Der Mangroven-Verlag Kassel hat einen langen vergriffenen Titel von Thomas Metscher mit dem Titel „Pariser Meditationen – Zu einer Ästhetik der Befreiung“ wieder neu aufgelegt.Wir danken dem Verlag für die Abdruckgenehmigung der Textstelle über Jura Soyfer. Eine Besprechung des gesamten umfangreiches Bandes folgt …
Dieser proletarische Kern der romantischen Wandergesellen tritt in den großen Wanderliedern des Jura Soyfer ans Licht. Soyfer, noch immer zu wenigen bekannt, ist österreichischer Schriftsteller russischer Abstammung. Er kam 1939, mit nur 27 Jahren, im KZ Buchenwald um. Seine Texte entstanden im Zeichen des Kampfs gegen Dollfuss’ und Hitlers Faschismus. Sie sind überschattet von einer Zeit, die ihren Autor verschlang. Soyfer arbeitet mit den Metaphern des romantischen Lieds, doch erhalten diese einen frappant modernen Sinn, scheinen frisch wie in der Geburtsstunde ihrer poetischen Erfindung. So wird das Bild des jahreszeitlichen Wechsels in seinem von bitterer Trauer verzehrten Wanderlied (es steckt voller Reminiszenzen an Schuberts Winterreise) zur Metapher der historischen Zeit, der Winter wird zur faschistischen Weltnacht, und diese Zeit spiegelt sich wie in einem Brennpunkt in der Erfahrung des wandernden Gesellen, des heimatlosen Vagabunden.
Der Sommer ist verglommen,
Der Herbst hat aus geweint,
Nun ist der Winter kommen,
Der bitterböse Feind.
Die Erde liegt im Leichenhemd
Und war einst jung und bunt.
Was suchst du noch, du bist hier fremd,
Mein Bruder Vagabund.
Kein Weg scheint in dieser Zeit des Winters zu einem neuen Frühling zu führen, (wie ihn noch ein P. B. Shelley vom Winter seiner Zeit erwartet) – kein Weg in den Himmel der Utopie. Denn es gibt keinen, „der die Leiter stellt“:
Und wär der Himmel droben
Von Samt und von Brokat,
Und Sternlein eingewoben,
Ein jedes ein Dukat –
Wär keiner, der die Leiter stellt,
Daß man sie holen kunnt.
So ist die Zeit, so ist die Welt,
Mein Bruder Vagabund.
Und doch führt die bitterböse Trauer Jura Soyfers nicht in Verzweiflung, Resignation, Untätigkeit. Sie bleibt kämpferisch, widerständig von unten her, proletarisch und sozialistisch. Sie bleibt im geheimen Bündnis mit dem Traum. Dieser ist nicht preiszugeben. Er ist zu verbergen und zu bewahren in der kranken, finsteren, dürftigen Zeit. Zu verbergen als ein kostbarer Schatz, als Wahrheit unter dem Rockmantel, wenn die Häscher kommen. „Verbirg, verbirg den Traum der Nacht,/Den lichten Traum der Armen“. So heißt es in „Wenn der Himmel grau wird.“ Auch hier erscheint die Zeit krank, asthmatisch geradezu, der Himmel als bleierne Last, der Mensch im Zustand nicht der Tat, sondern des Leidens und Erleidens, zerrissen zwischen Mord (Untat) und Gebet (der Religion als Gestalt illusionärer Hoffnung). Der als Befreiung ersehnte Tag zeigt sich als einer, wie er immer war, von Schweiß, Blut und Tränen geprägt. Das ersehnte Morgenrot der neuen Zeit (ein Echo von „Dem Morgenrot entgegen, ihr Kampfgenossen all“) stellt sich dar als karges Licht. Das Morgenrot kommt nicht, der neue Tag wird nicht zu erwarten sein. In dieser Zeit der Weltnacht gilt es, den Traum zu verbergen vor dem Zugriff der Gendarmen – ihn im Ranzen verpackt zu retten auf ein anderes Ufer zu.
In weiter Ferne sind verblasst
Die Sterne, unsre Brüder.
Als eine bleiern graue Last
Senkt sich der Himmel nieder.
Der Mensch erwacht in seinem Leid
Landschaften der Sehnsucht
Zum Mord und zum Gebete.
Der Atem einer kranken Zeit
Geht keuchend durch die Städte.
Steh auf im Schein des kargen Lichts,
Du Lump auf fremder Schwelle!
Steh auf und geh und hoffe nichts,
Der Himmel wird nicht helle.
Das wird ein Armeleutetag
Voll Blut und Schweiß und Tränen.
Das wird ein Tag vom alten Schlag,
Nicht der, den wir ersehnen.
Nicht der, der uns im Traum erschien,
Gekrönt von hundert Sonnen,
Da blühend stand im ew’gen Grün
Die Welt, die wir gewonnen.
Den Ranzen pack und troll dich sacht,
Schon nahen die Gendarmen!
Verbirg, verbirg den Traum der Nacht,
Den lichten Traum der Armen.
Hölderlins Frage lautete: „Und wozu Dichter in dürftiger Zeit?“ (Brod und Wein). Bei Soyfer wird sie aufgenommen. Sie wird einer Antwort zugeführt, die ganz von unten kommt, die in Schweiß, Blut und Tränen geboren wurde. Soyfers Wanderlieder sind der historische Abschluss des romantischen Sehnsuchtsmotivs wie auch des Wandergesellenmythos, der sich hier in seinem proletarischen Kern zu erkennen gibt. Dieser tritt unverstellt hervor in einem Lied, das wohl das letzte große Wanderlied der romantischen Tradition heißen kann. Es ist der Erinnerung Eichendorffs würdig:
Willst du, zerlumpter Geselle,
Ewig auf Wanderschaft sein?
Ist zwischen Himmel und Hölle
Nicht ein Stück Erde dein?
Kein Dach, darunter zu wohnen,
Kein Baum, der für dich blüht?
Hörst du, der Wind in den
Pappelkronen
Singt dir ein neues Lied:
Such dir das Land, das dir gehört
Auf diesem Erdenrund.
Such nicht Astoria
Mein Bruder Vagabund. Und ist das
Herz vom Hoffen müd
Und sind die Füße wund –
Marschiere weiter, sing dein Lied,
Mein Bruder Vagabund.
Bettelnd von Schwelle zu Schwelle
Hast du den Hut geschwenkt.
Die Heimat, mein Wandergeselle,
Wird einem nie geschenkt.
Drum nimm dir Pflug und Spaten
Und halte dich bereit
Und hol herbei deine Kameraden,
Und wo ihr grade seid:
Dort ist das Land, das dir gehört
Auf diesem Erdenrund.
Such nicht Astoria,
Mein Bruder Vagabund.
Die Zeit, die ihre Straße zieht,
Sie ist mit dir im Bund –
Marschier mit ihr und sing dein Lied,
Mein Bruder Vagabund!
Der Mythos ewigen Unterwegsseins hat hier seinen romantischen Glorienschein verloren. Die Landschaft der Sehnsucht ist zusammengeschmolzen zur von endlosen Pappelreihen gesäumten Landstraße. Für die, die nie ein Haus hatten und Schönheit nie kannten – die nichts kennen als die endlosen Pappelreihen der Landstraßen – meint Wanderschaft allein Bitterkeit und Mangel. „Wie springt dir an die Waden/Der scharfe Winterwind!/Du bist nicht eingeladen/Wo sie besoffen sind“ (Wanderlied). Endlos und sinnlos muss den Besitzlosen das ewige Unterwegssein erscheinen, der Traum selbst, der „lichte Traum der Armen“, droht zum Trugbild zu werden, zur täuschenden Illusion einer Erfüllung, die hindert, die lebendige Blume zu brechen. An diesem Punkt steht bei Soyfer der Aufruf: mit dem Bau der neuen Welt hier und jetzt zu beginnen, keine Vertröstungen abzuwarten, auch keinen Vertröster und Retter, gemeinsam mit den Kameraden und Kampfgenossen Hand anzulegen, auch wenn die Bedingungen schlecht sind. Dies ist die Botschaft des „neuen Lieds“, das der Wind der Zeit in den Pappelkronen der Landstraßen singt: „Drum nimm dir Pflug und Spaten/Und halte dich bereit/Und hol herbei deine Kameraden“. Soyfers Botschaft ist der des Peter Weiss nicht unähnlich. Spricht doch der Schlusssatz der „Ästhetik des Widerstands“ vom „befreienden Schlag“, den die Unterdrückten selbst und gemeinsam zu führen hätten, wenn sie frei werden wollen – zu führen in der gewonnenen Kompetenz ihrer Selbstwerdung. Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze. Hier und nirgendwo sonst ist Jerusalem.