In monopolkapitalistischen Gesellschaften herrscht eine zahlenmäßig unbedeutende Minderheitenklasse. Der hochentwickelte gesellschaftliche Charakter der Produktion, also die mannigfaltigen Abhängigkeiten und Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Gliedern der Produktion, erzeugt für die Herrschenden ein Problem. Es reicht nicht mehr, die Beherrschten davon abzuhalten, sich gegen ihre Beherrschung aufzulehnen. Die Monopolbourgeoisie ist zu ihrer Herrschaftsausübung auf die aktive Mitarbeit und Teilnahme der Bevölkerungsmehrheit angewiesen.
Die Monopolbourgeoisie setzt hierzu auf ein Herrschaftsmodell, das auf Zustimmung der Bevölkerung beruht. Sie weicht auf ein Diktaturmodell aus, wenn diese Zustimmung ausbleibt oder auszubleiben droht. Die Zustimmung ist möglich, wenn die Bevölkerung die Interessen der Monopole fälschlicherweise als ihre eigenen Interessen deutet. Diese Verfälschung des Interessenbewusstseins ist deshalb ständiger und unverzichtbarer Bestandteil jeder monopolkapitalistischen Herrschaft.
In ihrem Beitrag über die „Manipulation der Massen“ in der UZ vom 19. Juni 2020 hat Ursula Vogt Methoden zur Verfälschung des Bewusstseins dargestellt.
Reinhard Opitz schrieb 1974: „In einer monopolkapitalistischen Gesellschaft ist Integration demnach der zusammenfassende Name für alle Mechanismen und Vorgänge, die ein dem spezifisch monopolkapitalistischen Herrschaftsinteresse angepasstes Verhalten der nichtmonopolistischen Bevölkerungsteile bewirken, insbesondere also systemnotwendiges falsches Bewusstsein, wobei sich versteht und bekannt ist, dass dieses Letztere keineswegs nur auf ideologische Einflussnahme, also auf Propaganda und Bewusstseinsindustrie, sondern mehr noch und primär auf die bloße Existenz des Systems (…) und dessen vielfältige anonym wirkende Anpassungszwänge zurückgeht.“
Im Folgenden soll auf diese „auf die bloße Existenz des Systems“ beruhende Quelle von falschem Bewusstsein eingegangen werden und gezeigt werden, wie deren Zusammenspiel mit den Methoden der Propaganda und äußeren Manipulation funktioniert.
Quellen falschen Bewusstseins
Die Welt, in der wir leben, ist widersprüchlich: Arbeitende stehen auf dem Arbeitsmarkt in einem Konkurrenzverhältnis, gesamtgesellschaftlich eint sie das Interesse am gemeinsamen Kampf gegen das Kapital. Wie Marx nachwies, wird die Ware Arbeitskraft zu ihrem Preis, dem Lohn, verkauft. Deswegen funktioniert das Ausbeutungsverhältnis. Produkte scheinen an sich Wert zu haben und austauschbar zu sein, als hätten sie eine bestimmte Menge Wert- oder Warenatome in sich und nicht, weil sie in einem gesellschaftlichen Verhältnis produziert werden, um als Waren ausgetauscht zu werden. Diese im Kapitalismus angelegten realen Widersprüche meint Opitz, wenn er vom notwendig falschen Bewusstsein spricht, das durch die bloße Existenz des kapitalistischen Systems entsteht.
In einer durch Interessengegensätze geprägten Welt muss auch das Bewusstsein notwendigerweise gespalten sein. Und diese Notwendigkeit wirkt bereits, bevor die vielfältigen Erklärungs- oder Verschleierungsansätze auf die Menschen einwirken. Die Welt spiegelt sich in ihrer Widersprüchlichkeit in unserem Bewusstsein wider. Diese Widerspiegelung zeigt die Wirklichkeit und ist damit richtig, da sie die Erscheinungen abbildet. Das ideologisch Falsche in unserem Bewusstsein entsteht nicht erst im Bewusstsein, sondern es ist bereits in der Wirklichkeit „falsch“, weil diese eben widersprüchlich ist: Das Wesen hinter den Erscheinungen kann sich nicht abbilden, sondern muss begriffen werden. Opitz bezeichnet diese Widerspiegelung der Welt als primäre Bewusstseinsfalsifizierung (Bewusstseinsverfälschung).
Die Methoden der Propaganda, die Manipulation der Massen, kann überzeugen und wirksam werden, insbesondere wenn sie an diese Widerspiegelung der Realität anknüpft und sie subjektiv plausibel erklärt. Diese Form der Bewusstseinsfalsifizierung nennt Opitz sekundär. Um in unserem Bild zu bleiben: Durch die Manipulation wird der Spiegel, der die Welt teils richtig zeigt, verbogen und stellenweise blind gemacht, was die Widerspiegelung verzerrt, die tatsächlichen Verhältnisse verschleiert.
Dialektische Widerspiegelung
Das Sein wird nicht durch das Bewusstsein „abfotografiert“, es bestimmt das Bewusstsein „lediglich“ in letzter Instanz. Die erlebten Widersprüche werden unterschiedlich verarbeitet: Um der Konkurrenz zu begegnen, können sowohl Ellenbogenmentalität als auch Solidarität als brauchbare Mittel angesehen werden. Das ist abhängig davon, von welchem Klassenstandpunkt aus wir die Widersprüche „erklärt“ bekommen, ob diese Erklärung zu unseren Erfahrungen passt, unbemerkt übernommen wird und als Teil des eigenen Bewusstseins erscheint.
Ein Beispiel: „Unser Lohn ist zu niedrig, wir haben viel zu wenig Personal. Spahn und die ganzen Politiker haben eben einfach noch nie im Krankenhaus gearbeitet! Die wissen nicht, wie das ist, sind völlig abgehoben.“ Die Krankenpflegerin erkennt die schlechten Arbeitsbedingungen und den geringen Lohn. Sie erkennt, dass das gegen sie und ihre Kolleginnen geht. Sie erkennt auch, dass die Organisation des Gesundheitswesens nicht ihren Interessen, nicht denen der dort Arbeitenden insgesamt und auch nicht denen der Patienten entspricht. Sie begreift aber die Kolleginnen und Kollegen nur als Belegschaft, noch nicht aber als Klasse; fordert eine faire Bezahlung statt der Abschaffung der Ausbeutung.
Die Kollegin verfügt über „gewerkschaftliches Bewusstsein“. Sie erkennt Ungerechtigkeiten und hat sich, um diese zu beseitigen, in der Gewerkschaft organisiert. Die Krankenpflegerin erklärt sich die von ihr beschriebene unvernünftige Einrichtung des Gesundheitswesens als Fehlverhalten der politisch Verantwortlichen. Diese würden teils aus Unkenntnis der Situation, teils aus ihrer Entfernung vom Leben der normalen Bürger falsche Entscheidungen für die gesamte, als klassenlos vorgestellte Gesellschaft treffen. Die verzerrt wahrgenommene Realität vermischt sich mit einer den Interessen des Monopolkapitals entsprechenden Deutung: Wer die Schuld auf einzelne, inkompetente Politiker schiebt, kann damit die systemischen Ursachen der Situation im Gesundheitssystem verschleiern.
Politikerschelte erfreut sich deshalb auch in den Medien einer großen Beliebtheit. Sie erlaubt, die mit Notwendigkeit entstehende Erfahrung, dass Entscheidungen der Politik sich gegen die Interessen der Mehrheit richten, von ihrem Klasseninhalt zu trennen. Das bietet dann die Anknüpfungspunkte für reaktionäre Erklärungen, die die berechtigte Wut gegen die bürgerliche Demokratie lenken.
Konkurrenzdenken
Auch bürgerliche Intellektuelle befassen sich mit Konkurrenzdenken und „Ellenbogenmentalität“. Sie können aber nicht erkennen, dass beide nur die Widerspiegelung des wirklichen Konkurrenzverhältnisses im Bewusstsein sind. Sie befassen sich nicht mit der Abschaffung des realen Konkurrenzverhältnisses, sondern versuchen Erklärungen zu finden, produzieren also Ideologien. Eine davon wäre die Standortlogik. Sie knüpft an der realen Abhängigkeit des Arbeiters vom Erhalt seines Arbeitsplatzes an und unterstellt ein gemeinsames Interesse von Arbeiter und Kapitalist am Standort. Geschickt verschleiert wird der gesamtgesellschaftliche Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit.
Am Konkurrenzverhältnis setzen auch – als sekundäre Bewusstseinsfalsifizierung – rassistische Ideologien an. Sie bieten dem Einzelnen eine Erklärung für den von Konkurrenz geprägten Alltag und dienen als Rechtfertigung für ein radikalisiertes und brutalisiertes Konkurrenzverhalten zum Überleben in diesem Alltag. Genau hier wird es wichtig, die unterschiedliche Struktur zu beachten, in der die primäre und die sekundäre Bewusstseinsfalsifizierung auftreten: Das Konkurrenzdenken spiegelt das reale Sein der Menschen im Kapitalismus als primäres Bewusstsein. Anders jedoch beim Rassismus. Hier unternimmt die Bourgeoisie enorme Anstrengungen und betreibt eigens dafür geschaffene „Agenturen“, die sich mit der Propagierung solcher Ideologien befassen. Im sekundären Bewusstsein vermitteln sich die Inhalte nicht als Widerspiegelung des Seins, sondern aus anderem Bewusstsein. Dass dies möglich ist, liegt schlicht daran, dass Menschen miteinander kommunizieren und Vorstellungen und Einsichten im Austausch miteinander und selbst über historischen Abstand hinweg als Kultur vermitteln können. Die gesellschaftliche und geschichtliche Wirkung solcher sekundärer Bewusstseinsinhalte hängt davon ab, wessen Klassenstandpunkt hierbei vermittelt wird.
Klassenbewusstsein schaffen
Der für sich selbst bewusst gewordene Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse ist die historische Mission zur Überwindung der kapitalistischen Klassenherrschaft. Und weil dies gleichbedeutend ist mit der Aufhebung aller Klassenherrschaft, ist ihr Standpunkt auch „die menschliche Gesellschaft oder die gesellschaftliche Menschheit“.
Im Rassismus vermittelt sich der Klassenstandpunkt der Monopolbourgeoisie. Diese bindet die anderen Teile der Kapitalisten mit dem gemeinsamen Interesse an Spaltung der Arbeiterklasse zur Sicherung der Profite ein. Gleichzeitig dient der Rassismus der Zurichtung der Bevölkerung auf Durchsetzung imperialistischer Herrschaft und Kriegsfähigkeit.
Die Unterscheidung der beiden Bewusstseinsformen ist notwendig, um unsere Strategie richtig zu bestimmen. Wer die Bedeutung des primären Bewusstseins und das Verhältnis von Basis und Überbau missachtet, wird zu folgendem Fehler neigen: Er sieht nicht, dass Konkurrenzdenken in der kapitalistischen Wirklichkeit eine reale Basis hat und wird den Fehler begehen, diejenigen, die meinen, ihre Interessen in Konkurrenz zu „den Fremden“ durchsetzen zu müssen, wegen ihres Konkurrenzkampfs moralisch zu verurteilen.
Wer missachtet, dass sekundäres Bewusstsein keine spontane Widerspiegelung des Seins im Bewusstsein ist, sondern dass Bewusstseinsinhalte auch direkt von einem anderen Bewusstsein vermittelt werden können, wird leicht einen anderen Fehler begehen: Er prüft nicht mehr, wessen Klassenstandpunkt in einem Bewusstseinsinhalt vermittelt wird. Er stellt lediglich fest, dass es „die da unten“ sind, in deren Köpfen solche Inhalte auftreten und dort dazu dienen, sich den eigenen Interessenkampf zu erklären. Und wahlweise wird er dann im elitären Gefühl moralischer Überheblichkeit empfehlen, „die Rassisten“ auszugrenzen und zu isolieren. Oder aber er wird dem umgekehrten Fehlschluss erliegen, am Rassismus wäre etwas Fortschrittliches, Demokratisches, weil er im „einfachen Volk“ auftritt. Dann erscheint die Forderung nach Schließung von Grenzen zur Verbesserung individueller Konkurrenzposition als Anliegen oppositioneller Strategie.
Der Herren eigner Geist
Der deutsche Kommunist Hans Günther hat 1934 seiner Untersuchung der Ideologie der Nationalsozialisten den Titel gegeben: „Der Herren eigner Geist“. Der Verzicht darauf, zu prüfen, wessen Klassenstandpunkt sich im sekundären Bewusstsein vermittelt, führt leicht dazu, uns die Übernahme solcher Ideologie zu empfehlen. Doch das hieße für uns, den Fehler zu begehen, derartig eignen Geist der kapitalistischen Herren zu übernehmen.
Die Unterscheidung der Bewusstseinsformen ermöglicht uns, zu erkennen, dass es nicht reicht, im Sinne bürgerlicher Aufklärung eine vernünftige Welt zu propagieren. Solches Unterfangen ignoriert die Bedeutung der primären Bewusstseinsfalsifizierung, mit der die Bourgeoisie durch „die bloße Existenz des Systems“ einen Machtvorsprung besitzt. Dieser lässt sich nicht durch Interpretieren der Welt, sondern nur durch deren Veränderung überwinden. Und sie führt zu der Erkenntnis, dass es die Organisation der Kommunistischen Partei braucht, in der sich das Bewusstsein der Notwendigkeit und der praktischen Möglichkeit vermittelt, den Kapitalismus mit seinen den Menschen verächtlich machenden Widersprüchen zu überwinden.