Die Zeitzeugin und Kommunistin Hilde Wagner (8. 3. 1924 bis 13. 4. 2002) nahm aktiv am Kampf gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik teil. Um das Jahr 1989 formulierte Arno Neuber Fragen an Hilde, die Antworten dokumentieren wir hier auszugsweise.
Die Volksbefragung gegen die Remilitarisierung fand in den Jahren 1951/52 statt. Ihr waren drei Jahre vorausgegangen, in denen die Absichten, eine Remilitarisierung der Bundesrepublik auf Biegen oder Brechen durchzudrücken, immer deutlichere Konturen annahmen. Hier einige Meilensteine der Remilitarisierung:
Im Oktober 1949 wurde das Petersberger Abkommen abgeschlossen, das die enge Zusammenarbeit der Militärs der westlichen Besatzungsmächte mit der Adenauer-Regierung beinhaltete. Gegen dieses Petersberger Abkommen hatte es große Demonstrationen gegeben, an denen auch ich teilgenommen habe. Ich wohnte damals in Mannheim und war dort aktiv in der FDJ. Ich erinnere mich an eine große Demonstration in der Mannheimer Neckarstadt, die von berittener Polizei brutal zusammengeschlagen wurde. Ich habe auch an der großen bundesweiten Demonstration der FDJ auf den Petersberg und nach Bonn teilgenommen, die in Bonn ebenfalls brutal zusammengeschlagen wurde. Ich bezog, wie viele andere auch, Prügel, landete auf dem Polizeiauto und im Polizeigefängnis. Im August 1950 überreichte Dr. Adenauer dem USA-Verteidigungsminister, der damals durch die BRD reiste, ein Memorandum über einen deutschen Verteidigungsbeitrag, das er noch nicht einmal vorher dem Bundestag vorgelegt hatte. Als der damalige Innenminister und spätere Bundespräsident Heinemann das Memorandum zur Einsicht verlangte, weigerte sich Adenauer, es auszuhändigen. Heinemann trat daraufhin aus Protest zurück.
Ohne mich!
Das alles machte die Bevölkerung hellhörig und sensibel und die Volksbewegung gegen die Remilitarisierung wuchs. Es entstand die „Ohne-mich-Bewegung“, die sich später zur „Ohne-uns-Bewegung“ entwickelte und die breite Kreise Westdeutschlands erfasste. Das war zunächst eine spontane Reaktion der Bevölkerung auf die Pläne der Remilitarisierung. Der Widerstand äußerte sich in verschiedenen Formen. Das waren zunächst ganz individuelle Handlungen: Kriegerwitwen, Waisen, Invaliden, Opfer des Krieges also, schrieben Protestbriefe und führten Versammlungen durch. Damals entstand die Form der Stubenversammlungen, das heißt, man traf sich im kleinen Kreis von Freunden, Bekannten und Nachbarn, um über die Remilitarisierung zu reden. Bald tauchten Plakate und Klebezettel auf mit dem Zeichen F, das war das Synonym für Frieden.
Der Bonner Vizekanzler Blücher musste damals zugeben, dass 99 Prozent der westdeutschen Bevölkerung gegen die Remilitarisierung sind. Die „Ohne-mich-Bewegung“ wuchs und nahm allmählich organisierte Formen an. Das führte im Januar 1951 zu einer Versammlung mit 1.700 Teilnehmern in Essen. Diese verlangten eine Volksbefragung: „Sind Sie gegen die Remilitarisierung und für den Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland noch im Jahre 1951?“ Die Öffentlichkeit reagierte positiv auf diese Forderung. In vielen Orten begannen dafür Unterschriftensammlungen, es kam zur Gründung von Aktionsausschüssen. Obwohl die Behörden der Unterschriftensammlung für eine Volksbefragung Widerstand entgegensetzten und Schwierigkeiten machten, erbrachten die ersten Erfahrungen in einigen Städten und Dörfern eine Mehrheit von 80 bis 95 Prozent gegen die Remilitarisierung. In zahlreichen Städten fanden auch große Demonstrationen gegen Remilitarisierung statt. Es entstand ein zentrales Arbeiterkomitee, das seinen Sitz in Essen hatte und das in allen Bundesländern Arbeiterkonferenzen organisierte. Es bildete sich ein Hauptausschuss der Volksbefragung. Ihm gehörten unter anderem folgende Persönlichkeiten an: Wilhelm Elfes, Mitbegründer der CDU und früherer Oberbürgermeister von Mönchengladbach, Hellmut von Mücke, 1. Offizier des Kreuzers „Emden“ im ersten Weltkrieg, General a. D. Henschel, ehemaliger General der Luftwaffe, Edith Horet-Menge, Stadträtin der SPD in München, Walter Staubitz, Bürgermeister, SPD-Mitglied, Grete Thiele und Oskar Neumann von der KPD.
SPD forderte Verbot
Der Umfang der Volksbewegung erschreckte die regierenden Kreise der BRD. Während die Regierung der DDR bereit war, die Volksbefragung durchzuführen, stellten als erste leider die sozialdemokratischen Abgeordneten im Bundestag in Bonn die Forderung, die Volksbefragung als ungesetzlich zu erklären. Das Verbot erfolgte am 24. April 1951. Zuvor hatte das Ministerium für gesamtdeutsche Fragen, das von Jakob Kaiser geleitet wurde, in verschiedenen Städten und Großbetrieben Plakate anbringen lassen, auf denen folgender Text stand: „Wer an der kommunistischen Volksbefragung teilnimmt, gefährdet den Frieden und stellt sich in den Dienst des Bolschewismus.“ Der Bonner Innenminister Lehr drohte, Polizeiverbände gegen die Teilnehmer der Volksbefragung einzusetzen. Es blieb nicht bei der Drohung. Es gab nicht nur den „Blutsonntag“, an dem Philipp Müller ermordet wurde, es gab zahlreiche Gewaltakte gegen Demonstrationen, zum Beispiel gegen 10.000 Opfer des Faschismus, die sich in Gelsenkirchen zu einer Friedenskundgebung versammelt hatten.
Abstimmung vor Betrieben
Ungeachtet aller dieser Schikanen wurde die Volksbefragung von April 1951 bis April 1952 durchgeführt. Acht Millionen Bürger Westdeutschlands beteiligten sich daran. Sie sagten Nein zur Remilitarisierung und zur Politik der Spaltung Deutschlands.
Bei der Durchführung der Volksbefragung gab es die unterschiedlichsten Formen und Methoden. Es gab Abstimmungen in Versammlungen von Parteien und Organisationen, in Betriebsversammlungen, Vereinsversammlungen, Kinos und Kulturveranstaltungen in Theatern. Es gab Abstimmungen vor Betrieben und in Wohnungen. Ich zum Beispiel habe damals die Volksbefragung in Mannheim mit organisiert und durchgeführt. Wir standen morgens vor den Betrieben und verteilten Flugblätter, welchen wir Stimmzettel beigefügt hatten. Wir teilten den Kollegen mit, dass wir nach Feierabend mit Urnen vor dem Betrieb stehen und die Zettel einsammeln würden. Wir baten die Kolleginnen und Kollegen, ihren Stimmzettel schon auszufüllen und abends in die Urne zu werfen, was von bis zu 90 Prozent der Belegschaften so gemacht wurde.
Oft erschien die Polizei und beschlagnahmte unsere Urnen. Wir beriefen uns dann darauf, dass die Polizei die beschlagnahmten Gegenstände bescheinigen müsste und die Polizisten waren dazu auch bereit. Sie bescheinigte uns, soundso viele Urnen, mit soundso vielen Stimmzetteln, davon soundsoviel Ja-Stimmen und soundsoviel Nein-Stimmen beschlagnahmt zu haben. Damit hatten wir sozusagen sehr schnell vor Ort die amtliche Bestätigung unserer Tätigkeit. Die Bescheinigungen lieferten wir dann beim Volksbefragungsausschuss in Mannheim ab. Wir führten auch sehr viele Volksbefragungen bei Hausbesuchen in Wohnungen durch, mit einem Wort gesagt, wir waren damals Tag für Tag, Woche für Woche unermüdlich für den Frieden unterwegs.
Entscheidende Rolle der Jugend
Im Kampf gegen die Remilitarisierung spielte die Jugend eine entscheidende große Rolle. Sie musste gewonnen und mobilisiert werden; und dabei hatte die FDJ einen großen Anteil und zwar mit eigenständigen Aktionen und in Bündnisaktionen. Ich habe an anderer Stelle schon von den großen Demos gegen die Remilitarisierung erzählt, an denen FDJler immer zahlreich teilgenommen haben. Alle diese Demos mussten ja auch vorbereitet und organisiert werden, auch daran hatten wir mit sehr unterschiedlichen Aktionen, mit Flugblattaktionen, Info-Ständen, Transparenten und Plakataktionen großen Anteil und das machte auch viel Spaß, darüber könnte man stundenlang erzählen. Ich war im Landessekretariat Baden-Württemberg für Personalpolitik zuständig und anleitende Sekretärin für den Schwerpunkt Mannheim. Ich habe viel vor Ort gearbeitet und mich in Mannheim an fast allem beteiligt, was dort gelaufen ist. Zum Beispiel an den Aktionen „Ami go home“, an den Aktionen zur Unterstützung eines KPD-Antrages, die neu einzuweihende „Kurpfalz-Brücke“ „Friedensbrücke“ zu nennen, an den Aktionen zur Vorbereitung der Volksbefragung, des Deutschlandtreffens, der Weltjugendfestspiele und vieles andere mehr. Ich sagte schon, das hat viel Spaß gemacht. Ich werde jetzt doch ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern: Wir hatten im Landessekretariat beschlossen, dass alle Gruppen, natürlich auch Mannheim, eine große Anzahl Losungen „Ami go home“ malen sollten. Das war nicht ganz einfach, denn wenn man beim Malen dieser Losung erwischt wurde, wanderte man ins Gefängnis. Ich diskutierte mit den Freunden in Mannheim darüber. Viele nachdenkliche Gesichter – bis sich einer meldete und selbstbewusst erklärte, er werde mit mir zusammen allein 50 Losungen anbringen.
Gesagt, getan, los ging’s: Ein alter Koffer wurde mit Filzbuchstaben „Ami go home“ ausgestattet, mit Büchern gefüllt, damit der Stempeldruck stark genug war. Die Filzbuchstaben wurden mit roter Farbe getränkt und wir spazierten Arm in Arm als Liebespaar getarnt durch die Straßen der Mannheimer Innenstadt. Bei Dunkelheit, versteht sich, damit man nicht gleich sehen konnte, dass überall dort, wo der Koffer abgestellt wurde und das war oft der Fall, eine Losung stand. Wir wurden übrigens bei unserem Bummel von der Polizei kontrolliert, denn mein Begleiter war der Mannheimer Polizei ein Dorn im Auge und sein gemächlicher Spaziergang war ihnen nicht geheuer. Aber im zu öffnenden Koffer lagen tatsächlich nur alte Romane und Krimis und sie konnten nichts machen.
Natürlich musste der Kumpel noch in derselben Nacht für eine Zeit lang aus Mannheim verschwinden, denn bei hellem Licht am Tage war klar, was der Spaziergang bezweckt hatte. Bei der Brückeneinweihung hatten wir trotz starker Polizeibewachung am Neckarufer das Gras so geschnitten, dass so eine Losung sichtbar wurde, und während der Festansprache durch den Mannheimer OB kam ein hübsches selbstgebasteltes Schiff angeschwommen mit einem Transparent: „Diese Brücke soll Friedensbrücke heißen.“ Zur Vorbereitung des Deutschlandtreffens schwebte über dem Mannheimer Messplatz stundenlang ein großer Ballon mit entsprechenden Losungen.
1950/51 ging die Adenauer-Regierung dazu über, Westdeutschland in eine Militärbasis zu verwandeln. In Brücken wurden Sprengkammern eingebaut, Straßen, ja ganze Gebiete wurden unterminiert, zum Beispiel die Schwarzwaldhochstraße und der Rhein. Wir FDJler kämpften dagegen konsequent an. Es gab viele Aktionen, in denen die Sprengkammern wieder aus den Brücken ausgebaut wurden, es gab große Aktionen dagegen. Im Sommer 1950 organisierte die FDJ zusammen mit anderen Jugendorganisationen einen großen Protestmarsch gegen die Unterminierung der Loreley.
Bomben auf Helgoland
Damals fuhren wir mit LKWs (es gab noch nicht so viele PKW wie heute und Busse waren zu teuer) nach Bingen. Die Polizei und die französische Besatzungsmacht versuchten mit allen Mitteln, die Aktion zu verhindern. Man prügelte uns, schlug mit Gewehrkolben auf uns ein, verhaftete viele von uns, aber die Demonstration und Kundgebung hat stattgefunden. Oder ein weiteres Beispiel für unsere damaligen Aktionen: Im Jahr 1951 wurde die Insel Helgoland von den englischen Besatzungstruppen als Übungsgelände für Bombenabwürfe benützt. Im Februar 1951 landeten sieben junge Menschen, FDJler, Vertreter der Gewerkschaftsjugend, der Falken, Naturfreundejugend auf der Insel, um die Einstellung der Bombardierung zu erzwingen. Trotz Bombendrohung, trotz Verschleppung von der Insel und einem Gerichtsprozess landeten zwei Monate später 13 Jugendliche verschiedener Jugendorganisationen zum zweiten Mal auf Helgoland und im März 1952 mussten die Bombenabwürfe eingestellt werden.
Großen Anteil hatte die FDJ an der Gewinnung der westdeutschen Jugend für das Deutschlandtreffen 1950 und den Weltjugendfestspielen 1951 in Berlin. 30.000 Jugendliche aus der BRD nahmen am Deutschlandtreffen teil. Das alles waren die wahren Gründe für das FDJ-Verbot 1951.
Wie ich es persönlich erlebt habe? Nun, wir hatten gewusst, dass das Verbot ausgesprochen würde, es traf uns nicht überraschend. Aber wir hatten uns vorgenommen, nicht so sang- und klanglos von der politischen Bühne zu verschwinden. Deshalb organisierten wir zum Wochenende nach dem Verbot in Baden-Württemberg eine Landeskonferenz. Sie war für Mannheim vorgesehen, aber dort nicht durchführbar, weil wir rechtzeitig erfahren hatten, dass die gesamte Bereitschaftspolizei in Mannheim in Einsatzbereitschaft gebracht worden war. Also fuhren wir mit Zügen, Pkw, Fahrrädern nicht nach Mannheim, sondern nach Karlsruhe-Durlach.
In Durlach auf dem Lerchenberg hatten die Genossen Gerda und Otto Schneider ein Lokal. Hinter dem Lokal war ein Steinbruch und in diesem Steinbruch führten wir eine ordentliche Konferenz durch. Von Otto Schneider wurden wir mit Getränken versorgt und nach ordnungsgemäßem Abschluss begaben wir uns in kleinen Trupps nach Durlach, formierten uns am Fuß des Turmbergs, zogen Jacken und Pullover aus, darunter trugen wir unsere Blauhemden, entrollten die FDJ-Fahnen und demonstrierten vom Turmberg bis zum Marktplatz Durlach, um uns dort ordnungsgemäß aufzulösen und nach Hause zu gehen. Die Polizei war nicht rechtzeitig zur Stelle. Sie waren zu wenige in Durlach, das Gros befand sich in Mannheim.