In der DDR, wo ich aufgewachsen bin, traf ich auf jüdische Genossen, deren Denken und Handeln ich mir zu Herzen nahm. Aus Kerkern, Konzentrationslagern oder Exilen in den Osten Deutschlands gekommen, hatten sie ihre Kraft dem Aufbau des Landes gewidmet, das ihnen Heimat und Hoffnung war. Ich denke an meinen Parteibürgen Max Kahane, den Interbrigadisten, Berichterstatter vom Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und Mitbegründer der Nachrichtenagentur ADN. An Rudi Singer, den ND-Chefredakteur, der mir Zeitungsvolontär Ratschläge für Beruf und Leben gab. Auch an den Rabbinersohn Alfred Norden, der als Präsentator eines international beachteten Braunbuchs den faschistischen Sumpf in westdeutschen Amtsstuben aufgedeckt hatte und mit mir über Friedenslieder redete. Sie und viele jüdische Menschen neben mir lebten im Bewusstsein der Shoah. Wenn sie in der DDR das Jüdischsein ihrer politischen Überzeugung hintanstellten, hatten sie das Primat freiwillig und ohne Sorge gewählt. Das Gesellschaftsklima in der DDR duldete keinen Judenhass. Das Existenzrecht des Staates Israel war in der Außenpolitik wie im Bewusstsein der Bevölkerung unumstritten. Weil wir aber für die Rechte des palästinensischen Volkes und einen gerechten Frieden im Nahen Osten eintraten, erforderte das oft die Zurückweisung israelischer Regierungsmanöver.
Wo ich heute lebe, wird Kritik an der Besatzungspolitik der israelischen Führung von begrenzt denkenden Politikern und medialen Meinungsbildnern gern als antisemitisch bezeichnet. Selbst Abscheu vor den genozidalen Verwüstungen Gazas, mit denen Tel Avivs Kriegskabinett das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat zugunsten eigener großisraelischer Träume schleifen will, ist diesem Vorwurf ausgesetzt. Er ist verlogen. Hieße „antisemitisch“ in üblicher Lesart allein „antijüdisch“, würde er ignorieren, dass sich die Okkupationspolitik der Netanjahu-Regierung vehement gegen aktuelle und zukünftige Lebensinteressen des israelischen Volkes richtet. Würde man sich hingegen besinnen, dass Semiten eine viel größere Völkergruppe bilden, zu der neben Juden auch Araber gehören, träte die Ambivalenz des Begriffes „Antisemitismus“ zum Vorschein. Und die Vernichtung palästinensischen Lebens wäre gleichwohl antisemitisch. Dass solche Logik im Auswärtigen Amt aufschien, als Frau Baerbock empathielos einen umfassenden Waffenstillstand in Gaza ablehnte oder überlebensnotwendige Zahlungen an das UN-Hilfswerk für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten einstellte, ist auszuschließen. Die Blutorgie Netanjahus in Gaza mit über 27.000 toten und 66.000 verletzten Palästinensern, die infernalische Verwüstung der Infrastruktur, die Flucht fast aller Einwohner in jeweils neue Todeszonen ohne Wohnraum, Lebensmittel und medizinische Hilfe samt den viel weiter reichenden Vertreibungsphantasien zionistischer Fanatiker, die den Angriffen auf Gazas Zivilbevölkerung fraglos zugrunde liegen – jene maßlose Reaktion Israels also auf die Terror-Attacken der Hamas vom 7. Oktober lässt nicht allein die arabische Welt im Zorn fragen, was Deutschland mit seiner einseitigen Parteinahme für Netanjahus Krieg bezweckt. Einer in 16 arabischen Ländern erhobenen Umfrage des Arab Center for Research and Policy Studies zufolge lehnen drei Viertel der Befragten die deutsche Position in der Gaza-Frage ab. Beobachter konstatieren eine Verödung der deutsch-arabischen Beziehungen.
Eine vernunftgeleitete deutsche Außenpolitik müsste umdenken. Nibelungentreue zum System Netanjahu mit der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israels Volk zu begründen, kehrt eine von der Geschichte aufgegebene Obligation ins Gegenteil. Deutsche Verantwortung hieße, dem Expansionismus Israels und aktuell der Verlängerung des Krieges, mit der sich Netanjahu politischen und juristischen Verurteilungen entziehen will, Einhalt zu gebieten. Mit internationaler Entschlossenheit die Zwei-Staaten-Lösung durchzusetzen, für ein sicheres Israel in einem dauerhaft befriedeten Nahen Osten einzutreten, das wäre Kampf gegen den Antisemitismus in der Weite seiner Existenz.