Im Mai 1913 stieß der Sohn eines Bourgeois auf „etwas Größeres“

Wie John Reed den Klassenkampf entdeckte

Bernard Frederick / L'Humanité / Übersetzung: Valentin Zill

Er ist einer der großen Zeugen der Umwälzungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Von Pancho Villas Mexiko über die Oktoberrevolution bis hin zu den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nutzte John Reed seine Feder, um den Frieden zu fördern und Ungerechtigkeiten anzuprangern. Im Mai 1913, während der Streiks der Seidenarbeiter in Paterson, änderte sich der Blick auf die Welt des amerikanischen Journalisten endgültig.

Wie schaffte es ein amerikanischer Journalist aus Oregon, im Oktober 1920 unter der Kremlmauer begraben zu werden, dem „heiligsten Ort Russlands“, wie „L’Humanité“ damals schrieb? Es folgte ein Erklärungsansatz: „Auf diese Weise verleihen die Russen einem Genossen, der als erster aus dem Ausland gekommen war, um mit ihnen für die universelle Sache des Proletariats zu kämpfen, Heimatrecht.“

Der Genosse, um den es hier geht, ist John Silas Reed. Er war nach der Französin Ines Armand der zweite Ausländer, der eine Grabstätte unter den Mauern der Festung aus rotem Backstein erhielt.

John Reed wurde am 22. Oktober 1887 in Portland in eine Familie der oberen Mittelschicht geboren. Der Vater seiner Mutter, Henry Dodge Green, war ein reicher Industrieller. Er absolvierte mehrere private Eliteschulen, die Universität Harvard und schrieb Gedichte und Artikel für verschiedene Zeitungen.

Der Enkel eines Milliardärs freundet sich mit Arbeitern an

Eher links orientiert, erwies sich doch eine Begegnung im Mai 1913 als entscheidend für seine Einstellung. In einer Wohnung im Greenwich Village in New York lernte er William „Big Bill“ Haywood kennen, den Vorsitzenden der Industrial Workers of the World (IWW), einer großen internationalen Arbeitergewerkschaft, die 1905 in den USA gegründet worden war. Reed hört ihm zu, als er die Situation in der nahe gelegenen Stadt Paterson, New Jersey beschreibt, wo Tausende von Seidenarbeitern – überwiegend Frauen – einen von der IWW koordinierten Streik führen und unter heftigen Repressionen der Polizei leiden.

Der junge Journalist, er ist 26 Jahre alt, geht nach Paterson. Dort wird er verhaftet. Im Gefängnis trifft er viele der Streikenden. Er freundet sich mit den Arbeitern an – „sanfte, wache, mutige Männer, geadelt durch etwas Größeres als sie selbst“. Der Sohn eines Bourgeois, Enkel eines Milliardärs, hat gerade dieses Größere entdeckt: den Klassenkampf.

Daraus resultiert ein langer Artikel, der im Juni in der sozialistischen Zeitschrift „The Masses“ unter der Überschrift „War in Paterson“ erscheint: „Es herrscht Krieg in Paterson, New Jersey. Aber es ist eine seltsame Art von Krieg. Alle Gewalt geht von einer Seite aus, nämlich von den Fabrikbesitzern. Ihre Diener, die Polizei, verprügeln Männer und Frauen, die sich nicht widersetzen, und trampeln zu Pferd auf Menschenmassen herum, die sich dennoch an das Gesetz halten. Ihre bezahlten Söldner, bewaffnete Detektive, schießen auf und töten unschuldige Menschen. Ihre Zeitungen veröffentlichen brandgefährliche und kriminelle Aufrufe zu kollektiver Gewalt gegen Streikführer. Sie haben die absolute Kontrolle über die Polizei, die Presse und die Gerichte“.

Reed ist von der Lage der Seidenarbeiter so bewegt, dass er eine dramatische Aufführung im Madison Square Garden organisiert, bei der die echten Arbeiter ihre anstrengende Arbeit und die Art und Weise, wie die Polizei sie behandelt, zeigen. Die Aufführung endet mit der „Internationalen“.

Mexiko macht Reed berühmt

Am Ende desselben Jahres 1913 reiste Reed als Korrespondent für die Leitmedien „Metropolitan Magazine“ und „New York World“ nach Mexiko. Dort hat sich eine Armee landloser Bauern unter dem Kommando Pancho Villas erhoben. Der gilt in den USA als Ganove. Reed wird, zur Überraschung der Chefs dieser Zeitungen und seiner Verwandten, zum Freund, Bewunderer und Verteidiger Panchos und dessen aufständischen Bauern. Er erklärt: „Die Amerikaner in Mexiko sind die größte Geißel des Landes“.

Mexiko machte Reed berühmt. Neben seinen zahlreichen Berichten für die amerikanische Presse veröffentlicht er bereits 1914 ein Buch: „Insurgent Mexico“ („Aufständisches Mexiko“). „Die unerlässlichen Attribute der ‚Demokratie‘, die die Amerikaner Mexiko aufzwingen“, schreibt er, „sind die Vertrauensregel, die Arbeitslosigkeit und die Lohnsklaverei.“ Oder: „Ja, in Mexiko herrschen Unruhe und Chaos. Aber dafür sind nicht die landlosen Tagelöhner verantwortlich, sondern diejenigen, die Unruhe stiften, indem sie Gold und Waffen dorthin schicken, nämlich die amerikanischen und englischen Ölgesellschaften.“

Der junge Mann sieht alles von dem schrecklichen Gemetzel

Der Erste Weltkrieg zieht ihn nach Europa, als Kriegsberichterstatter des „Metropolitan Magazine“. Es gelingt ihm, den Konflikt von beiden Seiten der Frontlinie aus zu sehen – zunächst durch die Augen der Entente-Truppen, dann auf der anderen Seite, in den deutschen Schützengräben. Von Italien, Frankreich, England, Deutschland, Griechenland, Serbien und, nach einem ersten Besuch, vom Russischen Reich aus sieht der junge Mann alles von dem schrecklichen Gemetzel.

In Deutschland interviewt er den sozialistischen Abgeordneten Karl Liebknecht, der sich als einziger im Reichstag geweigert hatte, den Kriegskrediten zuzustimmen. Auf seine Frage nach den „Chancen einer Weltrevolution“ antwortet Liebknecht: „Meiner Meinung nach kann aus diesem Krieg nichts anderes hervorgehen.“ „Ich habe anderthalb Jahre in den verschiedenen Ländern und auf verschiedenen Kriegsschauplätzen verbracht“, sollte Reed 1917 schreiben, „ich habe die Hauptstädte aller Kriegsparteien besucht und den Krieg an fünf Fronten gesehen … Überall habe ich dieselbe wesentliche Tatsache festgestellt, ohne Unterlass wiederholt: Dieser Krieg war kein Krieg der Völker.“

Nach seiner Rückkehr in die USA widersetzt er sich deren Kriegseintritt. Im „Liberator“, einer progressiv-revolutionären Zeitschrift, veröffentlichte er einen leidenschaftlich antimilitaristischen Beitrag mit dem Titel „Besorg dir eine Zwangsjacke für deinen Soldatensohn“. Daraufhin wird er wegen „Hochverrats“ vor ein Gericht in New York gestellt. Er kommt frei. Der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Pozner berichtet in seinem Nachwort zu „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ aus dem Jahr 1958, dass er „von seiner Reise Koffer voller Notizen, Dokumente, Plakate und Zeitungen mitbrachte. Der Zoll beschlagnahmte sie. Nach langen Bemühungen gelang es ihm, die Rückgabe seines Eigentums zu erwirken. Und der Prozess verlief im Sande, die Geschworenen konnten sich nicht einigen.“

John Reed und Louise Bryant, eine pro-bolschewistische Frauenrechtlerin und Journalistin, die er 1916 geheiratet hatte, kamen im September 1917 in Petrograd an, um über die Revolution zu berichten. Über den in den USA lebenden Bolschewiken V. Volodarski nahm Reed schnell Kontakt zu den Revolutionären auf. Getreu seiner beruflichen Überzeugungen sprach er mit allen politischen Gruppen und der provisorischen Regierung Kerenskis. Am 25. Oktober 1917 berichtet Reed aus dem Winterpalast in Petrograd, zu dem ihm sein amerikanischer Pass Zutritt gewährt. Am selben Abend kehrt er dorthin zurück – mit den Rotgardisten, die den Palast stürmten!

1920 schenkt Lenin dem Journalisten ein kurzes, aber berühmtes Vorwort

Zurück in New York schreibt er in weniger als einem Monat das Buch, für das er später berühmt werden sollte: „Ten Days That Shook the World“ („Zehn Tage, die die Welt erschütterten“), das 1919 veröffentlicht wird. Auf das erste Exemplar schreibt Reed: „Für meinen Verleger Horace Liveright, der beim Druck dieses Buches fast bankrott gegangen wäre“ – er war der einzige in ganz New York, der sich bereit erklärt hatte, das Buch zu veröffentlichen.

Lenin hat es gelesen, mehr als gelesen. 1920 bietet der dem amerikanischen Journalisten ein kurzes, aber berühmtes Vorwort zur Neuauflage: „Mit größtem Interesse und nicht erlahmender Aufmerksamkeit las ich John Reeds Buch ‚Zehn Tage, die die Welt erschütterten‘, und ich möchte es den Arbeitern in aller Welt von ganzem Herzen empfehlen. Dies ist ein Buch, das ich in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen möchte. Es gibt eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse, die für das Verständnis der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats von größter Bedeutung sind. Diese Probleme werden gegenwärtig weit und breit diskutiert, aber bevor man diese Ideen annimmt oder verwirft, muß man die ganze Bedeutung einer solchen Entscheidung begriffen haben. Ohne Zweifel wird John Reeds Buch zur Klärung dieser Frage beitragen, die das Grundproblem der internationalen Arbeiterbewegung ist.“

Im Sommer 1919 hilft Reed bei der Gründung der Communist Labor Party (einer der Vorläufer der im Mai 1921 gegründeten Kommunistischen Partei der USA), die sich damals von der Socialist Party of America abspaltete. Im Oktober reist er wieder nach Sowjetrussland und nimmt als amerikanischer Delegierter am 2. Kongress der Kommunistischen Internationale teil, der vom 19. Juli bis zum 7. August 1920 stattfindet.

Reed nimmt am Kongress der Völker des Ostens in Baku, Sowjet-Aserbaidschan, teil, einer Versammlung von 1.900 Delegierten aus ganz Asien und Europa, von der Kommunistischen Internationale organisiert, eröffnet am 1. September. Der revolutionäre Gewerkschafter Alfred Rosmer erzählt in seinen Memoiren „Moskau unter Lenin“ eine Anekdote: „In dieser Stadt Baku, die für ihre Ölindustrie berühmt ist, fragte Reed, der ein paar Worte Russisch gelernt hatte, die Zuhörer: ‚Wissen Sie nicht, wie Baku auf Amerikanisch ausgesprochen wird? Es wird oil (Öl – Anm. d. Red.) ausgesprochen!‘ Die feierlichen Gesichter wurden plötzlich von Gelächter geschüttelt“.

„Nur wenige Schriftsteller haben es wie er verstanden, die Ereignisse, an denen sie so eng beteiligt waren, von so hoher Warte aus zu beherrschen“

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Beerdigung von John Reed in Moskau 1920 (Foto: public domain)

Reed kehrt am 15. September 1920 nach Moskau zurück, erkrankt an Typhus und stirbt am 17. Oktober, fünf Tage vor seinem 33. Geburtstag. Es wurde gemunkelt, dass er hätte überleben können, wenn die US-Regierung nicht ein Embargo gegen für Sowjetrussland bestimmte Medikamente verhängt hätte. Rosmer berichtet in seinem Buch, dass, als er und andere aus Baku nach Moskau zurückkehrten, „uns eine traurige Nachricht empfing. John Reed, der vor uns zurückgekehrt war, lag im Krankenhaus und war an Typhus erkrankt. Es wurden keine Mühen gescheut, um ihn zu retten, aber alles war vergeblich und einige Tage später starb er. Sein Leichnam wurde in der großen Halle des Gewerkschaftshauses aufgebahrt. Am Tag der Beerdigung war bereits der Winter eingekehrt und es fiel Schnee. Wir waren erschüttert“.

Rosmer fährt fort: „Es wurde eine Begräbnisstätte für ihn innerhalb der Kremlmauern gefunden, in dem Bereich, der für die in der revolutionären Schlacht gefallenen Helden reserviert war. Die Abschiedsworte wurden von (Nikolai) Bucharin für das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei, von (Alexandra) Kollontai und von seinen Genossen des Exekutivkomitees gesprochen. Louise Bryant, die nur gekommen war, um ihn sterben zu sehen, stand da, völlig überwältigt von ihrer Trauer. Die ganze Szene war unglaublich traurig“.

„Alles in allem“, schreibt Vladimir Pozner, „ist das Erstaunliche nicht, dass John Reed Fehler gemacht hat, sondern dass er so wenige und so unbedeutende Fehler gemacht hat. Nur wenige Schriftsteller haben es wie er geschafft, die Ereignisse, an denen sie so eng beteiligt waren, von so weit oben zu beherrschen. In ‚Zehn Tage, die die Welt erschütterten‘ lernte die Welt die Oktoberrevolution kennen: Noch heute gibt es in keiner Sprache – nicht einmal auf Russisch – ein besseres Buch über das gleiche Thema.“ Das Buch wurde vor 104 Jahren veröffentlicht. Es hört nicht auf, diese Umwälzung der Welt zu beleuchten.

Dieser Beitrag erschien am 13. Mai in L’Humanité“.

Bücher von John Reed sind antiquarisch im UZ-Shop erhältlich. Dort gibt es auch den Film „Oktober“ von Sergej Eisenstein, der auf Reeds „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ basiert.

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