Als sich im September 2015 die Flüchtlinge nicht mehr von Grenzen, Zäunen und Schikanen abhalten ließen, und sich zu Fuß aus dem Balkan in Richtung Mittel- und Nordeuropa aufmachten, war es der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow („Die Linke“), der mit Megaphon in der Hand die Neuankömmlinge höchstpersönlich begrüßte. Der lebende Beweis, dass Links gleich Menschlichkeit heißt – unabhängig von den Herausforderungen, die für die Lokalpolitik unbestreitbar damit verbunden sind. Kürzlich dann der große Schock: Am 2. Dezember 2015 wurden – allen herzlichen Worten Ramelows zum Trotz – 63 Menschen von Thüringen nach Mazedonien abgeschoben. Das war nicht die erste Sammelabschiebung unter der Ägide Ramelows. Z. B. wurden Ende November 123 abgelehnte Asylsuchende in einer gemeinsamen Sammelabschiebung der Länder Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach Serbien ausgeflogen.
In der vergangenen Woche wurde erneut eine Sammelabschiebung von Thüringen durchgeführt. Einer Pressemitteilung der Organisation „The Voice – Flüchtlinge und Asyl in Deutschland“ zufolge versuchten zirka 20 Personen aus einer Flüchtlingsunterkunft in Erfurt morgens zwischen 4.00 und 5.30 Uhr mit einer Sitzblockade vor dem Polizeifahrzeug den Abtransport einer Roma-Familie nach Serbien zu verhindern. Dieses Sit-In wurde seitens der thüringischen Polizei gewaltsam aufgelöst, dabei wurden laut „The Voice“ mehrere Personen leicht verletzt.
Schon im Sommer war im Grunde klar, dass das Bild des barmherzigen Landeschefs trügt. Als Ramelow am 5. Dezember 2014 zum ersten „Linken“-Ministerpräsidenten gekürt wurde, erließ er zunächst einmal einen Winter-Abschiebestopp. Dafür wurde er
aus der Partei „Die Linke“?
von seinen Fans und seinen Genossinnen und Genossen gebührend gefeiert. Doch „Winter-Abschiebestopp“ legt nahe, dass zu anderen Zeiten sehr wohl abgeschoben werden wird. Kurz nachdem er medienwirksam persönlich die Flüchtlinge begrüßt hat, stimmte die thüringische Regierung am 13. September 2015 der Wiedereinführung der Personenkontrollen an der deutschen Grenze zu Österreich zu. Zumindest wies Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in verschiedenen Nachrichtensendungen darauf hin, dass diese Maßnahme mit Zustimmung aller Regierungschefinnen und -chefs getroffen worden sei. Die Thüringer Staatskanzlei mag sich dazu nicht äußern. Eine diesbezügliche Frage wurde mit der Antwort beschieden, Grenzkontrollen seien Angelegenheit des Bundes, dafür bedürfe es nicht der Zustimmung der Bundesländer.
Am 24. September 2015 gab es eine „Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zur Asyl- und Flüchtlingspolitik“, auf der die Vorlage für das am 18.10.2015 im Bundesrat abgestimmte „Asylverfahrenbeschleunigungsgesetz“, das so genannte „Asyl-Paket“, beraten wurde. „Wer keine Bleibeperspektive hat, muss Deutschland verlassen … Bund und Länder verpflichten sich zur konsequenten Durchsetzung bestehender Ausreisepflichten.“ Um das alles möglichst reibungslos zu bewerkstelligen, sollten die Flüchtlinge zunächst in „Wartezentren“ aufgefangen werden, wo sie auch den Asylantrag stellen können. Danach sollen sie dann auf die einzelnen Bundesländer verteilt werden, anschließend auf die Kommunen.
Albanien, Kosovo und Montenegro sollten zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt werden. Asylsuchende ohne Bleibeperspektive, also z. B. aus so sicheren Herkunftsländern wie Albanien oder Montenegro, sollten dem Vorschlag nach durchgängig in den Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben und ausschließlich Sachleistungen erhalten. Diese sollten geleistet werden bis zum festgelegten Ausreisedatum. Um die Unterbringung von Asylsuchenden zu erleichtern, sollten Abweichungen von bauplanungsrechtlichen Standards ermöglicht werden. Für diejenigen, die als Asylsuchende anerkannt würden, wurde eine Reihe von wichtigen Integrationsmaßnahmen wie Zugang zu Sprachkursen und zum Arbeitsmarkt sowie Öffnung der Krankenkassen verabredet.
Thüringen widersprach bei der Festlegung der drei Balkanstaaten und der „unzulässigen Verknüpfung“ (Ramelow) des Themas Flüchtlingspolitik mit „Regionalisierungsmittel[n], also [den] Bundeshilfen für den Schienennahverkehr der Länder“, und erklärte, „dass mit der Verabschiedung des MPK-Beschlusses keine Präjudizierung seines Stimmverhaltens im Bundesrat zu dem entsprechenden Gesetzespaket verbunden ist“. Mit anderen Worten: Thüringen behielt sich vor, dem Gesetz im Bundesrat gegebenenfalls nicht zuzustimmen.
Wenig später begann Ramelow in verschiedenen Medien-Intervies die zügige Abwicklung der Asylanträge zu fordern, z. B. im ARD-Magazin „Bericht aus Berlin“. Dasselbe forderte auch der neue Ko-Vorsitzende der Partei „Die Linke“, Dietmar Bartsch. Ebenfalls im „Bericht aus Berlin“. Um die der zügigen Bearbeitung folgende massenhafte Ausreise zu gewährleisten, wurde die entsprechende Behörde in Erfurt personell aufgestockt. Bei der Abstimmung am 18. Oktober 2015 im Bundesrat enthielt sich Thüringen tatsächlich der Stimme. Er werde dagegen kämpfen wie ein Löwe, sagte Ramelow im Vorfeld der Abstimmung. Viele in seiner Partei atmeten auf. Wenn sie mal richtig hingehört hätten, dann wüssten sie, dass Ramelow nicht gegen die Verschärfung des Asylrechts „kämpfen wie ein Löwe“ wollte, sondern gegen die Kürzung der Regionalisierungsmittel. Dieser Passus wurde aus der Gesetzesvorlage entfernt und stand am 18. Oktober 2015 nicht mehr zu Debatte.
In der Begründung der Enthaltung wies Ramelow darauf hin, dass „ein lebenslanges Arbeitsverbot für Menschen, die keine Anerkennung als Asylbewerber erhalten, aber nicht abgeschoben werden können, diese Menschen – gelinde gesagt – in die Illegalität und in die soziale Stigmatisierung treibt.“ Ansonsten lobte er das Regelwerk, nannte allerdings „Bedenken, die mehr als nebensächlicher Natur sind“. Diese Bedenken bestanden indes nicht in Bezug auf den Umgang mit den Geflüchteten, sondern dem Finanzierungskonzept des Bundes, sich nur zu 1/5 an den Kosten für die Unterbringung, Versorgung und Betreuung der Asylsuchenden zu beteiligen. „Diese Relationen … führen die Haushalte von Ländern und Kommunen, das muss man mit aller Deutlichkeit sagen, spätestens Ende kommenden Jahres an den Rand der Handlungsfähigkeit.“
Trotz der Enthaltung trage auch Thüringen in der Asyl- und Flüchtlings- und Integrationspolitik den Konsens der Länder: „Uns trennt nicht die künstliche Unterscheidung zwischen Humanismus und Realismus. Uns eint ein Realismus in humanitärer Verantwortung.“ Seine Rede schloss er mit den Worten: „Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist unsere Enthaltung zu dem Gesetzespaket kein ‚Nein‘ zur aktuellen Poliitk der Bundesrepublik. Und mit unserem ‚Ja‘ zu den weiteren Abstimmungspunkten unterstreichen wir die Solidarität mit allen Bundesländern und der Bundesregierung in dieser für unser Land wichtigen Frage. Heute und in Zukunft.“
Ramelow kündigte schon vor Monaten an, dass es in diesem Jahr keinen Winter-Abschiebestopp geben werde. Anfang November wurden die beiden thüringischen Flughäfen Erfurt-Weimar und Altenburg-Nobitz als „Abschiebe-Drehkreuz“ ins Gespräch gebracht. Sie seien tauglich, von dort aus Sammelabschiebungen der Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Brandenburg durchzuführen. Auch mit Transall-Maschinen, also Militär-Flugzeugen, die auf einem zivilen Flughafen starten und landen. Militärmaschinen sind als Transportmittel für Sammelabschiebungen im Gespräch, weil Militärflughäfen von der Öffentlichkeit – und somit auch Widerstand – abgeschirmt sind und es beim Flug zu keinerlei Zwischenfällen, z. B. durch gegen Abschiebung protestierende Mitreisende, kommt. Die beiden fraglichen Flughäfen sind nicht sonderlich frequentiert, und somit eine finanzielle Belastung für das Bundesland. Die Umwandlung in Abschiebe-Flughäfen könnte das ändern. Dieser Deal kam allerdings nicht zustande, da der Bund das Angebot aus Thüringen ablehnte.
Ramelow macht derzeit Abschiebungen salonfähig, wie einst die SPD den Sozialabbau und die Grünen den Krieg. Der Aufschrei innerhalb der Partei „Die Linke“ blieb – bis auf wenige Ausnahmen – allerdings aus. Auch bei dem Fraktionsvorsitzenden-Treffen der Partei in Thüringen am ersten Dezember-Wochenende wurde das Thema nicht debattiert. Zumindest drang von einer derartigen Diskussion nichts an die Öffentlichkeit. Lediglich bei der Tagung des Parteivorstandes am selben Wochenende wurden die Abschiebungen „bei Nacht und Nebel“ gerügt.