„Standpunkte beim Studium des Klassenkampfs“ von Detlef Kannapin

Wie läuft die Gehirnwäsche?

Eine Leseempfehlung von Uwe Schwentzig

Fast völlig unbehelligt von Marxisten, von Kommunisten und linken Parteien konnte die Bourgeoisie, konnten die Kapitaleigner in einer globalen Kampagne sondergleichen mit ihren Medien eine ungeheure antisozialistische Denunziationskampagne fahren, deren flächendeckende Nachhaltigkeit von gravierender Wirkung ist. Wenn man bedenkt, was heute international nötig ist, um sowjetische Literatur zu lesen oder Werke der bildenden Kunst zur Kenntnis zu nehmen oder um die großen Filmproduktionen dem breiten Publikum zu zeigen (von Texten der Klassiker gar nicht erst zu beginnen), so wird auf eklatante Weise deutlich, welcher Stellenwert in diesem Maßstab der Musik zukommt, der Opern- und Konzertmusik, die weltweit in den Programmen der Kultureinrichtungen, der Sender sowie vor allem auf dem Markt der Tonträger dem Publikum nähergebracht wird.

Testfrage: Gibt es eine einzige Aufführung, CD oder TV-„Doku“, wo im Begleittext, in der Einführung, Ankündigung oder Werbung der große, sensible und allseits zu Recht bewunderte Sowjetkomponist Dmitri Schostakowitsch nicht als Opfer „stalinistischer“ Bedrückung hingestellt wird? Gibt es in den „sozialen Netzwerken“, auf Facebook etwa oder bei YouTube, eine einzige Kommentarspalte zum Thema Schostakowitsch, wo diese Diskussion nicht aufgetischt wird? Ist es überhaupt möglich, seinen Namen zu lesen ohne den Josef Stalins? Wo, auf welcher Ebene findet eine Kritik an dieser exemplarisch gigantischen Manipulation statt, eine Aufklärungsinitiative, die von linker Seite aus solch permanente Geschichtsfälschung aufdeckt und richtigzustellen versucht? Gibt es in unseren Reihen für dieses Problem, für diesen Kulturkrieg, der besonders erfolgreich im Bereich der „ernsten“ Musik läuft, ein präsentes Bewusstsein?

Hierzulande hat Detlef Kannapin, der Filmwissenschaftler und Medienkritiker, mit einer Reihe von Artikeln in der „jungen Welt“ den Nachweis erbracht, dass der internationale Bestseller des Exilrussen Solomon Wolkow, der wenige Jahre nach dem Tode Schostakowitschs dessen angebliche „Memoiren“ in den USA, wo auch sonst, publizierte, veritabel von A bis Z nur in einem einzigen Punkt ist: als Fälschung. Aber eben diese gefälschten „Schostakowitsch-Memoiren“ sind nicht nur allgegenwärtige Grundlage der weltweiten Schostakowitsch-Rezeption heutzutage, sondern damit auch der Sicht auf die Sowjetunion und den Realsozialismus. Das gelang auf die eingängigste und populärste Weise – just im Kulturbereich: also dort, wo die Intellektuellen, die Publizisten, Redakteure, Lehrer, Künstler, Professoren, all jene eben, die Kannapin trefflich als „Unwissenheits-Gelehrte“ bezeichnet, agieren, die professionell den tagtäglich mentalen Desorientierungs- und Verblödungseinfluss auf die Massen zu bewerkstelligen haben. Und zwar ausschließlich dem Interesse von Besitzenden und Herrschenden dienend. Wo? Im kulturellen Bereich, dort, wo die traditionellen Kader der kommunistischen Parteien den Klassenkampf eher nicht vorrangig austragen.

Erfordernis der Kritik

Kannapins drei Schostakowitsch-Artikel machen ein Kapitel der neuesten Veröffentlichung aus, die das 2015 im Aurora-Verlag der Eulenspiegel-Verlagsgruppe erschienene Buch „Vernunft im Abseits“ fortsetzt, nun 2022 aktualisiert: „Vernunft im Passiv“.

Es gibt schlichtweg Texte, Diskussionen und Bücher, die in Zeiten wie diesen von Kommunisten zur Kenntnis genommen werden sollten. Bücher über diese Gesellschaft, unsere Kämpfe, über Vergangenheit und Zukunft. Analysen, Bestandsaufnahmen und Ausblicke, die nicht nur von den praktischen Tagesfragen spezifischer Parteiarbeit geprägt sind, sondern, diese im Blick, aufs Ganze gehen. Zu solchen Büchern gehören heute nicht nur die Ausgabe „Marxistische Hinsichten“ des Peter Hacks oder sein Briefwechsel mit dem Faschismusforscher Kurt Gossweiler, dazu gehören folgerichtig auch die zwei Sammelbände „Standpunkte beim Studium des Klassenkampfs“ von Detlef Kannapin.

„Erkenntnis von Ursachen ist wissenschaftliches Denken“: Gleich der erste Textblock „Staat und System“ führt in den Kern der Problematik mit einer umfassenden Darstellung zu Begriff und Struktur des realwirkenden „Medienimperialismus“ unserer Zeit und der Anfälligkeit der Massen für dessen Arsenal an Strategien und Verführungstechnologien. Gerade dieser Essay müsste Pflichtlektüre sein für Redakteure und Gruppenvorsitzende der DKP: meine Empfehlung für Bildungsveranstaltungen über die (Un-)Kulturindustrie als gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang!

Kannapin erinnert an die vorhandene, aber abgebrochene Tradition marxistischer Untersuchungen zum Medienimperialismus: abgebrochen nicht zuletzt infolge der „größtenteils mechanistischen Deutung des Basis-Überbau-Schemas mit ihrer vielfachen Überbetonung politökonomischer Daten und Parameter“ (Kannapin, Seite 15). Doch Wladimir Iljitsch Lenin bereits war sich über die Rolle der kapitalistischen Medien im „Orchester der Konterrevolution“ und der „Kraft der Weltbourgeoisie“ sehr wohl im Klaren und appellierte in seinen letzten Jahren ständig, das Kulturniveau zu erhöhen. Antonio Gramsci hatte auf die zwingende Notwendigkeit der Eroberung der Medien durch das Proletariat verwiesen und ein Sergej Eisenstein richtete sein Wirken in diesem Sinn aus. Kein Wunder, wie ihn die Bourgeoisie heute verfälscht. Kannapin rezipiert die bedeutende Aufklärungsarbeit von Karl Kraus und Siegfried Kracauer, nutzt die Medienkritik von Theodor Adorno und Herbert Marcuse nicht minder wie auch relevante Texte US-amerikanischer Untersuchungen, etwa die Noam Chomskys, und macht sie für seine marxistische Darstellung im Sinn des Kommunismus produktiv. Erhellende Analysen wurden noch in den 1960er Jahren bis Anfang der 1970er Jahre in der DDR publiziert, doch schon nicht mehr breitenwirksam, wie die weitere politische Geschichte bis heute zeigt.

Herstellung von Konsens

Bevor Kannapin, der Filmwissenschaftler, auf Hans Heinz Holz und Wolfgang Harich zu sprechen kommt oder „Totalitarismus“- und sonstige faschistoide Konzepte historisch ad absurdum führt, behandelt er in seinen Texten und Vorträgen immer wieder Aspekte der Filmgeschichte und heutigen Filmindustrie („Der Rote Oktober im Film“, „Das bürgerliche Bewusstsein und die Oktoberrevolution“; auch in „Fortschritt und Perspektive“: „Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der DDR“). – Falls das Proletariat in seinem Bewusstsein narkotisiert und abgelenkt („unterhalten“) wird, muss man fragen: womit? Nicht zuletzt mit rapide gesteigerter Masse und Beschleunigung, um die Wahr-Nehmungs-Fähigkeit des Wirklichen zu zerstreuen und zu zersetzen. Wer immer also „an die Arbeiterklasse heran“ will (und ihr offenbar nicht vorangeht), muss sehen, wo sich die Arbeiterklasse befindet und welchen Einflüssen sie ausgesetzt ist, wofür sie ihr Geld ausgibt und wer ihre Bedürfnisse strukturiert und lenkt – vor allem: wie?

Die richtigen Ansätze dafür liefert Kannapin mit unbeirrter Klarheit und staunenswerter Kenntnisfülle. Eine Kenntnis, um die man ihn nicht immer beneidet, denn für seine Beschreibung des „Marvel-Universums“ hatte er sich in dieses hineinzubegeben, in jene Materialisierung des ideologischen Klassenkampfes von oben via Entertainment-Industry. Doch trifft Kannapins Analyse im Prinzip genauso bereits auf gefühlte 90 Prozent der Film-, Fernseh- und Krimiproduktionen zu, die ohnehin allabendlich die Wohnzimmer unseres Kontinents wie ein Tsunami in Endlosschleife fluten und eine systemstützende Gleichschaltung der Bilder und Maßstäbe erzeugen wie nie zuvor („wahr“ und „falsch“, „das Gute“ und „das Böse“ und so weiter). Man schalte nur einmal die Kinderkanäle ein, um nicht nur die Dauerbefeuerung durch den Reklamefuror zu registrieren, sondern die Allgegenwart der Muster des „Marvel-Universums“. Welche Geisteswüste sich da in die Zukunft der Körper von „Demokratie“-Verteidigern, imprägniert gegen Aufklärung, frisst, lässt sich nur erahnen.

Wer also soll die Vernunft ins Aktiv setzen, wenn nicht die Kommunisten?

Detlef Kannapin, geboren 1969, Filmhistoriker und Publizist, war von 1999 bis 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter der DEFA-Stiftung und arbeitet seit 2007 als wissenschaftlicher Referent im Deutschen Bundestag. Seit 2011 ist er Kurator der Filmreihe „3 D – Deutsche Demokratische Dokumente“ der Peter-Hacks-Gesellschaft. 2015 erschien von ihm „Vernunft im Abseits. Aufsätze zum Studium des Klassenkampfs“, 2021 „Im Maschinenraum der Filmkunst. Erinnerungen des DEFA-Chefdramaturgen Rudolf Jürschik“. Nun liegt „Vernunft im Passiv. Standpunkte beim Studium des Klassenkampfs“ vor, erschienen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe Aurora.

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Detlef Kannapin kommt zum UZ-Pressefest der DKP und nimmt am Sonntag, 28. August 2022, in der Maigalerie der „jungen Welt“ um 10 Uhr am Frühschoppen „Wo geht‘s hier aus der Hölle raus?“ teil.

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"Wie läuft die Gehirnwäsche?", UZ vom 5. August 2022



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