Das Fortschreiten der Zeit bringt es mit sich, dass die Qualität der überlieferten Bilder zeitgeschichtlicher Ereignisse immer besser wird. Von Geschehnissen, die sich vor 30 Jahren ereignet haben, existieren Videoaufnahmen, die in Bild- und Tonqualität schon ziemlich gegenwärtig sind. Kein Schwarz-Weiß sorgt daher für das automatische Gefühl historischer Distanz, wenn man sich die Bilder vom Pogrom in Rostock-Lichtenhagen ansieht. Das ist beklemmend – umso mehr, als man weiß, dass die Zeit, aus der diese Bilder stammen und die diese Geschehnisse möglich gemacht hat, alles andere als vorbei ist. Keine Stunde Null, keine „Wende“, kein Staatsstreich und erst recht keine Revolution trennt uns von dem, was in diesen Augusttagen im Jahr 1992 passiert ist. Und wäre der Begriff nicht längst abgenutzt und ausgeleert von den immer gleichen Politikerreden zu jedem traurigen Anlass, man müsste es sagen: diese Bilder machen betroffen. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie betreffen uns.
Der Anblick viel zu vieler aufgeputschter junger Männer, die über vier Tage lang zum nächsten und nächsten Wurf ausholen mit Steinen und Brandflaschen, Beifall spendender Anwohner, untätiger, aber auch überforderter Polizisten, feixender Nazikader und angsterfüllter Bewohner des angegriffenen Sonnenblumenhauses – dieser Anblick erfüllt den Zuschauer mit Abscheu und zugleich – wie meist bei der Konfrontation mit zunächst Unfassbarem – mit der Frage nach dem Warum.
Vertuschung und „Aufarbeitung“
In den offiziellen bürgerlichen Verlautbarungen ist diese Frage schnell geklärt. Vom ersten Reflex, das Geschehen möglichst kleinzureden, der Behauptung sogar, die Lage sei jederzeit unter Kontrolle gewesen, hat man ziemlich schnell Abstand genommen. Stattdessen dominiert die mit Blick auf den deutschen Faschismus bewährte Manier der „Aufarbeitung“, hier nun einfach übertragen auf ein zeitlich näher gelegenes Ereignis. Zum 30. Jahrestag erklärte auf der Homepage der Stadt Rostock Dr. Chris von Wrycz-Rekowski, Erster Stellvertreter des Oberbürgermeisters, das Pogrom zum „Teil unserer Stadtgeschichte“, nicht ohne im nächsten Absatz zu versichern: „Das heutige Lichtenhagen ist anders als vor 30 Jahren.“ Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird, wenn er am 25. August den Ort des Geschehens besucht, sicher in die gleiche Kerbe schlagen, denn scheinbar kein Ereignis war je so schlimm, dass das Land und „die Demokratie“ nicht noch daraus gelernt hätten und daran gewachsen wären. Die „drängende Frage nach den Umständen, die rassistische Hetze und Gewalt ermöglichen“, wie von Wrycz-Rekowski es formuliert, fehlt dabei keineswegs. Liegt die Antwort doch meist ganz auf der Linie des Fortschiebens der Verantwortung für das Geschehene. Diese Argumentationslinie geht kurz gesagt so: Während sich in Westdeutschland nach 1945 eine vorbildliche „Reeducation“ hin zu Demokratie und Toleranz zugetragen habe, sei der östliche Teil direkt unter die nächste „totalitäre“ Herrschaft geraten. Diese habe zwar den Antifaschismus vor sich hergetragen, diesen aber gerade nicht zur tatsächlichen Haltung ihrer Bevölkerung gemacht, sondern ihn lediglich von oben herab verordnet. Mit dieser Herleitung wird dann die DDR zur Schuldigen am Pogrom von Rostock-Lichtenhagen gemacht, denn in ihr ist impliziert, dass es ja kein Wunder sei, wenn sich 40 Jahre lang angestauter Fremdenhass, der in der „autoritären Diktatur“ kein Ventil habe finden dürfen, nach Wegfall aller Beschränkungen nun auch „endlich“ entladen habe. Nach der Verantwortung der Bundesrepublik, zu deren Staatsgebiet Rostock schließlich fast zwei Jahre vor dem Pogrom beigetreten wurde, muss man so zum Glück nicht mehr fragen. Und schweigen kann man dann auch davon, dass fremdenfeindliche Gewalt eben niemals ein rein ostdeutsches, sondern immer schon auch ein westdeutsches Phänomen war und weiterhin ist – erinnert sei hier nur an die annähernd zeitgleich mit dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen verübten Brandanschläge von Mölln und Solingen.
Soziale Ursachen: Arbeitslosigkeit und Verarmung
Wer einer Erklärung tatsächlich näher kommen will, ist gut beraten, sich die konkrete Situation gleich nach der „Wende“ vor Augen zu führen. Die Konterrevolution hatte Millionen von Menschen buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Treuhandanstalt hatte bei ihren Bemühungen um Privatisierung und Deindustrialisierung Ostdeutschlands ganze Arbeit geleistet. Rostock, das „Tor zu den Weltmeeren“, traf es hart. Die Werften wurden von der Treuhand privatisiert, der Hafen kommunalisiert. Das alles ging – wie überall, wo so verfahren wurde – mit einem immensen Verlust an Arbeitsplätzen einher. Vor der „Wende“ waren in den maritimen Kombinaten noch etwa 55.000 Menschen beschäftigt, schon Anfang 1992 waren es nur noch rund 22.000. Zu diesem Zeitpunkt waren weniger als 60 Prozent der Erwerbsfähigen in Rostock noch in regulärer Beschäftigung. Rostocks Bevölkerung verarmte und die Stadt selbst, bis 1988 die am schnellsten wachsende Großstadt der DDR, schrumpfte. Bis Ende 1991 hatten schon fast 4 Prozent der Einwohner, beinahe 10.000 Menschen, der Stadt den Rücken gekehrt. Von dieser Situation betroffen waren natürlich auch die ehemaligen vietnamesischen Vertragsarbeiter, die im Hafen gearbeitet hatten und von denen 1990 fast alle entlassen worden waren. 368 von ihnen wohnten 1992 noch in Rostock.
Menschenunwürdige Zustände
Die Ausschreitungen, die den Stadtteil Lichtenhagen vom 22. bis zum 26. August erschütterten, entzündeten sich allerdings nicht an der Anwesenheit der Vietnamesen, die im Laufe der Angriffe jedoch auch ins Visier gerieten. Vielmehr war – neben ihnen – im zu trauriger Berühmtheit gekommenen Sonnenblumenhaus auch die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (Zast) für Mecklenburg-Vorpommern untergebracht. Diese Aufnahmestelle, die jeder Asylsuchende durchlaufen musste, der nach Mecklenburg-Vorpommern kam, war im August 1992 bereits über ein Jahr lang hoffnungslos überlaufen. Die 250 bis 300 Betten reichten bei Weitem nicht für täglich 50 bis 80 Neuankömmlinge, die die Konterrevolution in Osteuropa und die sie begleitenden Kriege dorthin verschlagen hatten und die dort auf ihre Verfahren warten mussten. Bis zu 300 Personen mussten ständig vor der Aufnahmestelle kampieren, die Stadt weigerte sich, etwas für sie zu tun – man wollte die Zustände, die ein Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der UN schon 1991 nach einem Besuch für unhaltbar erklärte, nicht „legalisieren“. Nicht einmal Toiletten wurden aufgestellt. Eine für die Asylsuchenden unerträgliche und zugleich auch eine die Anwohner belastende Situation. Immer wieder forderten diese die Stadtverwaltung auf, Abhilfe zu schaffen, immer wieder wurden sie negativ beschieden. Wut staute sich an. Die „Asylflut“, von der in diesen Tagen Politiker und Medien in immer schrilleren Tönen schwadronierten, schien den Bewohnern Lichtenhagens nun direkt vor ihre Haustüren zu schwappen. Das Ganze zumal von Westdeutschen gefördert, denn wie überall im Osten war auch in Rostock das leitende Personal in Politik, Verwaltung und Polizei in Kolonialmanier aus dem Westen importiert worden.
Der Übergang zur offenen Gewalt
Und noch mehr kam aus dem Westen: Organisierte Neofaschisten witterten Morgenluft, stießen ins gleiche Horn wie „Bild“ und Co. und betätigten sich überdies als Antreiber der Entwicklung hin zur Eskalation. Der Nazi-Anwalt Michael Andrejewski, später NPD-Landtagsmitglied in Mecklenburg-Vorpommern, zeichnete verantwortlich für ein Flugblatt der Initiative „Rostock bleibt deutsch“, das 100.000-mal in Rostock und Umgebung verteilt wurde. Eine von der DVU gegründete Bürgerinitiative Lichtenhagen kündigte an, das Problem „selbst in die Hand zu nehmen“. Die absichtliche Untätigkeit der staatlichen Stellen wurde ihnen von den Faschisten als Versagen vorgeworfen – und als Konsequenz daraus wurden die Anwohner dazu aufgehetzt, selbst tätig zu werden.
Man könnte die Vorgänge im Vorfeld der Ausschreitungen schon einen klassischen Weg zum Pogrom nennen und man darf bei alledem bezweifeln, dass das Wort „spontan“ noch der angemessene Ausdruck ist für den dann am Samstag, den 22. August 1992, tatsächlich erfolgten Übergang zur offenen Gewalt. Ultimaten und Aufrufe zur Gewalt kursierten im Vorfeld des Wochenendes im Stadtteil, aber schon ein Jahr zuvor, im Juli 1991, hatte Oberbürgermeister Klaus Kilimann in einem Schreiben an Innenminister Georg Diederich davor gewarnt, dass „schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen“ nicht mehr auszuschließen seien. Wirklich überrascht durfte also niemand gewesen sein, als es dann losging.
Es war ein explosives Gemisch, das man dort in Lichtenhagen zusammengebraut hatte: Von der BRD besiegte, ökonomisch ruinierte, politisch gedemütigte und fremdbestimmte Bewohner, im Zuge der gesamtdeutsch geführten „Asyldebatte“ mit rassistischen Argumenten in Zeitungen, Funk und Fernsehen und von Politikern dauerbeschallt, trafen in dem dicht besiedelten Stadtteil auf hunderte von den Folgen der Konterrevolution entwurzelte und in menschenunwürdige Zustände gezwungene Asylsuchende, an denen sich die empfundene Wut und Ohnmacht austoben konnte. Besonders hervor taten sich im Zuge der Ausschreitungen junge Männer, oft Skinheads oder Hooligans, denen mit dem Staat DDR in ihrem jungen Leben zugleich ein Feindbild wie auch die sicher geglaubten Zukunftsperspektiven, Strukturen und Autoritäten abhandengekommen waren. Doch bereits am Samstag kamen führende westdeutsche Nazikader mitsamt Anhang hinzu, die nach Kräften mitmischten. Der Hamburger Faschist Christian Worch etwa koordinierte die Angriffe per Walkie-Talkie vom Auto aus.
Eine wesentliche Rolle spielte bei alledem die zeitweise völlige Abwesenheit staatlicher Funktionsträger. Eine ganze Riege politisch Verantwortlicher hatte sich am Freitag wie gewöhnlich für das Wochenende nach Hause zu ihren Familien in Westdeutschland begeben. Der Staatssekretär im Innenministerium Klaus Baltzer, der Abteilungsleiter Öffentliche Sicherheit Olaf von Brevern, der Abteilungsleiter für Ausländerfragen im Innenministerium und zum damaligen Zeitpunkt zugleich Ausländerbeauftragte der Landesregierung Winfried Rusch, der Leiter des Landespolizeiamtes Hans-Heinrich Heinsen, der Chef der Polizeidirektion Rostock Siegfried Kordus sowie der Einsatzleiter Jürgen Deckert waren nicht vor Ort verfügbar, als das Pogrom seinen Lauf nahm. Die eingesetzten Polizeikräfte waren zahlenmäßig völlig unzureichend, um der Situation Herr zu werden. Sie wurden selbst angegriffen, waren überfordert und erhielten im Laufe der Auseinandersetzungen am Montagabend einen Rückzugsbefehl, der das Sonnenblumenhaus und seine Bewohner schutzlos zurückließ. Eine johlende Menge nutzte diese Gelegenheit, drang in das Gebäude ein und setzte es in Brand. Die darin verbliebenen Vertragsarbeiter und ein mit eingeschlossenes ZDF-Fernsehteam konnten sich nur knapp durch das Aufbrechen einer Tür auf das Dach und über dieses in ein Nachbarhaus retten. Dass niemand gestorben ist in diesen Augusttagen – reines Glück. Rosemarie Melzer, die Nachbarin, die den Davongekommenen die Tür öffnete, erinnert sich in der „Zeit“ daran: „Irgendwann klingelte es bei uns. Zwölf Erwachsene und noch mehr Kinder. Sie waren vor den Flammen geflüchtet und über die Fensterluke von einem Dach aufs andere geklettert. Dann das Treppenhaus runter, in jeder Etage hatten sie geklingelt. Keiner öffnete. Sie mussten bis zu uns, ins erste Geschoss. Von den Nachbarn sprach später niemand darüber. Es wurde einfach weggeschwiegen.“
Es ist vor allem auch dieses Verhalten der „normalen“ Anwohner, von stillschweigender Duldung bis zum tosenden Applaus, das mit am meisten irritiert und das vor allem in der Linken dazu führt, die alte These vom seinem Wesen nach reaktionären, rassistischen Volksmob zu beleben, wenn es darum geht, die Vorgänge zu erklären. Natürlich: „Rassismus tötet“. Und genauso klar: Rassisten sind eben nicht nur die jungen Männer mit Glatze und Springerstiefeln gewesen. Dennoch greift die Erklärung zu kurz, wenn sie nicht weiter danach fragt, auf welchen Boden Rassismus als Denk- und Welterklärungsmuster eigentlich fallen muss, um diese Früchte zu tragen. Und sie geht sogar fehl, wenn sie Rassismus zum Wesensmerkmal des (ostdeutschen) „Pöbels“ erklären und die Sache dann damit erledigen will – so wird daraus letztlich Sozialchauvinismus. Man muss sich schon den Rahmen ansehen, innerhalb dessen die Menschen damals gehandelt haben und den sie nicht selbst gesetzt haben. Was natürlich nicht bedeuten kann, rassistische Gewalt und ihre Unterstützung zu entschuldigen – aber die soziale und politische Situation wurde und wird nun einmal andernorts bestimmt.
De-facto-Abschaffung des Asylrechts
Man kann an den Konsequenzen, die die Politik aus den Ereignissen in Rostock-Lichtenhagen gezogen hat, ablesen, dass die Herbeiführung dieser spezifischen Situation möglicherweise nicht völlig absichtslos erfolgte, sie aber auf jeden Fall sofort dankbar aufgegriffen und politisch umgemünzt wurde in das, was dann als „Asylkompromiss“ bezeichnet wurde und was die De-facto-Abschaffung des Asylrechts in Deutschland bedeutete. Berndt Seite, der damalige Ministerpräsident Mecklenburg-Vorpommerns, erklärte nur wenige Tage nach den Ausschreitungen: „Die Vorfälle der vergangenen Tage machen deutlich, dass eine Ergänzung des Asylrechts dringend erforderlich ist, weil die Bevölkerung durch den ungebremsten Zustrom von Asylanten überfordert wird.“ Auf dieser Linie folgte ihm die Bundespolitik und es passt zu dieser aus den Ereignissen gezogenen Schlussfolgerung, dass nur vier Täter tatsächlich ins Gefängnis mussten. Zynisch gesagt könnte man darin das Signal sehen: Ein Pogrom muss und soll möglich bleiben, wo es von politischem Nutzen ist.
Und von den Verhältnissen, in denen so kalkuliert wird, sind wir heute genauso betroffen wie 1992.