UZ: Insgesamt mehr als 151 600 Menschen haben eine Petition von ver.di unterzeichnet, mittels derer die Dienstleistungsgewerkschaft die gesetzliche Personalbemessung im Krankenhaus auf die politische Agenda setzen will. Die Unterschriften werden dem Petitionsausschuss des Bundestages übermittelt. Mit welchem Ziel?
Hilke Sauthof-Schäfer: Das Ziel ist, die Diskussion zum Thema Arbeitsbelastung und unserer Forderung nach gesetzlich verankerten Personalmindeststandards innerbetrieblich und öffentlich nicht in der Versenkung verschwinden zu lassen. Gleichzeitig wollen wir erreichen, dass die Löhne der Beschäftigten zu 100 Prozent finanziert werden. Momentan wird immer weiter an Personalkosten gespart, was Tarifflucht und Personalkürzungen bedeutet.
Durch die Petition ist es möglich, eine öffentliche Anhörung im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum Krankenhausstrukturgesetz zu erwirken.
Das hierzu erforderliche Quorum – 50 000 Unterschriften – ist um das dreifache überschritten, was uns natürlich ordentlich Rückenwind gibt.
UZ: Nach ver.di-Berechnungen fehlen bundesweit 162 000 Stellen, darunter 70000 Pflegekräfte, in den Krankenhäusern. Wie genau soll ein derart großer Missstand überhaupt behoben werden?
Hilke Sauthof-Schäfer: Insbesondere in den Pflegeberufen sind die Kolleginnen und Kollegen nach ihrer Ausbildung nur sehr kurze Zeit in dem Beruf. So gab es vor ein paar Jahren eine Verweildauer im Beruf von unter fünf Jahren. Aus meiner Sicht ist diese noch kürzer geworden. Auch ist die Teilzeitquote von Beschäftigten hier sehr hoch. Bessere Arbeitsbedingungen und Arbeitsentlastung durch genügend Personal würden viele Kolleginnen und Kollegen bewegen, wieder in den Beruf einzusteigen oder auch die Arbeitszeit zu erhöhen. Außerdem müssen wir die Diskussion um die Aufwertung von sozialen Berufen weiterführen; dies betrifft auch das Lohngefüge.
In den 1980igern, zur Zeit meiner Ausbildung, gab es schon mal einen Pflegenotstand und man hat die Ausbildungsplätze massiv erhöht und Arbeitsbedingungen verbessert. Die von uns geforderten Maßnahmen würden Pflegeberufe wieder attraktiver machen. Außerdem ist es jetzt schon so, dass in den hochspezialisierten Bereichen, wie Intensiv- und Überwachungsstationen, in vielen Häusern Betten „geschlossen“ sind, weil das Personal fehlt. Attraktivität in Bezahlung und besseren Bedingungen ist also jetzt schon dringend erforderlich.
UZ: Welche Schwierigkeiten ergeben sich aus der ausgesprochen dünnen Personaldecke für Patientinnen und Patienten?
Hilke Sauthof-Schäfer: Pflegerische Maßnahmen, die zur Gesundung beitragen würden, finden nur sehr unzureichend oder gar nicht mehr statt. Das fängt bei unzureichender Ernährungszufuhr oder Mobilisierung an und kann bei falscher Medikamentengabe, bedingt durch Überlastung bzw. zu viele, gleichzeitig auszuführende Tätigkeiten, enden. Von der notwendigen und nicht mehr durchführbaren Kommunikation mit den Patienten ganz zu schweigen.
UZ: Und für Pflegepersonal und andere Berufsgruppen?
Hilke Sauthof-Schäfer: Das Gefühl, nach jeder Schicht nach Hause zu gehen und nicht mal die Hälfte von dem geschafft zu haben, was eigentlich für die Patienten notwendig gewesen wäre, kennt fast jeder aus den Gesundheitsberufen im Krankenhaus.
Es kommt immer wieder vor, dass Doppelschichten gearbeitet und Pausen nicht genommen werden. Verstöße gegen Arbeitszeitgesetz und Tarifverträge sind an der Tagesordnung. Immer wieder angerufen zu werden, um eine Schicht zu übernehmen, obwohl man frei hat, geht an die Substanz. Das Gefühl, 24 Stunden zur Verfügung stehen zu müssen, ist bei vielen vorhanden. Abschalten und erholen ist dann kaum noch möglich. Sehr groß ist das Verantwortungsgefühl gegenüber den Patienten, aber auch gegenüber den Kolleginnen, die man nicht allein stehen lassen will.
UZ: Vor allem im ländlicheren Raum gilt die Gesundheitsversorgung als nicht mehr flächendeckend gewährleistet. Liegt dies einzig an fehlenden finanziellen Mitteln? Wie wäre diesem Problem beizukommen?
Hilke Sauthof-Schäfer: Aus meiner Sicht ist unser Gesundheitssystem z. Zt. selbst völlig krank. Es geht nicht mehr um Daseinsvorsorge und flächendeckende gute Gesundheitsversorgung. Konzerne und Berufsstände haben den Gesundheitsmarkt entdeckt, bei dem die Gewinnmarge höher ist, als in vielen anderen Bereichen. Pharma-, Geräte- und Gesundheitsproduktehersteller verdienen Milliarden an Gesundheit. Die Gesundheitspolitik ist darauf ausgerichtet diese Märkte zu bedienen. So gibt es weiterhin eine Trennung zwischen stationärer, also im Krankenhaus, und ambulanter, also durch Arztpraxen, zu erbringende Gesundheitsversorgung. Das führt z. B. dazu, dass Notfallambulanzen in Krankenhäusern hohe Defizite einfahren und diese Kosten der gesamten Klinik aufgebürdet werden. Es wird ein System von Fallpauschalen angewendet. Das führt dazu, dass bestimmte Behandlungen (Herzkatheteruntersuchungen; Deutschland hat EU-weit die höchste Zahl an Knie- und Hüftoperationen) den Krankenhäusern viel Geld bringen, gleichzeitig aber chronisch kranke Patienten unterversorgt sind. Es lohnt sich, Spezialpraxen aufzumachen, Allgemeinarztpraxen im ländlichen Bereich sind unattraktiv. Das Geld für die kleinen Krankenhäuser wird durch das System verknappt, so dass sie auf Dauer nicht überleben können.
UZ: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den Sozial- und Erziehungsberufen haben in der jüngsten Vergangenheit sehr engagiert für ihre Aufwertung gekämpft und gestreikt. Welche Möglichkeiten hätten Beschäftigte in Krankenhäusern, um den Druck zu erhöhen?
Hilke Sauthof-Schäfer: Einhaltung von Arbeitszeitgesetz und Tarifverträgen würde in vielen Krankenhäusern schon dazu führen, in eine andere Diskussion, beispielsweise zur Personalmindestbesetzung, zu kommen. Und natürlich ist es notwendig, die Aktivitäten, bis hin zum Streik, zu erhöhen. Die Charité ist hier ja ein gutes Beispiel.
Wir haben aber auch Krankenhäuser, die unter kirchlicher Leitung stehen. Dort versuchen wir durchzusetzen, dass das Grundrecht auf Streik endlich auch auf kirchliche Betriebe Anwendung findet. Das staatlicherseits eingeräumte Sonderrecht der Kirchen führt dazu, dass diese für ihre Betriebe sowohl Tarifverträge, als auch Streik als Mittel des Arbeitskampfes, ausschließen.
In Niedersachsen haben wir hier einen ersten, sehr großen Erfolg erzielt. Dort wurde ein Tarifvertrag für die kirchlichen Betriebe abgeschlossen.
UZ: Und trotzdem wirkt es ein wenig, als sei der Kampfesmut, trotz der hohen Belastungen und niedrigen Entlohnung, nicht sonderlich ausgeprägt. Oder täuscht dieser Eindruck?
Hilke Sauthof-Schäfer: Dieser Eindruck kann durchaus entstehen. Andererseits gibt es an vielen Stellen viel Bewegung, die natürlich noch unzureichend ist. Für die Gründe hatte ich ja schon einige Beispiele genannt. Den Zwiespalt zwischen moralischer Verantwortung gegenüber Patienten und Kollegen und Kolleginnen und der Fürsorge für die eigenen Interessen entscheiden viele Kolleginnen zu Gunsten der Patienten. Eigene Ansprüche werden immer wieder hinten angestellt.
Durch die Feststellung, dass sie als Beschäftigte nur noch als Kostenfaktor gesehen werden, ändert sich bei vielen Kolleginnen jedoch das Bewusstsein und die Bereitschaft auch für die eigenen Interessen einzutreten steigt.
Wir stehen vor der nächsten Tarifrunde im öffentlichen Dienst. Personalmindeststandards und Entlastung werden nächstes Jahr weiterhin Themen bleiben. Dies sind die Themen, die die Kolleginnen und Kollegen beschäftigen. Ich bin optimistisch, dass wir weiterhin zunehmend Beschäftigte in den Krankenhäusern mobilisieren können ihre Interessen wahrzunehmen und in die Auseinandersetzung zu gehen.