„Deutscher Herbst“ – das bedeutete im Oktober 1977:
H Entführung von Hanns-Martin Schleyer, damals Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Arbeitgeberverbände, ehemaliger Nazi-Wirtschaftsführer und SS-Offizier im Range eines Untersturmführers, durch die „Rote Armee Fraktion“.
H Geiselnahme der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch ein mit der RAF kooperierendes palästinensisches Kommando der PFLP (Volksfront für die Befreiung Palästinas).
H Einsatz der neu gebildeten Elitegruppe „GSG-9“ auf dem Flughafen der somalischen Hauptstadt Mogadischu zur Befreiung der 84 im Flugzeug entführten Passagiere.
H Bis heute ungeklärter „kollektiver Selbstmord“ der in Isolationshaft in Stuttgart-Stammheim gehaltenen Führungspersonen der „Gründergeneration“ der RAF – darunter Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe – als „Reaktion“ auf diese misslungene Entführungsaktion.
H Die mitinhaftierte Irmgard Möller überlebte schwer verletzt mit vier Messerstichen in der Herzgegend. Sie sprach von „staatlich angeordneten Morden“. Ulrike Meinhof, neben Andreas Baader die bedeutendste Führungsperson der RAF war bereits im Mai 1976 in ihrer Stammheimer Isolationszelle erhängt aufgefunden worden.
H Liquidierung Schleyers, was von der RAF als „Vergeltung“ für die Erstürmung der „Landshut“ und die Toten in Stammheim deklariert wurde.
Nach dem Ende des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) 1970 hatte ein Neuorientierungsprozess bei Teilen der studentischen „68er“ stattgefunden. Er war geprägt durch intensive Debatten über die „revolutionäre Berufsperspektive“ und über die Weiterführung der „Revolte“ von 1967/68. So hatte ich mich zum Beispiel im Auftrag meiner damaligen „Basisgruppe Psychologie“ für eine ganze Woche ins Hamburger „Spiegel“-Archiv begeben, um gemeinsam mit einer Genossin zu recherchieren, ob die Arbeit von Psychologen auch für „revolutionäre“ Zwecke genutzt werden könne. Das Ergebnis unserer laienhaften Ausarbeitung lautete: Psychologen machen nichts Revolutionäres. Die Diskussion ging also weiter. Etliche von uns sattelten um und begannen ein Lehrerstudium. Bewusst als Haupt- und Real- und nicht als Gymnasiallehrer, um „die Kinder des Proletariats“ im „fortschrittlichen“ Sinne aufzuklären. In diesen Diskussionen kam eine antiimperialistische, zugleich naiv-kindliche Bereitschaft für eine andere Art des Lebens und politischen Kämpfens zum Ausdruck. Es wäre der subjektiven Ernsthaftigkeit dieser Debatte nicht angemessen, würde man hier nur mit politischen Kategorien urteilen. Es ging um eine andere, zusätzliche Dimension: um das Thema und den Wunsch nach der rasch machbaren, schnell zu verwirklichenden, sozialistischen „konkreten Utopie“. (Ernst Bloch)
Es handelte sich also um mehr als um die Entscheidung für dieses oder jenes „linke“ Strategie- und Politikkonzept. Bei vielen unserer Generation waren es existenzielle und auch sozialpsychologische Beweggründe, sich für einen wie auch immer gearteten Bruch mit den Lebenswegen und Vorgaben der faschistisch geprägten Elterngeneration und diesem „Schweinesystem“ zu entscheiden.
Das „Konzept Stadtguerilla“
und der
„linke“ Gründungskonsens
Die programmatischen Haupt- und Gründungsdokumente der RAF erschienen im April 1971 („Das Konzept Stadtguerilla“) und 1972 („Den antiimperialistischen Kampf führen! Die Rote Armee aufbauen!“).
Das Papier „Stadtguerilla“ beginnt mit einer Verurteilung all jener, die sich an der „Diffamierung“ der Absichten und Ziele der RAF beteiligten. Die der RAF vorgeworfenen kriminellen Taten (Geld-, Auto- und Dokumentendiebstähle sowie ein „angehängter“ Mordversuch) könnten unmöglich den gewaltigen Repressionsaufwand rechtfertigen. Der Aufbau dieses Unterdrückungsapparates sei als ein Angriff auf „die ganze sozialistische Linke in der Bundesrepublik und in Westberlin gemeint“. Daher sei es ein Gebot linker Solidarität, sich nicht an der Gerüchtemacherei über die RAF zu beteiligen. Das sei bei vielen nur Ausdruck eines „unerträglichen Rechtfertigungsdrucks“ oder diene nur dazu, „der politischen Auseinandersetzung mit uns auszuweichen“.
Den politische Kern ihres Konzepts definierten die RAF-Autoren, darunter Ulrike Meinhof, so: „Wir behaupten, dass die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und in Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Dass es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Dass der bewaffnete Kampf als ‚die höchste Form des Marxismus-Leninismus‘ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muss, dass es ohne das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt.“ („Stadtguerilla“, S. 3)
Zu diesem Zeitpunkt sah die RAF allerdings noch einen gewissen Bezug zur Generation der „alten Antifaschisten“ und der „Geschichte der Arbeiterbewegung“ (S. 5). Aber ihre Negierung von Realitäten, die Missachtung der „konkreten Analyse der konkreten Situation“ – das eigentliche Grundprinzip jeglicher linker Taktik und Strategie – dominierte von Anfang, selbst wenn sie damals auch noch über „legale“ Optionen sprach. „Wir sagen nicht, dass die Organisierung illegaler bewaffneter Widerstandsgruppen legale proletarische Organisationen ersetzen könnte und Einzelaktionen Klassenkämpfe und nicht, dass der bewaffnete Kampf die politische Arbeit im Betrieb und im Stadtteil ersetzen könnte.“ (S. 3 f.)
Diese verbale Offenheit für nicht-militärische Politikformen wurde aber strikt begrenzt und spielte dann in den RAF-Überlegungen eine immer geringere Rolle. Die „Alten“ seien außerdem durch die geschickte Politik der „sozial-liberalen“ Koalition von Willy Brandt und Walter Scheel voll ins „System“ integriert worden. Daraus ergab sich eine elitäre Verachtung und eine sich immer mehr steigernde Kritik an allem, was ihrem Verständnis von „links“ nicht entsprach. Die RAF-Variante des Guerillakampfes ging sogar noch ein deutliches Stück über das Sektiererische anderer Stadtguerilla-Konzepte wie der „Roten Brigaden“ oder der „Tupamaros“ hinaus.
Sie betonte bereits in der Begründung für „Das Konzept Stadtguerilla“, dass ihr bewusst sei, dass diese Kampfform unabhängig von einer genaueren Analyse des Kräfteverhältnis und der davon abgeleiteten Bestimmung der Kampfformen gewählt worden war. So hieß es: „Das Konzept Stadtguerilla der Rote Armee Fraktion basiert nicht auf einer optimistischen Einschätzung der Situation in der Bundesrepublik und in Westberlin.“ (S. 5)
Die Berufung auf die marxistisch-leninistische Revolutionstrategie und die Theoretiker des Partisanen- und Guerillakampfes hatte mit „links“ im Sinne einer auf der Analyse der Realität beruhenden Strategie nichts zu tun. Der bewaffnete Kampf, so betont Lenin in einem Grundsatzartikel über die Grundsätze des Partisanenkampfes, muss von „zwei Grundforderungen“ ausgehen: „Erstens unterscheidet sich der Marxismus von allen primitiven Formen des Sozialismus dadurch, dass er die Bewegung nicht an irgendeine bestimmte Kampfform bindet. Er erkennt die verschiedensten Kampfformen an, und zwar ‚erfindet‘ er sie nicht, sondern fasst nur die im Verlauf der Bewegung von selbst entstehenden Formen des Kampfes der revolutionären Klassen verallgemeinernd zusammen, organisiert sie und verleiht ihnen Bewusstheit. … Zweitens fordert der Marxismus unbedingt ein historisches Herangehen an die Frage der Kampfformen. Diese Frage außerhalb der historisch konkreten Situation behandeln, heißt das Abc des dialektischen Materialismus nicht verstehen.“ (Lenin, Der Partisanenkrieg, Lenin Werke 11, S. 202 f.)
Verachtung für die Arbeiterklasse
Für die aus der illegalen KPD sich neu formierende DKP hatte die RAF nur Häme übrig, obwohl Ulrike Meinhof in den frühen 60er Jahren durchaus einen unmittelbaren persönlichen Eindruck von den komplizierten Arbeits- und Kampfbedingungen der illegalen KPD bekommen hatte. Wider besseres Wissen strickten die RAF-Begründer zudem mit an einem von der SPD lancierten perfiden Mythos, der vor allem Teile der sich nach einer kommunistischen Alternative orientierenden linken Jugend von den wieder legal auftretenden Kommunisten fernhalten sollte. „Die DKP, die ihre Zulassung der neuen Komplizenschaft US-Imperialismus-Sowjetrevisionismus verdankt, veranstaltet Demonstrationen für die Ostpolitik dieser Regierung; Niemöller – antifaschistische Symbolfigur – wirbt für die SPD in bevorstehenden Wahlkämpfen.“ Zugleich wurde die „provinzialistische Abkapselung der alten Linken“ sowie ihre „pro- und antikommunistische (sic!!) Fixierung auf die DDR“ kritisiert und ihr jegliche politische Bedeutung abgesprochen. Diese „traditionelle“ Linke sei „zu jedem Opfer bereit, zu keiner Praxis fähig.“ („Stadtguerilla“, S. 5) Dies ging einher mit einer zunehmenden elitären Verachtung der realen Arbeiterklasse.
Der qualitative Sprung in der Entfernung von linken Grundsätzen drückte sich besonders stark aus in einem zweiten Grundsatzpapier der RAF, das in Anschluss an den Überfall auf die israelische Olympiamannschaft 1972 in München durch eine palästinensische Guerillaeinheit des „Schwarzen September“ veröffentlicht wurde. Es ist aus zwei Gründen bedeutsam.
Zum einen verdeutlicht es das noch weiter versimpelte Imperialismus-Verständnis, das zu einem abstrakten „System“ wird, und es begründet zum zweiten den Bruch mit der Arbeiterklasse als dem entscheidenden revolutionären Subjekt. So hieß es jetzt: „Die westdeutsche Linke könnte an ihr (der Aktion des „Schwarzen September“- HPB) ihre politische Identität wiederfinden. – Antifaschismus – antiautoritäres Lager- antiimperialistische Aktion – wenn sie noch nicht ganz der Springerpresse und dem Opportunismus verfallen ist, wenn Auschwitz, Vietnam und Abstumpfung der Massen hier durch das System sie noch was angeht. Die Strategie des Schwarzen September ist die revolutionäre Strategie des antiimperialistischen Kampfes in der Dritten Welt und in den Metropolen unter den Bedingungen des entfalteten Imperialismus der multinationalen Konzerne.“ („Den antiimperialistischen Kampf führen“, S. 3)
Parallel dazu löste die RAF den Bezug zur Arbeiterklasse als dem eigentlichen revolutionären Subjekt völlig auf. Nicht mehr das von den marxistischen Klassikern und auch von den kubanischen Revolutionären betonte Ringen um die politisch-organisatorische Einheit des städtischen Proletariats mit den revolutionären Intellektuellen und den nichtstädtischen ländlichen revolutionären Kräften sollte nun die Aufgabe sein, sondern die Formierung eines revolutionären „neuen Subjekts“ jenseits der objektiven Klassenstrukturen. Es entstand damit im Prinzip ein seiner Substanz entledigter, nur noch rhetorischer Pseudo-Marxismus.
So heißt es jetzt: „Mit Marx‘ Begriff des Lohnarbeiters, dem in der Produktion der Mehrwert ausgepresst wird, allein ist die Ausbeutungssituation der Masse in den Metropolen nicht mehr gedeckt … Mit der Einführung des 8-Stunden-Tages hat der 24-Stunden-Tag der Herrschaft des Systems über den Arbeiter seinen Siegeszug angetreten – mit der Schaffung von Massenkaufkraft und ‚Einkommensspitze‘ hat das System den Siegeszug über die Pläne, Bedürfnisse, Alternativen, Fantasie, Spontaneität, kurz: den ganzen Menschen angetreten!
(…) Daraus folgt aber, dass das revolutionäre Subjekt jeder ist, der sich aus diesen Zwängen befreit und seine Teilnahme an den Verbrechen des Systems verweigert. Dass jeder, der im Befreiungskampf der Völker der III. Welt seine politische Identität findet, jeder, der sich verweigert, jeder, der nicht mehr mitmacht: revolutionäres Subjekt ist – Genosse.“ Die „Völker der III. Welt“ seien anstelle des internationalen Proletariats die „Avantgarde der antiimperialistischen Revolution“ geworden. Und schließlich der daraus folgende Schluss: „Revolutionäres Subjekt sind wir.“ (ebenda, S. 14 f.)
Damit war bereits sehr früh der konzeptionelle Bruch mit zentralen marxistischen Positionen und Grundsätzen vollzogen. Unabhängig vom subjektiv antiimperialistischen und „linken“ Selbstverständnis der einzelnen RAF-Angehörigen, über das Inge Viett so eindrucksvoll in ihren Memoiren (I. Viett: Nie war ich furchtloser, Hamburg 1996) zu schreiben weiß, ist die Geschichte der RAF daher nicht Teil „unserer“ Bewegung, sondern ein Irrweg, auf dem viele linke Illusionen zerschellten und zerschellen mussten.