Was hinter dem Boykottaufruf des Westens steckt.

Winterspiele im Kalten Krieg

Die China-Kolumne

Der einstigen „einzigen Weltmacht“ geht’s dreckig. Der Ex-Hegemon und seine Fanclubs in Brüssel, Berlin, London, Tokio oder Neu-Delhi sind in einem bedauernswerten Zustand. Sie merken den eigenen Abstieg und den Aufstieg Chinas und seiner Partnerländer zur neuen Nummer 1, der mit friedlichen Mitteln nicht mehr aufzuhalten ist.

US-Präsident Joseph Biden ist heute zu Hause konfrontiert mit einer guten halben Nation von Realitätsverweigerern: Sie leugnen Klimakatastrophe, Corona-Virus, wissenschaftliche Erkenntnisse. Wir lesen Berichte von McKinsey und Hilfeschreie von Journalistinnen und Journalisten sogar in der „New York Times“: „Dieses Land ist ein Albtraum!“ Armut, Hunger, Frustration, Wut, Hass, Verzweiflung, Einschüchterungen und Gewalt breiten sich aus. Und Bidens Zustimmungswert liegt nur noch bei gut 40 Prozent. Bei den Vasallen in Kanada hungern die Inuit und in Australien ist dem Trump-Fan Morrison 2019 das halbe Land abgebrannt.

Da muss man echte Brechstangen finden, damit man die Welt aus den Angeln hebeln kann. Die hat man sich schon länger bereit gelegt: Im Westen die Ukraine, die polnischen, baltischen und andere Rechtsregierungen, deren Profil davon abhängt, dass sie lieber heute als morgen, mit den USA vorneweg, gegen Moskau marschieren können, während die NATO die ukrainische Armee seit Monaten an den Grenzen der unabhängigen Volksrepubliken Donezk und Lugansk auffährt. Im Baltikum fliegen die US-Atombomber 15 Kilometer von der russischen Grenze entfernt Scheinangriffe auf Petersburg und Moskau. Im Fernen Osten blockiert die NATO-Marine mit ihren Dauermanövern die Handelsstraßen des Ost- und Südchinesischen Meeres, üben sie Angriffe auf die Volksrepublik China wenige Meilen vor Chinas Stränden und fliegen Scheinangriffe. Hier heißt die Brechstange Taiwan.

Da kündigt man nach 50 Jahren den UN- und weltweiten Konsens von 1971 zur nationalen Einheit Chinas auf. Gutes altes bürgerliches Völkerrecht? Kümmert sie einen Fliegendreck. Regeln? Diplomatie? Anstand? Menschliche Werte? Nationale Unversehrtheit, territoriale Integrität? Nützt alles nur China! Also weg damit. Für das Imperium und seine Anhänger gelten Regeln und Werte nur so lange, wie kein ernsthafter systemischer Wettbewerber existiert. Bei der ersten ernsthaften Herausforderung werden die elementarsten menschlichen Werte mit Füßen getreten. Man bricht die eigenen früheren Regeln von Multilateralität und Vertragstreue.

Mit der Ukraine im Westen und Taiwan im Osten drückt man nun die Welt an den Rand des großen heißen Krieges. Der Kalte Krieg 2.0 ist schon nicht mehr kalt, auch nicht mehr nur hybrid, er ist näher am heißen denn je. Den will im Westen vermutlich keiner der wenigen noch verbliebenen denkenden Führer wirklich, und es wäre dem Imperium auch nicht dazu zu raten, denn es könnte ihn nicht mehr gewinnen. Das weiß jeder Militärtechniker und -stratege heute. Und Afghanistan wirkt nach bei der Weltbevölkerung: Der Imperator ist nackt, ein Verlierer gegen eine Truppe schlecht bewaffneter Sandalenträger.

Mit Taiwan hätten sie auf friedliche, regelbasierte und zivilisierte Art und Weise, das heißt in der UN, natürlich keine Chance, die Mehrheitsverhältnisse dort sind klar. Also bricht man die Zivilisation auf Vorrat weiter, next Stop Beijing, Olympische Spiele. Das Politpersonal von Washington und Followern fährt nicht hin: „Politischer Boykott“. Arme westliche Sportler! Aber es interessiert niemanden, so ähnlich hört man aus Peking, ob die Herren Johnson, Morrison oder Trudeau kommen. Richtig, diese Chaotentruppe, die zu Hause nichts gebacken bekommt, braucht die Welt bei den Olympischen Spielen nicht. Der große „Rest der Welt“ wird die Spiele sehen und genießen. UN-Generalsekretär Guterres wird da sein. Und die meisten anderen auch. Da hat das niedergehende Imperium keinen Einfluss mehr drauf.

Und Berlin? Wer setzt sich dort durch in den nächsten Tagen? Ein zwischen imperialen Anweisungen und Selbstständigkeitsphantasie hin- und hergerissener Scholz oder eine transatlantische Baerbock im Vorkriegsmodus? Ruft das deutsche Großkapital, das in China große Teile seiner Renditen macht, sein Politpersonal endlich mal zur Räson und pocht auf Pragmatismus und minimale Rationalität? Oder stellen sie sich schon auf Gürtel-enger-Schnallen und Abkopplung von China ein? Wer hat im Westen eigentlich noch den Mumm, sich gegen das hetzerische Trommelfeuer unter dieser medialen Käseglocke zu wehren und sich zu internationalem Anstand, humanen Minimalwerten und Erhalt der Zivilisation zu bekennen?

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"Winterspiele im Kalten Krieg", UZ vom 17. Dezember 2021



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