Der Prozess begann am 11. März 1872 in einem Saal des Bezirksgerichts in Leipzig. Gleich zu Beginn war das Gericht bemüht, die des Hochverrats angeklagten Arbeiterführer Bebel. Liebknecht und Hepner als Unruhestifter und Vaterlandsverräter zu brandmarken. Die Angeklagten sollten in den Augen der Öffentlichkeit als verantwortungslose Revoluzzer diskreditiert, zu kriminellen Elementen abgestempelt werden.
Wilhelm Liebknecht verwahrte sich dagegen mit einer eindrucksvollen Erklärung. „Ich bin kein Verschwörer von Profession, kein fahrender Landsknecht der Konspiration. Nennen Sie mich meinethalben einen Soldaten der Revolution“, erklärte der ehemalige Teilnehmer an der 48er-Revolution, der Londoner Emigrant, der langjährige Freund und Kampfgefährte von Marx und Engels seinen Richtern. Ebenso wie Bebel und Hepner bekannte er sich zu seinen Überzeugungen als Sozialist und Kommunist. Seit seiner Jugend habe ihm ein zwiefaches Ideal vorgeschwebt: „Das freie und einige Deutschland und die Emanzipation des arbeitenden Volkes, d. h. die Abschaffung der Klassenherrschaft, was gleichbedeutend ist mit der Befreiung der Menschheit. Für dieses Doppelziel habe ich nach besten Kräften gekämpft und für dieses Doppelziel werde ich kämpfen, solange ein Hauch in mir ist. Das will die Pflicht!“, setzte er mit besonderem Nachdruck hinzu.
Die drei angeklagten Arbeiterführer hatten vor ihren Parteimitgliedern und erst recht vor der Öffentlichkeit nichts zu verbergen. In jeder Nummer des „Volksstaat“ konnten sich 3 500 Abonnenten des Zentralorgans der Partei anhand eines authentischen Verhörprotokolls über die Verhandlungen vor dem Schwurgericht in Leipzig informieren.
Der Prozess fand im Schatten dreier bedeutender historischer Ereignisse statt. Das war erstens die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles am 18. Januar 1871. Das war zweitens der Pariser Kommuneaufstand vom März bis Mai 1871. Das war drittens die Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Frankreich im Mai 1871. Welche Frage wir auch im Zusammenhang mit dem Leipziger Hochverratsprozess stellen mögen, stets werden wir bei ihrer Beantwortung zu berücksichtigen haben, dass es nach der Reichsgründung und der Pariser Kommune der erste große Prozess gegen die revolutionäre Sozialdemokratie war.
In diesem Prozess saßen die Verbündeten der Versailler Regierung zu Gericht über die Kampfgefährten der Kommunarden. Was in Paris die Militärgerichte besorgten, das sollte in Leipzig wenigstens symbolisch erreicht werden.
So viel scheint sicher zu sein: Ohne das mutige Bekenntnis der Angeklagten und ihrer Gesinnungsgenossen zu dem Vermächtnis der Pariser Kommunarden hätte es in Deutschland keine revolutionäre Sozialdemokratie gegeben.
Aus Angeklagten werden Ankläger
Es könnte sein, dass Bebel und Liebknecht in ihren Erinnerungen an den Hochverratsprozess selbst dazu beigetragen haben, die Kompetenz und Autorität des Leipziger Bezirksgerichts ein wenig niedriger zu veranschlagen als es tatsächlich der Fall war. Gewiss, der Präsident des Schwurgerichts, der Bezirksgerichtsdirektor von Mücke aus Bautzen, war kein Geistesriese. Aber wann hätte es je für die Leitung eines politischen Prozesses einer juristischen Kapazität bedurft?
Bebel hat natürlich insofern wiederum recht mit seiner Feststellung, dass sich zu diesem Geschäft am besten ein gewissenloser Streber oder ein beschränkter Kopf eignen würde. Ein Tessendorf, der nur wenig später in Berlin von sich reden machen sollte, war Herr von Mücke natürlich nicht. Aber was von ihm erwartet wurde, das wusste er ebenso wie das Dutzend seiner Geschworenen, unter denen sich sieben Kaufleute, vier Gutsbesitzer und ein Oberförster befanden.
Außerdem gab es ein lebhaftes Interesse an der Verurteilung der Angeklagten bei den preußischen Behörden in Berlin. Nicht umsonst hielten sich deshalb der sächsische Justizminister Abeken und sein Generalstaatsanwalt Dr. Schwarze während des Prozesses wiederholt in Leipzig auf, um den Richtern, den Geschworenen und der Anklagevertretung das Rückgrat zu stärken.
Und schließlich gab es da noch den enormen Druck der lokalen und der überregionalen Presse, die bereits im Vorfeld des Prozesses die öffentliche Meinung im Sinne einer Vorverurteilung der Angeklagten manipulierten.
Wenn also vor den Schranken des Gerichts aus den Angeklagten vom ersten Verhandlungstag an Ankläger wurden, so lag das keineswegs an einer unzureichenden Besetzung des Gerichts oder gar einer lauen Haltung der bürgerlichen Presse. Der tiefere Grund für das politisch-moralische Scheitern der Anklage lag in der Sache selbst. In dem untauglichen Versuch, in der Gestalt der Angeklagten den Sozialismus verurteilen zu wollen.
Aber auch das ist, genau genommen, noch nicht die ganze Wahrheit. Die drei des Hochverrats angeklagten Arbeiterführer haben selbst das meiste dazu beigetragen, die Anklagebank in eine Tribüne für die Verbreitung ihrer Weltanschauung zu verwandeln. Nach Liebknechts Meinung bot der Leipziger Prozess zum ersten Mal der noch in den Kinderschuhen steckenden Arbeiterbewegung die Möglichkeit. dass „der demokratische und revolutionäre, in der Sozialdemokratischen Partei zu Fleisch und Bein gewordene Sozialismus sich in seiner ganzen Gestalt und von allen Seiten dem Volke zeigen konnte“.
Bebel, Liebknecht und Hepner haben diese Chance genutzt. Das Prozessprotokoll vermittelt ein eindrucksvolles Bild von der überzeugenden Kraft ihrer Argumente, aber auch von der Leidenschaft, mit der sie ihre politischen Auffassungen offensiv verteidigt haben. Ohne Wenn und Aber bekannten sie sich zum „Manifest der Kommunistischen Partei“, der Geburtsurkunde des wissenschaftlichen Sozialismus. Sie waren stolz darauf, Mitglieder der von Marx und Engels gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation zu sein, deren Ziele in das Programm ihrer Eisenacher Partei Eingang gefunden hatten.
Schon die Verlesung dieser und anderer Dokumente ließ den einen oder anderen Prozessbeobachter aufhorchen. Stand doch dieses wissenschaftlich begründete, politisch wie moralisch gerechtfertigte Bild von den sozialistischen Bestrebungen der Arbeiterklasse in einem krassen Widerspruch zu den Lügen und Verleumdungen, die Tag für Tag über das angeblich so gefährliche Treiben der Angeklagten verbreitet wurden.
Liebknecht, Bebel und Hepner bekannten freimütig, dass sie und ihre Anhänger mit den in Deutschland herrschenden politischen und sozialen Zuständen nicht einverstanden sind. Sie zeigten sich vor den Schranken des Gerichts als entschiedene Gegner des Chauvinismus und des Militarismus, der durch die soeben erfolgte Annexion Elsass-Lothringens den Frieden in Europa bedrohte. Sie lehnten die Monarchie ab und wünschten sich eine Republik. Aber nicht irgendeine blaue Republik, wie sie in Frankreich unter Thiers und Favre zur Macht gekommen war. Ihre Vision war eine soziale Republik von der Art, wie sie die Kommunarden unter der roten Fahne auf dem Pariser Rathaus proklamiert und damit ein welthistorisches Zeichen gesetzt hatten.
Liebknecht, Bebel und Hepner machten kein Hehl daraus, dass sie entschiedene Gegner des Kapitalismus sind. Sie standen zu der Forderung des Eisenacher Programms, dass der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klasse zur Abschaffung der Klassenherrschaft und zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft führen muss
Ob die Hüter der bürgerlichen Ordnung es wollten oder nicht, sie konnten es einfach nicht verhindern, dass durch die prinzipienfeste Haltung der Angeklagten die Richter, der Staatsanwalt, die Geschworenen und alle, die sich dem gesellschaftlichen Fortschritt widersetzten, selbst auf die Anklagebank der Geschichte gerieten. Noch zwei Jahrzehnte später resümierte Liebknecht diesen objektiven Tatbestand in seiner Einleitung zur Neuauflage des Berichts über den Leipziger Hochverratsprozess mit den Worten: „Die Erhaltung der bestehenden Ordnung der Dinge ist wirtschaftlich und politisch unvereinbar mit der Erhaltung unserer Kultur … Der Kapitalismus stellt die menschliche Gesellschaft vor die Wahl: Untergang oder Sozialismus.“
Sicher war die Eisenacher Partei drei Jahre nach ihrer Gründung (1869) noch eine kleine Partei. Aber wenn die drei vor ihren Richtern so couragiert auftreten konnten, kam es nicht allein auf die Zahl der Mitglieder an, sondern vor allem darauf. dass sie sich auf die Solidarität ihrer etwa 10 000 Anhänger verlassen konnten. Für diese waren die Angeklagten nicht irgendwelche Gallionsfiguren, die im Reichstag oder in den Spalten des „Volksstaat“ als Arbeiterführer von sich reden machten. Für sie, die fortgeschrittenen Arbeiter in Sachsen, in Preußen, in Bayern und in den anderen deutschen Ländern, waren Bebel und Liebknecht im Verlaufe weniger Jahre zu Volkstribunen geworden. Männer, denen sie in ihrem Kampf um ihre Klasseninteressen ihr ganzes Vertrauen schenkten, auf die sie aber auch mit Recht stolz sein durften.
Am 26. März hat das Schwurgericht sein Urteil gesprochen: Bebel und Liebknecht zwei Jahre Festungshaft, Hepner wurde von der Anklage des Hochverrats freigesprochen. Am 27. erklärten die Verurteilten ihren Freunden und Kampfgefährten in einer ersten Stellungnahme: „Bürgerliche Geschworene haben uns verurteilt … An Euch, Parteigenossen, ist es nun, auf das Urteil zu antworten, indem Ihr Eure Anstrengungen für die Ausbreitung unserer Partei verdoppelt.“
Am 28. März begrüßten die Leipziger Genossen Bebel und Liebknecht auf einer großen Volksversammlung. Der zur Überwachung abkommandierte Gendarm betonte in seinem Bericht, dass er einen so begeisterten Empfang wie bei dem Eintritt der beiden als Hochverräter abgeurteilten Arbeiterführer „noch nicht gehört und gesehen habe“.Dass sich während der Versammlung viele Arbeiter in Listen eingetragen hatten, um sich der Sozialdemokratischen Partei anzuschließen, auch darüber wusste der Gendarm Franz Tischer an seinen Vorgesetzten zu berichten.
Proteste gegen das Urteil gab es in nahezu allen Industriestädten, in denen die Arbeiterbewegung bereits Fuß gefasst hatte. Sogar im fernen Ostpreußen, dieser Domäne des reaktionären Junkertums. Dort trat ein Mann an die Öffentlichkeit, der bereits aus den politischen Kämpfen der 40er Jahre als ein zuverlässiger Sachwalter der Demokratie bekannt war. „Die Verhandlungen in dem Hochverratsprozess gegen Liebknecht, Bebel und Genossen bestimmen mich der sozialdemokratischen Arbeiter-Partei beizutreten“, schrieb Dr. Johann Jacoby aus Königsberg.
Lob und Anerkennung auch von den Freunden im Londoner Generalrat. „Wegen Eures Auftretens vor Gericht machen wir Euch alle unser Kompliment. Es war nötig …, dass dem Pack einmal die Stirn geboten wurde, und das habt Ihr redlich getan“, lesen wir in dem Brief, den Friedrich Engels am 23. April 1872 an Wilhelm Liebknecht geschrieben hat.
Der Hochverratsprozess: Erster Schritt zum Sozialistengesetz
Am 4. April 1872 unterbreitete Bismarck dem Kaiser einen Plan zur „Lösung der Arbeiterfrage“ in Deutschland. Sein Bericht gibt Auskunft über die Auffassungen des Kanzlers zur Rolle der Arbeiterbewegung in Staat und Gesellschaft.
„Die Internationale ist eine Welt-Krankheitserscheinung: Die besitzlosen Klassen streben auf Kosten der Besitzenden ihre Lebensansprüche zu steigern“, stellt Bismarck einleitend in seinem Bericht fest um dann folgendes Rezept anzubieten: „Heilung nicht durch Repressivmaßnahmen, sondern durch Hebung der Erwerbsfähigkeit der Besitzlosen. Die Regierung muss gewaltsamen Angriff auf den Bestand der Besitzer abwehren. Dazu bedarf es geeigneter Gesetze. Nachprüfung, ob die einschlägigen Bestimmungen der Strafgesetzbücher genügen.“
Neben richtigen Einsichten zeigen Bismarcks Vorschläge vor allem die objektiven Schranken einer unter junkerlich-kapitalistischen Bedingungen verordneten Arbeiterpolitik. Früher als mancher andere hatte er erkannt, dass durch die Pariser Kommune auch in Deutschland die soziale Stellung der Arbeiterklasse zu einem brisanten Thema geworden war. Jedoch standen in seiner praktischen Politik die repressiven Maßnahmen gegen die Arbeiterbewegung immer an der ersten Stelle. Maßnahmen zur Hebung der materiellen Lage der Arbeiterklasse scheiterten in der Regel an dem Profitstreben der herrschenden Klassen.
Seit November 1871 arbeitete im Preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe eine Expertenkommission in Bismarcks Auftrag an Vorschlägen zur Lösung der Arbeiterfrage. Die Regierung müsse sich zwar der berechtigten Forderungen der Arbeiter annehmen, forderte der Kanzler in seiner Instruktion für die Tätigkeit der Kommissionsmitglieder. Zugleich, fügte er aber mit Nachdruck hinzu, müsse man mit allen Mitteln verhindern, dass Agitatoren der Internationale wie beispielsweise Bebel und Liebknecht – weiterhin einen entscheidenden Einfluss auf die Arbeiterbewegung ausüben. Diese Elemente müsse man von ihren Anhängern isolieren – ein Wunsch, dem das Leipziger Bezirksgericht ganz im Sinne des Kanzlers entsprochen hat.
Obwohl Polizei und Gerichte sich die größte Mühe gaben, Redakteure und Agitatoren der Eisenacher Partei mit Haft- und Geldstrafen zu belegen, blieben die Erfolge minimal. Als man Bebel das Reichstagsmandat aberkannte, schickten ihn seine Wähler mit mehr als 10 000 Stimmen erneut in den Reichstag, während sich sein nationalliberaler Gegenkandidat mit weniger als 4 000 Stimmen begnügen musste. Auch die von den Machthabern bisher mit Erfolg genutzte Spaltung der Arbeiterbewegung verlor zusehends an Wirkung. Eisenacher und Lassalleaner erkannten mehr und mehr ihre Gemeinsamkeiten im Kampf um ihre Klasseninteressen.
Nachdem es den Behörden nicht gelungen war, die Sozialdemokratie durch eine massive Verfolgung ihrer Führungskader zu zerschlagen, ging der preußisch-deutsche Polizeistaat einen Schritt weiter. Es begann die Ära Tessendorf. Bismarck hatte den schneidigen Staatsanwalt von Magdeburg nach Berlin geholt, um mit einem verschärften Einsatz der Justiz die revolutionäre Arbeiterbewegung in den Griff zu bekommen. In der Ära Tessendorf wurden nicht nur wie bisher aktive Parteimitglieder abgeurteilt, sondern ganze Mitgliedschaften verboten. Und das Verbot richtete sich nicht auch gegen die lokalen Vereinigungen der Lassalleaner, sogar Gewerkschaftsorganisationen waren davon betroffen.
Aber auch diese Eskalation repressiver Staatsgewalt gegenüber der Sozialdemokratie erbrachte nicht den gewünschten Erfolg. Die Vereinigung der Eisenacher und der Lassalleaner im Mai 1875 – das war die Antwort der Arbeiter auf die Verfolgungswut der herrschenden Klassen. Waren bei den Wahlen im Jahre 1874 neun Arbeitervertreter in den Reichstag eingezogen, so waren es 1877 bereits zwölf. Die Sozialdemokraten waren die viertstärkste Partei in Deutschland geworden.
Die Arbeiterbewegung hatte einen solchen Aufschwung genommen, dass Bismarck nur noch in einem Verbot den Ausweg aus der Krise zu sehen glaubte. Die Ausgrenzung der Sozialdemokraten, ihre Verteuflung und Kriminalisierung – das war das Ziel des Sozialistengesetzes. Aber auch diese schwere Prüfung hat die Partei Bebels und Liebknechts bestanden. Bismarcks so viel gepriesene Sozialgesetzgebung, die um den Preis politischer Entmündigung und Verfolgung die Arbeiter ködern sollte, beantworteten die Sozialdemokraten mit dem stolzen Wort: „Das Zuckerbrot verachten wir, die Peitsche, die zerbrechen wir!“
Durch die Redaktion gekürzter Auszug aus dem Vortrag im Marxistischen Arbeitskreis für die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am 20. März 1997 / Geschichtskorrespondenz Juli 1997
Der Historiker Prof. Dr. Erich Kundel gehörte zu den Begründern und Herausgebern der Roten Kalenderblätter der DKP Brandenburg.