Vor gut 50 Jahren – am 9. November 1969 – fanden in NRW Kommunalwahlen statt. Das Besondere an diesen Wahlen: Zum ersten Mal war die Deutsche Kommunistische Partei auf den Stimmzetteln in Bottrop und einigen anderen Städten zu finden. Am Tag nach der Wahl schrieb die Bottroper Kommunistin Elisabeth Sobolewski den folgenden Brief an eine Freundin in Gräfenhainichen (DDR).
Liebe Erna!
Wir haben gewonnen! Wir haben gewonnen!
Ach, wenn du wüsstest, was das für uns bedeutet. Unsere ganze Partei hoffte auf unseren Sieg. Wir haben 5,28 Prozent der Stimmen und sind mit zwei Vertretern im Stadtparlament. Unsere Gegner sind überrascht. Am meisten rührte die SPD ihre Werbetrommel. „Wählt keine Kommunisten, sie bekommen höchstens 1,7 Prozent, die CDU profitiert nur davon.“ So ging es durch alle SPD-Versammlungen. Unsere Genossen haben auf diesen Versammlungen gesagt: „Wartet ab, wer zuletzt lacht, lacht am besten.“ Und gestern haben wir gelacht, getanzt und gesoffen.
Erna, wir haben einen Wahlkampf geführt wie vor 1933, außer dem Wahl-Quiz.
Keine einzige Versammlung in der Wirtschaft. Dafür Tag für Tag hunderte von Diskussionen auf der Straße, von Haus zu Haus, von Tür zu Tür. Wir haben herrliche Männer, Frauen und Kinder. Jeden Tag waren 20 bis 30 Personen an bestimmten Stellen in den Arbeitersiedlungen, der gute Ömmes (der rote Ruhr-VW-Bus) kroch in jede Bottroper Ecke. Tausende Luftballons wurden von unseren Kindern aufgeblasen (Aufschrift: „Für unsere Zukunft – DKP“) und überall verteilt, ein Frauen-Kandidatenblatt (Rosa in Schwesterntracht auf der ersten Seite), ein Wahl-Quiz wurde durchgeführt. Hauptgewinn: ein Farbfernseher. Tagtäglich rief der Lautsprecher: „Wählt Kommunisten ins Rathaus!“ Clemens Kraienhorst und seine Mannschaft. „Wir haben die richtigen Männer – aber auch die richtigen Frauen!“ – „Clemens Kraienhorst ist unbestechlich, seine junge Mannschaft ebenfalls!“
Slogans wie Persil-Verkäufer? Aber sie blieben nicht ohne Wirkung. Heute sind wir Bottroper überglücklich und mit uns die ganze Partei. Vielleicht freut ihr euch auch ein bisschen?
Wir haben über 5 Prozent bekommen in einer Zeit, wo der Antikommunismus seine Blütezeit hat, wo wir, das heißt der Wähler, noch unter dem Eindruck des Ausgangs der Bundestagswahl stand. Rundfunk und Presse schwiegen uns tot. Wir existierten für sie gar nicht. Die Tageszeitungen haben nicht einmal eine Annonce mit dem Hinweis auf die Quiz-Auslosung von uns angenommen. Auf der Veranstaltung erschien das 14. K (so hieß damals die Politische Polizei, die Redaktion) und schrieb alle Autonummern auf. Dabei wären sie beinahe von unseren Genossen verprügelt worden, als sie ihre Ausweise mit den Kennnummern nicht zeigen wollten. Beide Kerle haben gezittert wie Espenlaub und gaben dann schnell ihre Ausweise. Stell dir vor, einen Tag vor der Wahl (wo wir doch Demokratie haben sollen), solche altbekannten Nazi-Methoden von der politischen Polizei. Sofort wurde auf der Versammlung (der Raum war voll) eine Protestentschließung angenommen. Ein anwesender Drucker erklärte sich bereit, 5.000 Blatt kostenlos zu drucken. Das wird in den nächsten Tagen verteilt.
Bei der Benennung der Wahlhelfer haben wir 80 Personen eingereicht für 72 Wahllokale. Sage und schreibe 27 haben sie angenommen. Aber die Herren haben sich geirrt. Da die Auszählung der Stimmen öffentlich ist, haben wir 70 Personen in den Wahllokalen als Aufpasser gehabt. Bei der letzten Kommunalwahl hatten wir schlechte Erfahrungen gemacht. 18 Stimmen gingen allein in einem Wahllokal verloren, die dann nur durch einen einzigen früheren, alten Genossen beobachtet wurden, der rein zufällig in dem Lokal war. Man hatte einfach 18 Stimmen auf den Haufen der ungültigen Stimmen gelegt. durch diesen Genossen wurden sie gerettet.
Clemens Kraienhorst wäre also schon letztes Mal wegen dieser Unterschlagung nicht ins Parlament gekommen. Wir hatten 1965 genau 5 Prozent und eine Stimme. Auch diesmal haben wir durch das wache Auge unserer Leute einige Stimmen gerettet. Von den Wahllokalen gingen die Helfer zum „Schoppen“, um das Ergebnis ausrechnen zu lassen.
„Schoppen“ ist ein großer, herrlicher Raum, den wir uns aus einem Hühnerstall in ein vornehmes Wohnzimmer umgearbeitet haben. Die Genossen, die daran gearbeitet haben, wollten natürlich bis zum 9. 11. fertig sein. Und sie waren fertig. Hier können wir große Versammlungen und Sitzungen, Kaffeeklatsche und die Jugend unterbringen. Im Raum herrschte Ruhe. Jedem sah man die Spannung an. Erster Telefonanruf. Zwischenrechnung vom Wahlamt: 5,2 Prozent. Keiner sagte ein Wort. Wir glaubten es noch nicht, da noch einige Stimmbezirke fehlten.
Dann ein Anruf von unserem 1. Bezirkssekretär: Gratulation – eben Sondermeldung im Radio: DKP in Bottrop 5,3 Prozent. Sofort danach kam der Anruf von Frau Michsener aus dem Rathaus: 5,28 Prozent. Wir haben gewonnen, Erna, noch Sekunden des Schweigens, dann ein Hallo, ein Drücken und Küssen. Wir hatten gewonnen!
Die Gläser klirrten. Eine Delegation aus Essen, die uns gratulierte. Der Polizeirat aus Bottrop kam persönlich, um uns zu gratulieren, in unseren Schoppen. Glaube nicht, dass wir katzbuckeln, wir wissen genau, dass sie das 14. K ja schlecht schicken konnten, aber sie mussten den Schoppen kennenlernen und die Stimmung der Kommunisten prüfen. Nach einem Glas Schnaps wurde er abgeschoben. Dann kam unser 1. Bezirkssekretär, nachher aus Düsseldorf ein Vertreter des Parteipräsidiums. Und in dieser Stimmung wurde bekannt gegeben, dass mein jüngster Bruder (16 Jahre) Mitglied der Partei geworden ist.
Er ist das jüngste Mitglied und bekam einen roten Nelkenstrauß. Unser Klaus war ein aktiver Wahlhelfer. Karl-Heinz konnte sich auf ihn verlassen. Unsere jungen Genossen, die in den vier Wochen Wahlkampf ihre Frauen sehr vernachlässigt hatten, denn die Einsätze gingen rund um die Uhr bis in die Nacht, waren nun mit ihren Frauen gekommen. Sie feierten mit. Die Gläser wurden nicht leer. Karl-Heinz hat natürlich nicht getrunken (wie immer), obwohl er sich richtig besaufen wollte, und den Taxifahrer gespielt. Um drei Uhr letzte Nacht waren die Letzten dann zu Hause. Ich hatte einen tüchtigen Schwips. Bin heute noch ganz krank.
Aber auch heute geht der Wahlkampf schon weiter. Die Plakattafeln von Bäumen und Laternen werden eingesammelt. Unser kleiner Ömmes fährt durch die Straßen und per Lautsprecher ein herzliches „Dankeschön“ an unsere Wähler. Ja, die Kommunisten sind nicht kleinzukriegen, zäh und ausdauernd – bis zur völligen Erschöpfung führen sie den Wahlkampf. Die Genossen gingen so manche Stunde, auch so manche Schicht nicht nur zur Arbeit, die Familie steckte Geldeinbuße ein – aber sie sind glücklich, weil es nicht umsonst war. Erna, wir haben zwei Siege errungen. Der erste war uns ganz sicher, dass wussten wir schon am 8. 11. In Bottrop gab es nicht ein Kind und einen Erwachsenen, der nicht wusste, in Bottrop gibt es eine kommunistische Partei – die DKP. Und den zweiten Sieg, an den wir nicht glaubten – aber alles dafür getan hatten – gab es bei den 5,28 Prozent. Jetzt geht der Kampf weiter. Deine Elisabeth