selbstständig geatmet und „sich weiterhin gewehrt“. B. gibt an, der zweite Versuch, Mouhamed Dramé einen intravenösen Zugang zu legen, habe funktioniert. Dem Patienten sei dann das Opioid Fentanyl verabreicht worden. Ein weiterer Zugang sei Dramé in einen Knochen im Unterschenkel gebohrt worden, ein intraossärer Zugang. „Das ist sehr schmerzhaft. Da hat er nochmal reagiert“, sagt B. Im Schockraum der Klinik sei der Patient „nicht mehr so wehrig“ gewesen.
Thomas Feltes befragt auch B. zum Umgang mit suizidalen Patienten. Der sei Teil der Sanitäterausbildung, sagt B., allerdings habe sie diesen Teil der Ausbildung erst nach dem tödlichen Einsatz gegen Mouhamed Dramé gehabt. Grundsätzlich müsse man eine „ruhige, vertrauensvolle Umgebung schaffen, damit der Patient das Messer weglegt“.
Der dritte Zeuge ist Herr K., 32 Jahre alt, mittlerweile Hauptbrandmeister. Zum Zeitpunkt des Einsatzes war er Notfallsanitäter und Praxisanleiter. Die Leitstelle habe ihm und seinem Team nicht mitgeteilt, dass die Polizei involviert war, sagt K. Eine der später insgesamt drei Streifen sei schon vor Ort gewesen, als sein Rettungswagen eintraf.
Nachdem sein Kollege G. den „Bodycheck“ durchgeführt habe, habe man sich entschieden, Mouhamed Dramé sofort auf die Trage zu legen und alle weiteren Maßnahmen im Rettungswagen durchzuführen. Vier Schussverletzungen seien sichtbar gewesen. In der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ist von fünf Treffern die Rede. Dramé sei nicht unterkühlt gewesen, habe normal geatmet, eine Blutung nach außen sei nicht festgestellt worden. Der Niedergeschossene sei „stabil“ gewesen, lediglich „den Blutdruck hatten wir nicht ableiten können“. K. sagt aus, man habe dem Patienten nur einen intraossären Zugang legen können, ein „normaler Zugang“ sei nicht möglich gewesen. Der Notarzt habe „relativ schnell“ entschieden, Dramé müsse schnellstmöglich ins Krankenhaus, alles Wichtige sei schon getan gewesen. „Vielleicht fünf Minuten“ habe man ins Klinikum gebraucht. Dort sei der Schockraum bereits vorbereitet gewesen.
Mit dem Tod von Mouhamed Dramé habe er nicht gerechnet, sagt K. Er sah, wie der Jugendliche starb.
Keiner der drei Rettungssanitäter will eine Einsatzbesprechung der Polizei mitbekommen haben. Laut G. habe die Polizei ihnen gegenüber allerdings den Reizgaseinsatz angekündigt. Richter Kelm hält Herrn K. eine Aussage vor, die er kurz nach dem tödlichen Einsatz bei der Polizei Recklinghausen gemacht hatte, die die Ermittlungen übernommen hatte. Damals habe Zeuge K. angegeben, einen „riesigen Schlagstock“ gesehen zu haben, der als polizeiliches Einsatzmittel ausgegeben worden sei. Daran könne er sich nicht mehr erinnern, behauptet der Zeuge. „Aber wenn ich das damals so gesagt habe.“ Keiner der Polizisten im Zeugenstand hatte einen solchen „riesigen Schlagstock“ erwähnt. Ein solcher könnte etwa dazu dienen, jemanden auf Abstand zu halten, der ein Messer in der Hand hält.
Polizeiwissenschaftler Feltes befragt den Zeugen K. noch zum Informationsfluss zwischen Leitstelle und Rettungswagen. K. kennt wohl beide Seiten, mittlerweile nämlich arbeitet er als Stellvertretender Disponent einer solchen Leitstelle. Ob die Besatzung des Rettungswagen keine Rückfragen an die Leitstelle gestellt habe, will Feltes wissen. „Ganz genau“, sagt Zeuge K. „Wir haben nicht geglaubt, dass das so ein großes Ding werden würde.“
Der Prozess wird am 17. April fortgeführt. Die Strafverteidiger des Dienstgruppenleiters Thorsten H. und Markus B.s haben angekündigt, dass ihre Mandanten sich dann erstmals in diesem Prozess zur Sache äußern wollen.
Unsere bisherige Berichterstattung über den Prozess haben wir hier zusammengestellt.