Großbritannien: Corbyn ist Labour-Vorsitzender

Wie konnte das passieren?

Von Georg Polikeit

Der linke „Hinterbänkler“ Jeremy Corbyn hat es trotz aller Versuche des rechten Establishments in der britischen Labour-Party, ihn zu Fall zu bringen, geschafft: Er ist seit dem 12 September per Urwahl der Mitglieder und Sympathisanten der neue Labour-Parteichef (s. UZ v. 21.8.). Sein Erfolg war deutlich: Er erreichte 59,5 Prozent der abgegebenen Stimmen, die Gegenkandidaten vom „wirtschaftsliberalen“ Labour-Flügel blieben weit abgeschlagen.

Seitdem hat in der bürgerlichen Presse das große Rätselraten begonnen: Wie ist es zu erklären, dass der 66-jährige Lehrer mit seinen „linksradikalen“ Ansichten, der seit über 30 Jahren den Wahlkreis Islington North (im Norden Londons) im britischen Unterhaus vertrat und vor einem halben Jahr in der Öffentlichkeit noch kaum bekannt war, jetzt soviel Zustimmung erhalten konnte? Der „mäßige Redner mit den Allüren eines bärtigen alten Lehrers, militante Vegetarier, Pazifist und Pro-Palästinenser“ habe eine „Bewegung des Enthusiasmus in der Jugend“ ausgelöst, dass eine wahre „Corbynmanie“ entstanden sei, meinte die großbürgerliche französische „Le Monde“. In „Spiegel-Online“ war zu erfahren: „Seine Vision, die Arbeiterpartei wieder weiter nach links zu rücken, kam offenbar an.“

Mehr als 500 mal habe der Mann, der seine Reden manchmal mit der schockierenden Anrede „Meine Freunde und Genossen“ begann, im Parlament seine Stimme im Gegensatz zu den Empfehlungen der Fraktionsführung abgegeben, wurde berichtet. Zur neoliberalen „Orthodoxie in der Haushaltspolitik“ gebe es sehr wohl eine machbare Alternative“, habe er verkündet. Statt der massiven Kürzungen bei den Sozialleistungen müssten die Steuern für die Reichen und Superreichen erhöht werden und statt der Förderung der Finanzwirtschaft müsse in die Industrie und Infrastruktur investiert werden. Die britischen Eisenbahnen und große Teile der Infrastruktur sollen wieder verstaatlicht werden.

Der Vietnam-, Irak- und Afghanistan-Kriegsgegner Corbyn fordert den Verzicht Großbritanniens auf sein Kernwaffenarsenal. Was die EU angeht, beteiligt er sich nicht an den Kampagnen für den Austritt Großbritanniens, wendet er sich aber nachdrücklich gegen die neoliberale Ausrichtung der derzeitigen EU-Wirtschaftspolitik. Hinsichtlich der Ukraine betonte er „die exzessive Expansion der NATO seit 1990“ als eine entscheidende Ursache des Konflikts.

Es dürfte in den kommenden Monaten spannend werden zu sehen, wie viel von diesen Positionen Jeremy Corbyn in seiner neuen Funktion tatsächlich zur „offiziellen“ Labour-Politik machen kann. Denn mit seiner Wahl wechselt ja nicht zugleich die Zusammensetzung der Parlamentsfraktionen im Ober- und Unterhaus und die Mehrheit im Labour-Parteivorstand. Da ist wohl zu erwarten, dass die Mehrheit der Parlamentarier, die überwiegend dem bisherigen rechtssozialdemokratischen, einst von Tony Blair installierten „New-Labour“-Kurs folgen, einen permanenten Clinch mit dem Parteivorsitzenden inszenieren und auch versuchen werden, ihn so bald wie möglich wieder loszuwerden.

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"Wie konnte das passieren?", UZ vom 18. September 2015



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