Runde Geburtstage sind Anlass zur Reflektion. Wie konnte es zur Konterrevolution kommen? Wie gelingt es den bürgerlichen Ideologen, die Befreiung des Kapitalismus von der Systemkonkurrenz als „Wiedervereinigung“ zu verkaufen? Was können Kommunistinnen und Kommunisten lernen?
Einen Überblick liefert dieser Artikel, der in der kommenden Ausgabe fortgesetzt wird. Ergänzend erscheinen ab dieser Ausgabe Textauszüge und Interviews.
Der 3. Oktober 1990 markiert den Übergang der „heißen Phase“ der Beseitigung der DDR zum „Rollback“ des Sozialismus auf deutschem Boden. Die Regie führte das deutsche Monopolkapital, die Zentrale saß in Bonn.
Das Monopolkapital nutzte die Möglichkeit, das bessere Deutschland zu beseitigen. Sie war entstanden durch die Zuspitzung der ökonomischen, politischen und ideologischen Probleme in den sozialistischen Staaten und den führenden Kommunistischen Parteien.
Die europäische Nachkriegsordnung
Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition über Faschismus und Militarismus brachte dem imperialistischen System insgesamt eine Niederlage bei. Die Sowjetunion und die Kommunisten gewannen international Anerkennung für ihren überragenden Beitrag. Der Preis war hoch: 27 Millionen Sowjetbürger und 21 Millionen Chinesen verloren ihr Leben, in vielen Ländern zahlten die Kommunisten den größten Blutzoll. Große Teile der Sowjetunion waren durch die Wehrmacht zerstört, ihre Ökonomie zurückgeworfen.
Der kleinere Teil Deutschlands war von der Roten Armee besetzt. Entsprechend den Vereinbarungen im Potsdamer Abkommen begann der Aufbau eines antifaschistischen und demokratischen Deutschlands. Der vom Imperialismus begonnene „Kalte Krieg“ machte die Fortführung dieses Weges unmöglich. Als Antwort auf die Gründung der BRD wurde 1949 die DDR gegründet. Sie war von Anfang an ökonomisch im Hintertreffen, auch weil sie die Hauptlast der Reparationen trug.
Ideologisch bediente sich der Imperialismus der antikommunistischen Tradition des Faschismus und ergänzte sie um eine einseitige Menschenrechtsdebatte. Politisch setzte er auf Terrorismus und verschiedene Formen der Unterwanderung. Sanktionen behinderten die sozialistischen Länder in der nachholenden Produktivkraftentwicklung. Die sozialistischen Staaten, allen voran die DDR, waren von Anfang an in die Defensive gezwungen.
Ökonomische Probleme
Nach der Wiederherstellung der Grundversorgung der Bevölkerung mit Wohnraum und Nahrung mussten als Bedingung der Möglichkeit einer eigenständigen Entwicklung die Produktivkräfte entwickelt werden. Dazu galt es als erstes, die Abwerbung von in der DDR gut ausgebildeten Fachkräften zu unterbinden: 1961 wurden die Grenzen gesichert. Zwei Jahre später wurde der Versuch einer durchgreifenden Wirtschafts-, aber auch Gesellschaftsreform unternommen – das „Neue Ökonomische System“ (NÖS). Sein Kern bestand darin, einen ineffektiv gewordenen bürokratisch-administrativen Wirtschaftsmechanismus zu überwinden. Erprobt wurde ein neues Zusammenspiel aus zentraler Planung, betrieblicher Eigenverantwortung und materieller Anreize für die Arbeitenden.
Zielsetzung war die Steigerung der Arbeitsproduktivität. Die SED orientierte auf den Kampf um ein ökonomisches System, das dem Kapitalismus überlegen ist.
Trotz Erfolgen blieb das NÖS innerhalb der SED und der Kommunistischen Weltbewegung umstritten. Es gab kein gemeinsames Vorgehen der sozialistischen Länder, um sich den Anforderungen der wissenschaftlich-technischen Revolution zu stellen. Das NÖS scheiterte im Kern am politischen Willen. Die Stärkung der Eigenmacht der Betriebe gegenüber dem Staat hätte Änderungen an der zentralen Struktur des politischen Systems bedurft. Das Jahr 1970 war ein Krisenjahr.
1971 wurde Walter Ulbricht mit Hilfe der KPdSU formell abgesetzt, faktisch gestürzt. Eine historische Chance war vertan. Unter Erich Honecker wurde die Wirtschaftspolitik grundlegend verändert, ohne die Erfahrungen der vorausgegangenen Jahre gründlich auszuwerten.
Mit der „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ sollte sowohl die Wirtschaft entwickelt als auch der Lebensstandard der Bevölkerung erhöht werden. Sozialpolitisch konnten bedeutende Erfolge erreicht werden: Vollbeschäftigung, soziale Absicherung von Erwerbsunfähigen, ein hohes Maß an tatsächlicher Gleichberechtigung von Frauen und Männern, zunehmende soziale Gleichheit, Brechung des Bildungsprivilegs, kostenlose Betreuung in Kinderkrippen und -gärten, kostenloses Gesundheitswesen, Zugang zu Kultur. Für etwa die Hälfte der DDR-Bürger gelang es, die Wohnungsverhältnisse entscheidend zu verbessern, die Obdachlosigkeit wurde beseitigt. Der ländliche Raum wurde wirtschaftlich, sozial und kulturell gefördert. Die Beschäftigten genossen umfänglichen Schutz im Arbeitsrecht. Die Löhne wurden erhöht und die Preise durch Subventionen in vielen Bereich günstig gehalten.
Die sozialpolitischen Maßnahmen erforderten immer höhere Aufwendungen, die zu Lasten der produktiven Investitionen gingen. Die daraus resultierende geringe Akkumulationsrate stand im Gegensatz zur Notwendigkeit wirtschaftlicher Erneuerung. Die vorhandenen Disproportionen in der Volkswirtschaft konnten durch den Plan nicht beseitigt werden. Die technologischen Rückstände zu den imperialistischen Ländern waren unübersehbar, bremsten aber nicht generell die Dynamik der Wirtschaftsentwicklung. Obwohl die DDR keinesfalls wirtschaftlich bankrott war, konnten die Probleme real existierender wirtschaftlicher Instabilität politisch nicht kompensiert werden. Ein „Weiter-so!“ war wirtschaftlich nicht mehr möglich. Das hatte auch die SED-Führung erkannt und intern debattiert.
Zusätzlich gelang es den sozialistischen Ländern nicht, sich unabhängig von Importen aus den imperialistischen Ländern zu machen. Bedeutende Produktionskapazitäten waren dadurch gebunden, dass in die kapitalistischen Länder exportiert werden musste.
Diese nutzen ihre Marktmacht für einen ungleichen Warentausch. Hinzu kam die militärische Bedrohung durch den Imperialismus, die aus heutiger Sicht in ihrer Höhe umstrittene Investitionen in die Verteidigung notwendig machten.
Politische Versäumnisse
Die DDR war gezwungen, konterrevolutionäre Angriffe von innen und außen abzuwehren und das politische System zu sichern. Dazu wurden auch die Erfahrungen mit dem Faschismus und dessen Einfluss auf große Teile der Bevölkerung genutzt. An eine lebendige demokratische Tradition konnte die DDR nicht anknüpfen, schließlich entstand die Weimarer Republik auf den Gräbern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg.
Die Grundlage für gesellschaftliche und politische Teilhabe musste erst geschaffen werden: Mit der Sicherung der Lebensgrundlagen und der Garantie der sozialen Rechte für die gesamte Bevölkerung sowie dem Aufbau eines sozialistischen Bildungssystems, ermöglicht durch das Volkseigentum und die geklärte Machtfrage. Seinen Ausdruck fand dies unter anderem in der ausführlichen Diskussion und Volksabstimmung über die Verfassung der DDR und in der gesellschaftlichen Gerichtsbarkeit. Das Eingabenrecht wurde neu gestaltet, die örtlichen Volksvertretungen wurden aufgewertet, das Ehrenamt gefördert. Vor allem machte die Demokratie nicht halt vorm Werktor.
Die Stabilität des politischen Systems des Sozialismus hängt entscheidend von seiner Fähigkeit ab, die ökonomische und damit gesellschaftliche Dynamik zu befördern. Nur unter dieser Bedingung kann sich die sozialistische Demokratie erfolgreich entwickeln. Stellt man die Demokratiefrage in den Vordergrund, ohne die wirtschaftlichen Grundlagen zu berücksichtigen, kann die Macht schnell erodieren. Auch im Sozialismus gab es einen Widerspruch zwischen Staat und Volk, der ein besseres System der Interessenabstimmung im staatlichen Willensbildungsprozess erforderte. Dazu gehören auch die Gewährleistung und der Schutz subjektiver Rechte.
Ideologische Ursachen
Während sich im Kapitalismus die Ökonomie und in deren Folge auch die Politik hinter dem Rücken der handelnden Menschen durchsetzt, bedarf der Sozialismus gesamtgesellschaftlicher, also bewusster Planung und Leitung. Dafür ist es unerlässlich, die Realität möglichst objektiv zu analysieren und zu begreifen. Es braucht die Kraft, die immer sagt, was ist.
Jede Klasse hat eine ihrer wirtschaftlichen Lage entsprechende Sichtweise auf die Welt: bürgerliche oder sozialistische Ideologie, ein Drittes gibt es nicht. Eine revolutionäre Klasse, die eine andere ablösen will, muss deshalb auch die Weltanschauung der alten Klasse durch ihre eigene ersetzen. Auch im Sozialismus müssen die Ideen der herrschenden Klasse, die herrschenden Ideen sein. Die Kommunistische Partei muss sich als der Ort erweisen, an dem die gesellschaftliche Entwicklung begriffen und die Weltanschauung der Arbeiterklasse, das Selbstbewusstsein der Klasse, entwickelt wird. Ihr ideologischer Zustand ist eine Überlebensbedingung für den Sozialismus.
Im Laufe der Entwicklung gelang es den kommunistischen Parteien in sehr unterschiedlichem Maße, die komplizierten und wechselhaften Bedingungen zu verarbeiten. Während der Bedrohung durch den Faschismus hatte die Kommunistische Weltbewegung ihre Politik auf die Verteidigung der Sowjetunion fokussiert, bis hin zur Auflösung der Internationale. Die Veränderungen in den Kräfteverhältnissen international, wie auch zum Beispiel in Italien oder Griechenland nach dem Sieg über den Faschismus, wurden nicht genügend reflektiert. Es blieb bei einer auf Moskau ausgerichteten Strategie. Eine verbindliche internationale Struktur wurde nicht wieder hergestellt.
Die sich entwickelnden Widersprüche setzten unnachgiebig neue Fragen auf die Tagesordnung. Nach dem Wiederaufbau der Wirtschaft ging es um den Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Bedürfnisbefriedigung der Bevölkerung. Nach der Ausrichtung der Gesellschaft auf die Verteidigung gegen den Faschismus musste es jetzt um die Frage der Demokratisierung und Einbeziehung der Arbeiterklasse in die Leitung des Staates gehen. Ideologisch hatten die Kommunisten auf die neue Situation im Klassenkampf zu reagieren: Die Partner der Anti-Hitler-Koalition waren zu den Hauptgegnern geworden.
Hinzu kam die Notwendigkeit, die erste Etappe des Sozialismus theoretisch zu reflektieren. Die Erfolge beim sozialistischen Aufbau und der Sieg über den Faschismus und die Fehler, Deformierungen und Verbrechen während der „Stalinzeit“ lassen sich nicht miteinander „verrechnen“.
Die Chance war vertan. Die Veränderung der Kräfteverhältnisse und der ideologisch-moralische Einfluss der Kommunisten nach der Befreiung von Krieg und Faschismus wurde nicht konsequent genutzt. Es folgten Aus-einandersetzungen in der Kommunistischen Weltbewegung, der Bruch mit der Volksrepublik China und theoretische Differenzen. Die lebendige Weiterentwicklung des Marxismus-Leninismus wurde durch Dogmatismus oder Revisionismus behindert, Problemdiskussionen teilweise abgewürgt. Der Führungsanspruch der Sowjetunion bei gleichzeitigem Verlust ihrer hegemonialen Führungsfähigkeit führte in den 1970er Jahren zu den Erscheinungen des „Eurokommunismus“. Die Kommunisten in Frankreich oder Italien meinten, sie würden den Sozialismus besser ohne die sozialistischen Länder über den bürgerlichen Parlamentarismus erreichen und kehrte der kommunistischen Weltbewegung immer mehr den Rücken.
Es war eine Frage der Zeit, bis der lebendige Kontakt zur Arbeiterklasse mehr und mehr verloren gehen musste, die innerparteiliche Demokratie, der demokratische Zentralismus versagten, die politische, ideologische und moralische Autorität der Kommunistischen Partei so weit eingebüßt wurde, dass sie nicht mehr politischer Initiator sein konnte.
Den Kulminationspunkt dieser Entwicklung bildete die katastrophale und dilettantische Politik Gorbatschows. Er gab für alle entscheidenden ökonomischen und politischen Herausforderungen die falsche Orientierung. Das „Neue Denken“ entleerte das Klassendenken, statt es neu zu beleben. Hinzu kam, dass sich führende Genossen teilweise als politisch überfordert erwiesen. Zu ihnen gehörte Erich Honecker.
Teil 2 erschien in der UZ vom 9. Oktober, der dritte und letzte Teil erschien in der UZ vom 16. Oktober.