Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) hatte die Marschrichtung für den Bundeswehreinsatz in Litauen vorgegeben. In einem Tweet an ihre Panzergrenadiere im NATO-Militärlager Rukla schrieb sie: „Es geht darum, unsere Werte und unsere Ordnung zu verteidigen.“ Das Panzergrenadierbataillon 92 aus Munster ist seit Februar in Litauen. Nach zwei Monaten und etlichen Kriegsübungen durfte sich der 2. Zug des Bataillons im Rahmen einer „Erholungsmaßnahme“ ein freies Wochenende in einem Hotel am Stadtrand von Rukla gönnen. Bei der Party am 30. April floss der Alkohol in Strömen, es folgten rassistische Beleidigungen, Gewaltexzesse, das Absingen eines verspäteten Geburtstagsständchens zu Ehren des „Führers“ und ein filmisch dokumentierter sexueller Übergriff auf einen schlafenden Soldaten. Dem Hotelpersonal, das seit Jahren an die Partywochenenden ausländischer Truppenteile gewohnt ist, wurde es zu viel. Es verständigte die Feldjäger.
Ganz nebenbei wurde im Rahmen der dann anlaufenden internen Ermittlungen festgestellt, dass in der Einheit 569 Schuss Handwaffenmunition auf unerklärliche Weise verschwunden waren. Wie schon bei den innerdienstlichen Nachforschungen in Sachen „Munitionsschwund“ gegen Mitglieder des Kommandos Spezialkräfte (KSK) geht die Ermittlungsgruppe unter Generalleutnant Johann Langenegger auch hier nicht von einem Diebstahl, sondern von einem „Buchungsfehler“ in der Munitionskladde aus. Soldaten berichteten im Rahmen ihrer ersten Vernehmungen, dass sie erheblichem Druck ausgesetzt waren, Informationen über den Vorfall nicht nach außen weiterzugeben. Offensichtlich wurde auch in Rukla –wie zuvor beim KSK-Munitionsskandal – wochenlang versucht, „die Sache intern zu regeln“.
Etwa 600 deutsche Soldaten sind aktuell im Rahmen des bereits fünfjährigen NATO-Dauereinsatzes „Enhanced Forward Presence“ am Standort Rukla stationiert. Ab dieser Woche werden es drei Dutzend weniger sein, der feiernde Grenadierzug wurde von höchster Stelle zur Hindenburg-Kaserne in Munster zurückbeordert.
Kaum war die Meldung über die Vorgänge in Rukla an die Presse gelangt, versuchte sich der „Spiegel“ am 14. Juni in Spekulationen, ob hier nicht der Russe seine Finger im Spiel hatte. Russland beobachte den NATO-Einsatz im Baltikum „intensiv“ und habe schon in der Vergangenheit Desinformationskampagnen lanciert, „um den Rückhalt für die NATO-Mission in Litauen“ zu unterminieren. Als aber doch allzu viele Details aus Rukla an die Öffentlichkeit drangen, war davon nicht mehr die Rede. Mittlerweile hat Regierungssprecher Steffen Seibert die Devise ausgegeben, ab sofort werde der Sachverhalt mit „äußerster Entschiedenheit aufgeklärt“. Wie es um diese Entschiedenheit bestellt ist, weiß man in Rukla: Die im Januar 2020 aufgenommenen Ermittlungen gegen einen dort stationierten deutschen Soldaten wegen rassistischer Äußerungen sind bis heute nicht abgeschlossen. Genauso wenig wie jener Fall aus dem Sommer 2020, als vier deutsche Soldaten einen Franzosen rassistisch angingen. Aus dem Verteidigungsministerium ist zu hören, dass Annegret Kramp-Karrenbauer in Kürze mit ihrem litauischen Amtskollegen Arvydas Anušauskas über die Hotelparty in Rukla konferieren wird. Sie wird versuchen, die lädierte Werteordnung wieder gerade zu rücken.