In Lateinamerika geht die Debatte über das Scheitern der linken Regierungen weiter

Wie das Erreichte verteidigen?

Von Günter Pohl

Amtsenthebung der brasilianischen Präsidentin, Sieg des Milliardärs Piñera in Chile, mutmaßlicher Wahlbetrug in Honduras, deftige Wahlniederlage und nun juristische Verfolgung der ehemaligen argentinischen Präsidentin Fernández, erste Rückschläge für die bolivianische Regierung, Krise in Venezuela, massiver Streit in der Regierungspartei Ecuadors, kaum vernehmbarer Widerstand gegen das neuerliche Abschlachten eines Friedensprozesses in Kolumbien – allenthalben ist die Krise der fortschrittlichen Kräfte Lateinamerikas sichtbar. Teils hausgemacht, teils durch äußeren Druck, aber immer mit dem Ergebnis politischen Geländegewinns für die lokale Rechte.

Mit dem Sieg von Hugo Chávez in Venezuela Ende 1998 begann sich in Lateinamerika, zunächst vor allem in Südamerika, das politische Pendel langsam aber sicher für zehn Jahre, nach links auszurichten. Die konservativen und offen rechten Kräfte in der Region brauchten einige Jahre, um diesem Trend etwas entgegenzusetzen – und da ein Grund für die neue Lage die damalige tiefgreifende Krise des Parteiensystems war, auf die die Linken in den meisten Fällen mit erfolgreichen Parteineugründungen reagiert hatten, mussten ausgerechnet die Konservativen einen neuen Weg einschlagen. Und erstaunlicherweise gelang es den Rechten tatsächlich.

Die Zurückerlangung der Macht ging da, wo es möglich war, über reguläre Wahlen vonstatten, meist mit dem Einsatz von bekannten Größen aus dem öffentlichen Leben, was Superreiche genauso einschloss wie Showgrößen oder auch Politiker, die radikalen Lösungen den Vorzug gaben. Kern der neuen Strategie war, dass diese Kandidaten nicht mehr ohne Weiteres mit den alten Parteien der Rechten in Verbindung zu bringen waren; entweder traten sie also mit Neugründungen an oder zwar mit altem Logo, aber völlig auf sie zugeschnittenem Programm. Da, wo diese Strategie nicht hinreichend war, bediente man sich einer alten Methode, die aber ebenfalls den neuen Bedürfnissen angepasst war: Die Machtergreifung ohne Wahlen. Aber eben auch ohne Militär, sondern mit juristisch-parlamentarischen Absetzungen. So begann das Pendel ab 2009 wieder zurückzulaufen, aber da dieser Trend angesichts der Vielzahl der zurückzugewinnenden Staaten (es hatte ab 1998 – natürlich in unterschiedlicher Qualität – eine Linksverschiebung in nicht weniger als 17 von 20 unabhängigen lateinamerikanischen Staaten gegeben) gemächlich voran ging und hierzulande viele linke Aktivisten nicht die Tendenz, sondern lieber Augenblicke einfangen, wurde die Thematik in Europa zunächst fast nicht gesehen. Obwohl der Rollback der Rechten seit 2010 deutlich erkennbar war (siehe z. B. „Rückkehr der Rechten“ in „jW“ vom 22.6.2010), freute sich ein Großteil der Linken in Europa noch einige Jahre über den angeblich kaum gebremsten Linkstrend.

Waren irgendwann alle auf demselben Tatsachenboden gelandet, brauchte es bei den Gründen für das rechte Rollback wiederum einige Jahre für ein weitgehendes Einverständnis. Dass mit den nicht auf Dauerhaftigkeit angelegten Reformpolitiken, die sich vor revolutionären Umgestaltungen scheuten, diese Entwicklung unvermeidlich sein würde, war klügeren Köpfen in den jeweiligen Linksregierungen durchaus von Beginn an klar, während vor allem aus dem Umfeld der Linksparteien Europas trotzig immer weiter von einer „sozialistischen Entwicklung“ gesprochen wurde. Illusionistische Annahmen korrelieren in aller Regel mit Äußerungen von Seiten der Rechten, die diese – auch in deren Analyse angeblich sozialistische – Entwicklung bekämpfen. Dieser Druck von rechts gibt den fortschrittlichen Regierungen wiederum eine natürliche Legitimation bei Linken, und revolutionäre Kräfte sind demnach aufgefordert, eine zwar periodisch – und nach Rosa Luxemburg sogar quasi gesetzmäßig – zurück nach rechts führende Politik zu verteidigen. Tun sie es, delegitimieren sie ihre eigene revolutionäre Perspektive vor den verarmten Massen – tun sie es nicht, laufen sie Gefahr in sektiererische Politik zu verfallen. Das ist das Dilemma der Revolutionäre in nichtrevolutionären Zeiten, in denen gleichzeitig Nichtrevolutionäre allzu hörbar von Revolution reden.

Eine Konferenz der „Lateinamerikanischen Soziologievereinigung“ und des „Lateinamerikanischen Rats der Gesellschaftswissenschaften“ hat sich Anfang Dezember in Montevideo mit der Thematik „Krise der fortschrittlichen Kräfte und Offensive der Rechten“ auseinandergesetzt. Dabei stand die Frage im Mittelpunkt, ob es sich bei den negativen Entwicklungen um ein Problem des Bewusstseins der Regierten oder der Politik der Regierenden handelt. Die Referenten, ob die abgesetzte brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff, der frühere uruguayische Präsident José Mujica oder der aktuelle Vizepräsident Boliviens, Álvaro García Linera, stimmten darin überein, dass der Hauptgrund in der Bewusstseinslage der Menschen, konkret der Mittelschichten, liege. Damit ist Marx’ Diktum „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das gesellschaftliche Bewusstsein“ scheinbar bestätigt; bei genauerem Blick darauf jedoch geradezu auf den Kopf gestellt.

Diejenigen, die eine Politik hätten einleiten können, die die entwicklungshemmende Auslandsverschuldung, die Ressourcen vernichtende und in weitere Abhängigkeit bringende Rohstoffexportpolitik und die Armut produzierenden Produktions- und Besitzverhältnisse perspektivisch umkehren könnten, verlangen demnach tatsächlich von den Massen, zunächst mehr Bewusstsein zu erlangen als es diejenigen hätten, die von ihnen gewählt wurden und die die Schlüssel zur Veränderung in der Hand halten bzw. gehalten haben – also sie selbst. Gerade so, als ob es nicht die kämpfenden Menschen gewesen wären, die die fortschrittlichen Regierungen an die Schalthebel gebracht hatten. Und gerade so, als ob die bloße intellektuelle Einsicht in die Notwendigkeit der Erlangung der nächsthöheren Gesellschaftsform Sozialismus die konkrete politische Aktion ersetzen würde. Diese Kämpfe müssen von den Massen ausgehen. Und eine von ihnen an die Regierung gebrachte Formation muss diese dann ausbauen und nicht etwa bremsen. Es zeigt sich hier – wie auch bei denjenigen, die glauben machen wollen, die Fortschrittsprozesse in Lateinamerika seien ohne die Existenz des sozialistischen Kuba undenkbar gewesen – eine bemerkenswerte Geringschätzung der konkreten Kämpfe konkreter Menschen und eine schematische Überhöhung der allgemeinen Einsichten in das Notwendige.

Eine Differenzierung bei den Referent/inn/en ergab sich jedoch in der Bewertung der Politik, die sie gemacht haben. Während Frau Rousseff offenbar keine Fehler bei ihrer nicht selten wirtschaftsnahen Politik festmachen kann und José Mujica im Alter von Sozialismus gar nicht, vom menschlichen Egoismus aber viel redet, sieht Álvaro García im Gegensatz dazu durchaus eine ganze Reihe von Fehlern; darunter ein Missverhältnis zwischen charismatischer und kollektiver Führerschaft oder die Korruption als starkem Feind der moralischen Integrität.

Die in „UZ“ wiederholt geäußerte Annahme, dass am Ende der hohen Rohstoffpreise, mit denen die vielfältigen, aber eben reformistischen Sozialprogramme finanziert wurden, auch das Ende der Regierungen stehen würde, solange an den Besitzverhältnissen nichts geändert wird, hat sich leider bewahrheitet; das stellte nicht zuletzt Rosa Luxemburg vor bald hundertzwanzig Jahren mit ihrer Aussage fest, wonach reine Reformen in Koexistenz mit Privatbesitz an den Produktionsmitteln eher vom Sozialismus wegführen als zu ihm hin. Letztlich scheitern die Linksregierungen Lateinamerikas an den Widersprüchen des Systems, das wenigstens einige von ihnen zu ändern angetreten waren: An dessen Krisenhaftigkeit, an den verschiedenen Exportpreisverfallen und damit einhergehend an der immer schwieriger zu leistenden Sozialpolitik, mit der die unterprivilegierten Massen über zwei bis drei Wahlperioden zu halten waren. Weil dort der paternalistische Ansatz von Sozialpolitik von Anreizen zur Selbstverwaltung begleitet ist, hat sich Venezuelas Regierung bei allen Schwierigkeiten eine knappe, aber immer noch andauernde Unterstützung der armen Klassen sichern können. Und in Bolivien ist die indigene Mobilmachung nach wie vor eine Siegesgarantie für die „Bewegung zum Sozialismus“ von Präsident Evo Morales. Aber diese beiden Länder sind mittlerweile die Ausnahme, fast überall vertieft sich die Tendenz nach rechts. Dieses gesetzmäßige Scheitern geschieht dabei nahezu unabhängig von der Frage, auf welche Weise die Regierung jeweils gefallen ist. Denn auch ein parlamentarischer oder ein juristischer Putsch lässt sich nur dann relativ störungsfrei durchsetzen, wenn das Feld dafür bereitet war – und es wurde leider von den Linksregierungen selbst bestellt.

Natürlich sind auch diese Prozesse Richtung Rückschritt wiederum selbst reversibel. Im Gegenteil kann z. B. in Brasilien das mehr als fragwürdige Absetzungsverfahren von Dilma Rousseff inklusive der politischen Machenschaften, den ehemaligen Präsidenten Lula da Silva nicht zu einer Kandidatur zuzulassen, einer linken Kampagne bei den kommenden Wahlen sogar Auftrieb geben – deren Sieg als längerfristige Perspektive allerdings nur dann Sinn ergeben kann, wenn mehr als ein Sozialprogramm daraus gemacht wird, so sehr das immer auch ein wichtiger erster Schritt ist. Denn wie verhindern, dass in Lateinamerika der Rückgang von 210 Millionen Armen (2000) auf 140 Millionen (2015), wie ihn Álvaro García berechtigt als Erfolg benannt hat, rückgängig gemacht wird? Dazu müsste beim nächsten Anlauf das Wesen des Kapitalismus geändert werden. Ansonsten wird das Wort „Sozialismus“ abermals ausgerechnet von denen diskreditiert, die das Verdienst haben, es in einer Region der Erde überhaupt wieder ins Gespräch gebracht zu haben.

Das Grundproblem bleibt nämlich immer das Gleiche: Eine Revolution ist nur dann eine, wenn sie in der Lage und nicht nur willens ist, ihre Errungenschaften auch zu verteidigen. Das geschieht am besten, wenn – wie in Kuba – alles auf den Kopf gestellt wird, was nötig ist, um nicht nur einer sozialen Fürsorgepflicht, sondern auch einer politischen Nachhaltigkeit Genüge zu tun.

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"Wie das Erreichte verteidigen?", UZ vom 12. Januar 2018



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