Alles muss weg“ war das Motto der Konterrevolution. Sie hatte die Machtfrage am 3. Oktober 1990 für sich entschieden, wie wir in Teil 2 dargestellt haben. Sie nutzte den Hegemonieverlust der Kommunistischen Parteien aus, um die sozialistischen Staaten und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Ländern loszuwerden.
Die Treuhandanstalt warf das Volkseigentum der DDR den Kapitalisten zum Fraß vor. Diese entledigten sich der Konkurrenz, kauften Unternehmen und Industrieanlagen zum Spottpreis und sicherten sich Marktanteile in den sozialistischen Ländern durch Übernahmen. Waren in den Betrieben der Treuhand 1990 noch 4,1 Millionen Menschen beschäftigt, verloren in den kommenden Jahren zwei Drittel ihre Arbeitsstelle. 85 Prozent des Volksvermögens ging an westdeutsche Eigentümer.
Die Behandlung der sogenannten Altschulden besorgte den Rest. Im Kapitalismus verleiht man etwas von seinem Geld an andere zu bestimmten Konditionen. Der vom sozialistischen Staat gewährte Kredit diente zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs innerhalb eines geschlossenen Wirtschaftssystems. Der Staat investierte im Rahmen der Planung in seine Unternehmen. Es gab keine Schuldner und Gläubiger, die sogenannten „Kreditschulden“ waren keine echten Schulden, sondern Verrechnungsposten im Rahmen der Bilanzierung. Trotzdem wurden sie mit dem „Einigungsvertrag“ 1:2 getauscht. Das bedeutete eine Verdopplung ihres Wertes. Einen Großteil dieser „Schulden“ konnten die Betriebe nicht zurückzahlen. Das kam einem Todesurteil gleich.
Es begann eine Etappe, in der die DDR-Bürger versuchten, ihre Betriebe zu verteidigen. Stefan Bollinger schätzt ein: „Trotz ihrer bisherigen Fehlinterpretationen der Kräfteverhältnisse, ihrem Verzicht auf eine eigenständige DDR begriffen sie, dass sie sich gegen die ökonomische Übernahme und Zerstörung aus dem Westen wehren müssen.“ Die erbittertste Auseinandersetzung war 1993 der Kampf der Kalikumpel aus Bischofferode. Es gab einen Hungerstreik, einen Marsch nach Berlin und die Betriebsbesetzung während laufender Produktion. Hunderttausende streikten in diesen Jahren. Erfolg hatten sie nicht. Das prägt. Die von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ blieben leere Versprechungen.
Kolonialisierung
Zur weiteren Zerstörung der DDR ging die Konterrevolution in Kolonialherrenmanier vor. Unter dem unbestimmten, aber vielsagenden Wort „Systemnähe“ entledigte man sich fast der kompletten Führung in Verwaltung, Polizei, Justiz, Bildung, Wissenschaft und Kultur. Ersetzt wurden renommierte Professoren, angesehene Künstler oder auch erfahrene Kommunalpolitiker zumeist durch Personal, das im Westen kaum Aufstiegschancen gehabt hätte.
Gemessen an ihrer Einwohnerzahl hat die DDR doppelt so viel Geld für Kultur ausgegeben wie die Bundesrepublik. Der Zugang zur Kultur war unabhängig vom Geldbeutel. Es gab sehr viele freischaffende Künstler und Schriftsteller. Die Kultur in der DDR war ein wichtiger Teil der sozialen Identität ihrer Bürger, ein wichtiger Teil ihres Lebens. Es gab angesehene DDR-Schauspieler, die vom Westtheater nichts wissen wollten, weil sie erlebt hatten, wie man künstlerisch hochwertiges Theater macht. Das DDR-Programm der Kunst und Kultur verschwand zunehmend von der Bildfläche, existierte aber nicht selten im „Untergrund“ weiter, war trotzig und kämpferisch. Heute wird es wieder nachgefragt.
Fast drei Viertel der DDR-Wissenschaftler wurden aus ihren Berufen verdrängt. Professoren, international anerkannte Spezialisten, wurden von akademischem Westimport „evaluiert“. Wer bleiben wollte, musste sich diesen anpassen. Georg Fülberth schrieb: „Als der westdeutsche Kapitalismus die DDR abräumte, fand ein rabiater Kahlschlag in der ostdeutschen Intelligenz statt. Im Ergebnis war es die breiteste deutsche Berufsverbotswelle seit dem Faschismus, dem Umfang nach sogar größer als damals (wenngleich ohne die mörderischen Folgen). Die ‚abgewickelten‘ Kolleginnen und Kollegen im Osten waren schutzlos. Kaum jemand von uns im Westen hat sich um sie gekümmert. Da ist bei uns wohl etwas schief gelaufen. So viel zum Land der Freiheit.“
Delegitimierung des Sozialismus
Ideologisch unterfüttert wurde die Zerstörung der DDR mit medialer und wissenschaftlicher Propaganda. Die Wirtschaft sei marode gewesen, die Planung habe sie zu Grunde gerichtet, den Verlust der Arbeitsplätze hätte der Sozialismus zu verantworten. Der Antifaschismus der DDR sei verordnet gewesen, deshalb gäbe es ein Problem mit Nazis. Die Aktivitäten westdeutscher Faschisten in Ostdeutschland in den 90ern, wie der Umgang der Geheimdienste mit ihnen, werden verschwiegen. Der positive Bezug der DDR auf den Nationenbegriff wird als Nationalismus umgedeutet. Zusätzlich speist eine oberflächliche Betrachtung von Erscheinungen die Totalitarismustheorie. Mit dieser Scheinwissenschaft wird die Gleichsetzung von Faschismus und Sozialismus begründet. Die jüngere Geschichte werde von zwei deutschen Diktaturen bestimmt, von denen nur die DDR als „Unrechtsstaat“ bezeichnet wird. Die BRD wird stillschweigend als Maßstab der Demokratie gesetzt.
Ein wichtiger Baustein war die juristische Verfolgung der Todesfälle an der „Innerdeutschen Grenze“, die in Wahrheit die Staatsgrenze zwischen der BRD und der DDR gewesen ist. Vom einfachen Grenzsoldaten bis zu Erich Honecker wurden Menschen stellvertretend für die DDR vor Gericht gestellt. Vorgeworfen wurden ihnen Handlungen, die im Einklang mit den Gesetzen eines souveränen Staates erfolgten. Der linksliberale „Spiegel“ mauserte sich zum Einpeitscher der Konterrevolution: „Egal, ob das greise Ex-Oberhaupt dieses absurden Spitzelstaates noch je nach Moabit kommt oder woanders seine Tage beschließt – die DDR wird noch für viele Jahre wie ein Bleigewicht auf den Deutschen lasten. Und zwar am allerwenigsten wegen der materiellen Verheerungen, die sie angerichtet hat, so ungeheuer diese – für Friedenszeiten – auch sind.“
Daneben spielt bis heute die Hexenjagd auf Menschen eine Rolle, die tatsächlich oder vermeintlich im Dienst des Ministeriums für Staatssicherheit standen. Nach wie vor ist das eine Begründung für Rentenstrafrecht und Berufsverbot. Auch das Alltagsbewusstsein der DDR-Bevölkerung wurde modelliert. Werte wie Solidarität, Sicherheit, Frieden und Völkerverständigung wurden aus ihren Zusammenhängen gerissen und mit antikommunistischen Inhalten gefüllt. Immer wieder kamen rassistische und ausländerfeindliche Parolen zum Einsatz. Daneben wurde auf die „Deutschland-Karte“ gesetzt, dass „wir Deutschen ja zusammen halten müssen“.
Die Stoßrichtung der Konterrevolution gab der damalige Außenminister Kinkel (FDP) vor: „Zwei Aufgaben gilt es parallel zu meistern: Im Inneren müssen wir wieder zu einem Volk werden, nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potenzial entspricht.“
Die Vollstrecker: SPD und Grüne
Ende der 90er Jahre war Helmut Kohl verschlissen. Die Lebensbedingungen im Ostteil hatten sich dramatisch verschlechtert. Im Westen rief die Umverteilungspolitik in Richtung der Monopole Widerstand hervor. 1998 gewannen SPD und Grüne die Bundestagswahlen. Der Schein trog: Die Kräfteverhältnisse waren so sehr zu Gunsten des Kapitals verschoben, dass die Konterrevolution mit der Zerstörung der erkämpften Errungenschaften der Arbeiterbewegung im gesamten Deutschland vollendet wurde.
Auslandseinsätze der Bundeswehr wurden nach und nach Normalität. Die Beteiligung am NATO-Krieg gegen Jugoslawien war der erste Kampfeinsatz deutscher Soldaten im Ausland. Die Maxime „Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen!“ war gebrochen. Joseph Fischer (Grüne) erklärte, dass die Verpflichtung „nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“ Militäreinsätze notwendig mache. Das war ein schwerer Schlag gegen das ideologische Selbstverständnis der Friedensbewegung. Zwei Jahre später zog die Bundeswehr gegen Afghanistan in den Krieg – aus „uneingeschränkter Solidarität“ mit den USA und weil die deutsche Freiheit am Hindukusch verteidigt werde.
Unter Bundeskanzler Schröder, dem „Genossen der Bosse“, hatte der Sozialstaat des Klassenkompromisses der Systemkonkurrenz ausgedient. Die Einführung der Riester-Rente markierte den Ausstieg des Kapitals aus der paritätisch finanzierten Rente. Seitdem sinkt das Rentenniveau. Die Versicherungskonzerne konnten eine neue Profitquelle erschließen. Mit den Steuerreformen wurde die Steuerlast weiter in Richtung werktätiger Bevölkerung verteilt. Die „Hartz-Gesetze“ haben zu einem massiven Verlust von Beschäftigtenrechten geführt. Sie haben die Angst um den Arbeitsplatz und um die gesellschaftliche Teilhabe alltäglich gemacht.
Die Gewerkschaften waren durch ihre personelle Verstrickung mit der SPD und damit der Regierungspolitik weitgehend paralysiert. Riester zum Beispiel war vor seiner Ministerkarriere Zweiter Vorsitzender der IG Metall. Ideologisch hatte sich die deutsche Gewerkschaftsbewegung mit ihrem 1996 beschlossenen Grundsatzprogramm selbst entwaffnet. Die „sozial regulierte Marktwirtschaft“ ersetzte Vorstellungen von einer Wirtschaftsordnung jenseits des Kapitalismus.
Mit dem Ende der Regierung Schröder im Jahr 2005 hatte die Konterrevolution ihre hauptsächlichen Aufgaben erfüllt: Der Sozialismus auf deutschem Boden war zerstört und ideologisch diskreditiert. Der deutsche Imperialismus konnte wieder Krieg für seine Interessen führen. Die Verwertungsbedingungen für das Monopolkapital waren optimiert, der potentielle Widerstand, vor allem der Friedens- und Arbeiterbewegung weitgehend kanalisiert.
Wer dieser Entwicklung 30 Jahre nach der Annexion der DDR etwas entgegenstellen will, muss sich für die ideologische und organisatorische Stärkung der Arbeiterklasse einsetzen, am Besten in ihrer Partei. Unabdingbar ist eine eigene Sichtweise der Arbeiterklasse auf den ersten Anlauf zum Sozialismus in Deutschland. Es bestätigt sich die Auffassung von Wolfgang Abendroth: Solange das Klassenbewusstsein der westdeutschen Arbeiter schwach entwickelt ist, solange ist die Existenz der DDR der wichtigste Katalysator der Linken in der Bundesrepublik.
Hier endet der UZ-Dreiteiler „Wie man es dreht und wendet …“ zur Konterrevolution in Deutschland, ihren Ursachen und ihren Folgen bis heute. Es folgen in den kommenden Ausgaben Interviews mit Zeitzeugen und Berichte, beginnend in der nächsten UZ mit einem Gespräch mit Arnold Schölzel über die Zerstörung des Wissenschaftsbetriebs der DDR.
Vergessene Tote – Die Opfer der Konterrevolution
Das „Neue Deutschland“ schreibt 2006: „Die Dresdner werden dem Stasi-General Horst Böhm kaum nachtrauern, der sich Ende 1989 erschoss.“ 17 Jahre nach seinem Suizid ist die Hetze noch nicht vorbei. Wie viele Genossinnen und Genossen, Funktionsträger und einfache Menschen in Folge und wegen der Folgen der Konterrevolution freiwillig aus dem Leben schieden ist unklar. Es waren nicht wenige. Zu ihnen gehören der Jenaer Jurist Professor Gerhard Riege (MdB) und der Minister für Bauwesen der DDR, Wolfgang Junker.
1991 wird der Chef der Treuhandanstalt, Rohwedder, erschossen, angeblich von der RAF. Auch die „Stasi“ wurde verdächtigt. Kurz vor seinem Tod zitiert die „FAZ“ Rohwedder: Eine „reinrassige, gedanklich saubere und schnörkellose Marktwirtschaft“ sei im Osten nicht denkbar.
1992 werden die Grünen-Politiker und Mitglieder der Friedensbewegung Petra Kelly und Gert Bastian tot aufgefunden. Kurz vorher hatte der ehemalige Bundeswehrgeneral Bastian geschrieben: „Und wieder ist sie unverhüllt da, die Fratze des hässlichen Deutschland, das nur sich für wichtig und lebenswert hält, alles ‚Artfremde‘ aber mit Hass verfolgt und erbarmungslos ausmerzt, wenn es das Bild vom ‚reinen‘ Vaterland stört.“
Mit der Konterrevolution erreicht der faschistische Terror in Deutschland eine neue Qualität. In Ost und West wurden seit 1990 mehr als 200 Ausländer, Obdachlose und politisch Andersdenkende ermordet. Unter ihnen 1993 der 23 Jahre alte SDAJ-Genosse Olaf Heydenbluth aus Suhl.
Rassistische Pogrome gehören seitdem immer wieder zum Alltag. Einen Höhepunkt bildeten die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992. Die bürgerlichen Parteien debattierten die Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und setzen dabei auf Themen wie „Asylbetrug“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“. Die Ausschreitungen wurden mindestens billigend in Kauf genommen, da über Monate Beschwerden über die Zustände vor und in der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber ignoriert wurden. Faschisten, viele aus dem Westen, setzten sich an die Spitze der Proteste. Es kam zu Pogromen, die von der Polizei über vier Tage zugelassen wurden.
Teil 1 erschien in der UZ vom 2. Oktober, Teil 2 erschien in der UZ vom 9. Oktober.