Warum man das Schlemmen nicht der Bourgeoisie überlassen darf. Ein Gastbeitrag

Wie die chinesische Küche nach Dessau kam

Michael Polster

Heute haben in der anhaltinischen Stadt Dessau China-Restaurants klangvolle Namen wie Chai Huo Hu, Bin, Hang-Zhou, oder auch Lotusgarten und bieten auf ihren Menükarten eine Vielzahl chinesischer Gerichte an. Ob Teigtaschen, Pekingpfannkuchen, Frühlingsrollen, scharfer Tofu oder die allseits beliebte Pekingente, für alle Geschmäcker ist immer was dabei. Klassische Elemente der chinesischen Küche sind unter anderem Weizen, Reis, Gemüse und Schweinefleisch.

Die chinesische Küche ist eng mit der politischen Geschichte der Volksrepublik China verbunden. Politische Ereignisse und Strömungen haben die Esskultur und -traditionen in China beeinflusst, indem sie neue Essgewohnheiten und -traditionen förderten oder veränderten. Die Kulturrevolution unter Mao Zedong führte zu einer Verbreitung der Ideologie des „Gemeinschaftsessens“, in unseren Gefilden auch gern als Gemeinschaftsverpflegung bezeichnet, bei dem Familien und Kollektive gemeinsam aßen, um die Solidarität und die sozialistische Ideologie zu stärken. Auch in der DDR war die Gemeinschaftsverpflegung ein tragendes Element der Ernährungsangebote für die Bevölkerung in Betrieben, Schulen, Krankenhäusern und Universitäten. Der Gang zur Betriebskantine war ein tägliches Ritual – und das wollte keiner missen. Die Betriebe haben ihren Beschäftigten in den Kantinen neben einer Versorgung mit Bockwurst und belegten Brötchen in der Frühstückspause auch warme Mittagessen ausgegeben. Eine warme Mahlzeit gab es auch in Mittagschichten und den Nachtschichten, wenn in den Betrieben in Schichten gearbeitet wurde. Da in der Regel in der DDR auch Frauen ganztägig berufstätig waren, hatte das Mittagessen in den Betrieben einen besonderen Stellenwert.

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Kochen für die Beschäftigten – vom Schwerstarbeiter bis zum Betriebsleiter –, dafür waren die Küchen der Betriebsversorgung verantwortlich, so auch die im Waggonbau Dessau, der mit seiner Produktion von Schienenfahrzeugen zu Zeiten der DDR zu den weltweit größten Hersteller von Kühlwagen gehörte. Man produzierte für den Bedarf der Sowjetischen Eisenbahnen und später für weitere Mitgliedsbahnen der Organisation für die Zusammenarbeit der Eisenbahnen. Es wurden weit über 54.000 Schienenfahrzeuge in den Werkhallen des VEB Waggonbau Dessau hergestellt. Allein in die SU wurden über 40.000 Kühlfahrzeuge geliefert.

Die Produktion von Kühlwagen war bis zur Betriebsumwandlung 1990 beziehungsweise Betriebsschließung 1995 die Hauptaufgabe des Betriebes. Die Beziehungen zur VR China spielten dabei immer eine wichtige Rolle. Das Land entwickelte sich neben der So­wjet­union zum zweitwichtigsten Handelspartner des Dessauer Schienenfahrzeugherstellers. In den 1980er Jahren gab es dann sogar ein besonderes „Joint-Venture“ mit der Volksrepublik, mit dem Ziel, dass Ende der 80er Jahre China in der Lage sein sollte, Kühlwagen und -züge im eigenen Land herzustellen. Dies bedurfte einer engen Kooperation und natürlich der beruflichen Aus- und Weiterbildung chinesischer Fachkräfte. Eine rege Reisetätigkeit setzte ein und Experten aus der DDR reisten zum Partnerbetrieb nach Wuhan. Dort gab es schon einige ausgebildete Arbeiter, auch deutsche aus dem VEB Waggonbau, sie waren zur Hilfe bei der Zusammenstellung der Komponenten nach Wuhan abgeordnet gewesen. Die Ausbildung der chinesischen Arbeiter erfolgte im Rahmen des Technologietransfers zwischen beiden Staaten. Doch zur weiteren Qualifizierung bedurfte es der Ausbildung in der DDR. Und so kam es zum erstmaligen Einsatz von chinesischen Vertragsarbeitern aus Wuhan Ende der 1980er Jahre in Dessau, die in vier Jahren zu spezialisierten Waggonbauern ausgebildet werden sollten.

Die chinesischen Vertragsarbeiter waren Gäste auf Zeit. Entweder für zwei oder für vier Jahre. Über 388 chinesische Werktätige kamen ab Februar 1987 in Dessau an. Darunter befanden sich acht Köche, die dann nicht nur für die Chinesen, sondern frei käuflich auch für die anderen Werktätigen in der Betriebskantine kochten. Dieses Angebot wurde gerne angenommen. Erstmalig kamen nun die Dessauer Werktätigen mit chinesischem Essen in Kontakt. Es gab ja bis dahin keine chinesischen Restaurants in Dessau. Aufgrund der großen Beliebtheit der chinesischen Küche sah man sich gezwungen, in der Werksküche im Laufe der Zeit zusätzliche Küchengeräte anzuschaffen, um beispielsweise Fleischtaschen herstellen zu können. Auch in der Freizeit kamen sich Gäste und Einheimische kulinarisch näher. Die Dessauer zeigten Inte­resse am Essen des anderen. Bei Besuchen im Wohnheim wurde für die deutschen Gäste gekocht. In der Betriebskantine verlangten die Deutschen immer mehr die chinesischen Angebote und die Gäste aus China standen Schlange nach Sauerkraut, Bratwürsten, Schweinebraten und Erbseneintopf. Mancher Chinese blieb nach 1989 in Dessau, arbeitete als Koch in den jetzt entstehenden China-Restaurants am Bahnhof und im Stadtteil Törten. Asiatische Restaurantangebote sind heute auch fester Bestandteil der Dessauer Gastronomieszene. Und manche von ihnen, wie das China-Restaurant Dessau, haben ihre Wurzeln bei den chinesischen Waggonbauern der späten Achtzigerjahre.

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"Wie die chinesische Küche nach Dessau kam", UZ vom 20. September 2024



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