Die Zeitschrift „Melodie & Rhythmus“ hatte eingeladen und viele, viele kamen. Die Künstler-Konferenz am letzten Samstag in Berlin-Neukölln wurde von rund 400 Interessierten besucht, sie erlebten einen Tag voller Debatten und literarischer Interventionen. Herzlich begrüßt wurden alle von Susann Witt-Stahl, der Chefredakteurin von „M&R“, und Dietmar Koschmieder, dem Geschäftsführer im Verlag 8. Mai GmbH, in dem das „Magazin für Gegenkultur“ – wie es im Untertitel genannt wird – seit Herbst letzten Jahres nach einer schwierigen Phase wieder erscheint. Beide betonten, dass sich das Blatt erfreulich gut entwickelt habe, sowohl die Abonnentenzahl wie auch die Freiverkaufszahlen seien doppelt so hoch wie vor zwei Jahren. Dass der Neustart so gut gelungen ist, sei auch der Solidarität und dem Engagement vieler Künstlerinnen und Künstler zu verdanken, die sich für das weitere Erscheinen mit Wort und Tat eingesetzt hatten und weiterhin tun.
Susann Witt-Stahl erläuterte die Intentionen, die dem Programm des Tages zugrunde gelegen haben: Man müsse die linke Kunst- und Kulturpolitik voranbringen, notwendig sei, dass marxistische und sonstige Ansätze zur Rettung und Fortentwicklung von Kultur stärker entwickelt werden, dem Wortsinne nach müsse „radikal“ gedacht werden. Dass der Begriff „Gegenkultur“, früher ein linker Begriff, mittlerweile von Rechten genutzt werde, um ihre Vorstellungen durchzusetzen, sei ein Alarmsignal für alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte im Lande.
Das Konferenzprogramm hatte man in vier „Blöcke“ unterteilt, eine kluge Überlegung, um sich in den Podien mit verschiedenen Diskutantinnen und Diskutanten den Problemfeldern nähern zu können. Erfreulich, wie man es im Vorfeld geschafft hat, so viele kompetente Gesprächspartner auf die Bühne zu bringen. Wenn der Autor dieser Zeilen richtig gezählt hat, waren es zwölf Frauen und Männer, die zu den aufgerufenen Themen diskutierten.
Rolf Becker übernahm eine zusätzliche Aufgabe: Er hatte literarische und philosophische Texte ausgewählt, rezitierte sie jeweils zu Anfang eines neues Themas und gab dadurch eine Richtung vor, die vom jeweiligen Podium aufgegriffen werden konnte. Es ist nun schlicht nicht machbar, die Debatten des langen Tages auch nur halbwegs ausführlich zu referieren, hier müssen Ausschnitte reichen.
In der ersten Runde mit dem Titel „Anschwellender Bocksgesang“, zur Rechtsentwicklung in der Kultur, sagte Volker Lösch, Regisseur am Staatsschauspiel Dresden, „mit Rechten kann man nicht reden, der Fokus muss sich auf die Schwankenden, die Ängstlichen richten, man muss ihnen das System erklären, das nicht mehr funktioniert. Kein Weg kann richtig sein, der zu Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung führt.“ Ihm pflichtete Rolf Becker bei, der forderte: „Wir müssen mit den Menschen in Kontakt kommen, die tatsächlich unter den Verhältnissen leiden, wir müssen sie in unsere künstlerische Arbeit einbinden. Nicht nur über sie reden und schreiben, wie sie sind oder sein sollten, sondern mit ihnen die Eigentumsverhältnisse benennen, so wie sie sich konkret darstellen und erfahren werden.“ Gisela Steineckert, trotz ihres hohen Alters engagiert und leidenschaftlich, forderte die Künstler auf, sich so zu positionieren, dass der „Werkgebrauch ihrer Kunst sichtbar wird, denn wenn etwas brauchbar ist, dann führt es auch zum Gebrauch durch die Menschen“.
Das zweite Podium führte weit über die Landesgrenzen hinaus. Mit dem Titel „Unter den Medien schweigen die Musen“ verwies man auf die heutige Manipulationsästhetik und die bereits digitalisierte Meinungsmache. Neben zwei Beiträgen aus der Türkei und Venezuela, vorgetragen von zwei jungen Journalistinnen aus diesen Ländern, mit ihren Beispielen von Unterdrückung, geschickten Ausweichmanövern und der Entwicklung lokaler Medienarbeit in Stadtvierteln, fand Ekkehard Sieker, Redakteur der ZDF-Produktion „Die Anstalt“, große Aufmerksamkeit. Auch er betonte die Möglichkeiten, die Nischen bieten, hier seien inhaltliche und formale Gestaltungen machbar, die sonst zurückgewiesen würden. Wichtig aber sei, man müsse „ernsthaft“ arbeiten, Fakten seien die Grundlage, gründliche Recherche unabdingbar, dann könne man die Fakten auch mit den Mitteln der Satire interpretieren. Schlimm sei mittlerweile, dass PR-Agenturen das Geschäft der Redaktionen übernommen haben, da in den Verlagen und Sendeanstalten die personellen Ressourcen ständig zurückgefahren worden sind. So komme es zum Phänomen des „Postfaktischen“, also die Erzählung über das Geschehen geriere sich als wahrhaftig, mit dem Primat der Emotion und der persönlichen „Meinung“ werde das nüchterne Darstellen der Realitäten zurückgestellt.
Vor dem dritten Podium hatte Moshe Zuckermann, der israelische Historiker und Kunstphilosoph, leider zuwenig Zeit für einen komprimierten Vortrag über den Status von Kunst in der kapitalistischen Gesellschaft. Er nannte drei hauptsächliche Beschreibungen, die in der Moderne zu nennen sind: „Die Kunst habe sich selbst zum Zweck, nur dann sei sie authentisch, auf sich selbst gerichtet und in diesem ihrem So-Sein zutiefst frei. Diese Beschreibung krankt daran, dass Kunst nur frei sein kann, wenn die Gesellschaft, in der sie lebt, ebenfalls frei ist von unterdrückenden Verhältnissen.“ In der zweiten Vorgabe wird behauptet, „Kunst habe einen außerkünstlerischen Zweck, sie dient als Mittel politischen Handelns, sie gibt ihre Autonomie vollständig auf. Dies könne man bei Kunstwerken in faschistischen Zeiten besonders deutlich sehen und erleben.“ In einer dritten Beschreibung wird die Politik, werden die herrschenden Verhältnisse selbst Gegenstand von Kunst. Zuckermann zitiert Brecht: „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Er lobt Brecht dafür, gibt aber zu bedenken, ob dies der Forderung Genüge tue, „dass Kunst aus ihren ästhetischen Formen heraus schöpferisch ihre Inhalte umsetzt“. Mit auf den Weg gibt er den Zuhörern noch ein Zitat von Adorno „Große Kunst ist auch immer Ware, aber sie ist nie nur Ware.“
Das dritte Podium näherte sich seinem Thema „Widerstand und Poesie“ mit der Frage von Stefan Huth, dem Chefredakteur der „jungen Welt“, an Konstantin Wecker und die weiteren Diskutanten, ob diese Aufgabe nur zu bewältigen sei, indem Kunst subversiv vorgeht? Wecker bejahte, forderte Empathie anstelle von Egoismus und Ellbogenmentalität, warnte aber auch, dass ein Künstler, obwohl er dies nicht wolle, Macht über sein Publikum ausüben könne und damit sein Anliegen konterkariere. Der Schriftsteller Mesut Bayraktar und der Komponist Wieland Hoban unterstützten diese Ansicht, beiden war wichtig, dass in der künstlerischen Arbeit die „Utopie von der Freiheit des Menschen“ durchscheine. Mit einigen Beispielen aus der eigenen künstlerischen Praxis illustrierten sie diesen Anspruch, gleichzeitig wurde dabei deutlich, wie die herrschenden Verhältnisse es so schwierig machen, dass Widerständiges nicht zur Pose, als geschmäcklerische Anbiederung angenommen wird.
Den Abschluss der Konferenz bildete das vierte Podium unter der Überschrift „Im Vergangenen den Funken der Hoffnung anfachen“ zur Frage, wie Erinnerungskultur als Akt der Rettung wahrgenommen werden kann und muss. Rolf Becker leitete mit einer kurzen Rezitation aus Walter Benjamins Text „Über den Begriff der Geschichte“ ein, den dieser kurz vor seinem Freitod auf seiner Flucht vor den Faschisten im Jahr 1940 schrieb: „Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört.“ Susann Witt-Stahl meinte in ihrer Anmoderation, es ziehe in Europa die dunkle Finsternis auf, düstere Zeiten seien bereits nicht mehr nur am Horizont. Esther Bejarano erzählte eindringlich, wie sich diese Zeichen bereits deutlich zeigen. Wenn Neofaschisten wieder marschieren dürfen, ihre Hetzparolen brüllen und den Hitlergruß zeigen, dann sei nicht nur unverständlich, warum Regierungen dies dulden, sondern schlimmer sei, dass so viele Menschen schwiegen und wegguckten. Zu viele hätten die faschistische Ideologie weiterhin oder neu im Kopf und sie fänden Parteien, die ihnen entsprechen. Erich Hackl, der österreichische Schriftsteller, empfand es als bittere Ironie, dass die Leute, die schon immer alles gewusst haben, aber nicht willens sind, die tatsächlichen Verhältnisse genau zu beschreiben, sich in Empörung und Betroffenheit „ergehen“. In Österreich änderten sich seit geraumer Zeit wichtige Strukturen, auch im Kulturbetrieb, das sei keine Sache nur der rechten Parteien, sondern auch der Medienindustrie. Er fühle sich manchmal ohnmächtig, es helfe aber, in Gemeinschaften zu arbeiten, sein Interesse an Menschen des Widerstandes, ob in Österreich, Deutschland oder Spanien (auf diesen Ländern liege sein Fokus), bringe ihn immer wieder dazu, genau an dem Thema der Erinnerung an Widerständigen zu arbeiten.
Moshe Zuckermann erläuterte die Rolle, die die Opfer der Shoa und die Überlebenden für den israelischen Staat ausmachen. Das Gedenken werde seit Jahrzehnten instrumentalisiert, es gehe nur darum, den zionistischen Staat zu legitimieren. Opfer und Überlebende würden „gebraucht“, aber nicht aufgenommen. Israelische Künstler, die sich dem widersetzen, werden diskriminiert, ihre Werke, ob Bücher, Malerei oder Musik, hätten es schwer, im Land Aufmerksamkeit zu erzielen. Erich Hackl fragte noch einmal deutlich nach: „Ist die Bedeutung historischer Ereignisse und Symbole verschwunden, leben wir mittlerweile in einem ‚Niemandsland‘? Ich will intervenieren, um Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.“ Es sei „nicht alles wurscht“, wie Thomas Bernhard meinte, ohne das Erinnern auch und gerade durch die künstlerische Arbeit sei der gesellschaftliche Auftrag, der Kampf um Frieden und Gerechtigkeit, nicht zu führen. Moshe Zuckermann beendete die Diskussionsrunde mit einer eher resignativen Frage: „Wie kann man erinnern? Ich habe für das Dilemma der Kultur keine Antwort.“ Das wollte Esther Bejarano so nicht stehen lassen, mit einem leidenschaftlichen Appell, dass die Künstler aufgerufen seien, all ihre künstlerische Kraft, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten dafür zu nutzen, dass nicht geschwiegen wird, dass aufgestanden wird, setzte sie einen Schlusspunkt.