Jeder, der sich mit Kultur beschäftigt und weiß, was die Lektüre für den Menschen bedeutet, hat sich sicherlich schon einmal gefragt, ob in der heutigen Zeit ihr Schicksal gefährdet ist. Darüber sprach die kubanische Zeitung „Granma“ mit Dr. Juan Ramón Montaño, Berater der Leitung für die Ausbildung von Fachpersonal des Ministeriums für Hochschulbildung, der versicherte, dass auf jeden Fall „das was in Gefahr ist, die Lektüre der Literatur sei, der Erzählung, des Romans, der Poesie, weil es eine Epochenänderung gegeben hat, weil der Geschmack der Studenten sich verändert hat“.
Granma: Wird immer weniger gelesen oder ist das einfach nur eine Wahrnehmung?
Dr. Montaño: Ich glaube, es wird so viel wie nie zuvor gelesen und zwar in dem Maße, in dem sich die Alphabetisierungsprozesse entwickelt haben und sich das Bewusstsein durchgesetzt hat, dass die Lektüre für die Bildung des Bürgers wichtig ist, damit wir ein eigenes kritisches Denken bekommen. Die Leute lesen jetzt mehr. Die richtige Frage wäre: Was lesen sie?
Granma: Und was lesen sie?
Dr. Montaño: In Kuba sind die Zeitungen sofort ausverkauft, wenn sie am Kiosk ankommen. Es werden viele informative und Fachtexte gelesen, die normalerweise nicht dem Konzept entsprechen, was wir von Lektüre haben. Wir glauben, Lektüre sei nur, wenn ein Buch gelesen wird. Heute wird sehr viel über das Internet gelesen. Die Leute kommen an ihrem Arbeitsplatz an und das erste, was sie tun ist, ihren PC anzuwerfen und Mails zu lesen, Dokumente zu lesen. Das Problem besteht darin zu analysieren, auf welches Konzept von Lektüre wir uns beziehen, wenn wir glauben, sie sei in Gefahr.
Granma: Kann die digitale Technologie sie beeinträchtigen?
Dr. Montaño: Die Lektüre hat unter vielen Wechselfällen gelitten und ist ihnen auch aktuell ausgesetzt. Sie wurde beeinträchtigt, als das Radio, das Fernsehen, das Kino entstand … trotzdem glaube ich nicht, dass sie jemals sterben wird.
Granma: Wäre es angemessen zu spezifizieren, bevor man verabsolutiert, bevor man diesbezüglich Kriterien aufstellt?
Dr. Montaño: Man müsste das trennen und definieren, von welcher Lektüre wir sprechen. Man liest, wenn man einen Beipackzettel für ein Medikament lesen, wenn wir uns informieren, man liest in den sozialen Netzen.
Deswegen kann man nicht so einfach sagen, dass da eine Gefährdung besteht. Was man allerdings analysieren müsste, ist das Überleben des Lesens als ein Genießen, das des literarischen Textes. Hier glaube ich schon, dass dies aus verschiedenen Gründen in Gefahr ist. Zunächst einmal, wegen der exquisiten Natur der Literatur, aber auch im Falle unserer Gesellschaft, wegen der Fusionen, die es in der Lehre zwischen Sprache und Literatur gegeben hat. Die Linguistik hat den Literaturunterricht kolonisiert.
Granma: Werden Strategien zur Rettung des Spaßes an der Literatur angewandt?
Dr. Montaño: Es gibt eine Arbeit, die aus der Besorgnis der Förderer und Lehrer entstanden ist und ich glaube, in Kuba gibt es eine Strategie, die sehr viel mit einer günstigen Atmosphäre für die Lektüre zu tun hat und die wir in den Werbespots, auf der Buchmesse und in dem Diskurs erkennen können, der der Lektüre des literarischen Textes einen hohen Wert beimisst; ich glaube aber, dass die Bildungsprogramme Veränderungen erfahren müssten.
Granma: Was müsste getan werden, um diese Veränderungen zu erreichen?
Dr. Montaño: Ich glaube der Lehrstoff müsste attraktiver sein, den Schüler mehr gefangen nehmen. Wir brauchen einen Lehrer, der nicht nur das Lesen lehrt – in dem Sinne, das zu verstehen, was man liest – sondern was wir benötigen ist ein Zauberer des Wortes, dem es gelingt, die Schüler in das Lesen zu verlieben, ihn für das Lesen einzunehmen. Man muss die Auswahl der Texte für die Schule entsakralisieren.
Wir dürfen nicht auf bestimmte Texte festgelegt sein. Ich glaube, dass wir gleichzeitig mit der Liebe für die Klassiker auch das in die Schulprogramme einfügen müssen, das gerade aktuell veröffentlicht wird. Und das, was bereits veröffentlicht wurde, auch einige Bücher, die für eine Epoche stehen, die etwas mit inklusiven Gesellschaften zu tun haben, mit demjenigen, der anders ist und wie wir ihn sehen; die etwas zu tun haben mit existentiellen Konflikten, wie sie sich uns jeden Tag darstellen, wenn wir morgens aufwachen, um uns der Welt zu öffnen.