Diether Dehm sagt es und viele Marxisten bestätigen, dass eine der großen Grauzonen in der marxistischen Forschung die Sexualität betrifft. Diese Lücke will der Autor mit seinem soeben erschienenen Buch schließen.
Das Werk trägt einen provokanten Titel, mit dem negativ konnotierten Wort „Pornographie“ an erster Stelle. Der Autor erklärt: „Die Wortbedeutung von Pornographie stammt aus dem Altgriechischen und meint: schriftliche oder bildliche Darstellung von oder über bezahlte Gespielinnen. Wobei im alten Griechenland grob zwischen zwei Arten von Prostitution zunächst unterschieden wurde: Die ‚Hetäre‘ war gesellschaftlich anerkannt, gebildet, konnte oft sogar musizieren; die ‚Porne‘ hingegen arbeitete prekär.“
Dehm selbst definiert den Begriff als „eine heute noch embryonal in Entwicklung befindliche Produktion von ‚Lustbildlichkeit‘, die in der Darstellung von Lust und der Phantasie auf die Steigerung und Befriedigung der Lust ebenbürtiger sexueller Partner angelegt ist“.
Damit distanziert er sich von der negativen Konnotation des Pornographischen im Alltagsbewusstsein und dreht den Inhalt bewusst um, rückt die semantisch in die Nähe der Erotik. Doch brauchen wir nicht auch ein geeignetes Wort, um auf Grausamkeit basierende Darstellungen oder Kinderpornographie zu beschreiben?
Der Fokus des Autors liegt darauf, bürgerliches Denken anzufechten, welches Geschichtsfeindlichkeit auf allen Gebieten fördere. Er zeigt auf, wie ein ahistorisches, rein biologisches Denken zu einer verselbstständigten Sichtweise der menschlichen Psyche in der Psychologie führt, welche pornographische Vorstellungen mangels gesellschaftlicher Einordnung pathologisiert. Dehm geht ausführlich auf marxistische Philosophie, Psychologie und Ästhetik ein, um zu zeigen, dass Menschen gesellschaftlich determiniert sind, sowohl in ihrer Arbeit als auch in ihren Träumen. Er verwendet dabei einen historisch-materialistischen Ansatz und wendet sich gegen bürgerliche biologisierende Theorien. Dabei stützt er sich insbesondere auf die sowjetische Psychologie, deren spezifischer Forschungsansatz in der Bedeutung der Arbeit im menschlichen Dasein besteht und die erhellt, wie Träume (einschließlich Tagträume) eng mit dem Arbeitsleben verbunden sind.
Der bürgerliche Ansatz hingegen betone die Vereinzelung des Individuums ohne historische Perspektive und werde so zu einem Instrument des Neoliberalismus: „Wenn wir uns mit modernen psychologischen Ansätzen auseinandersetzen, fällt auf, dass sie das Ich vergötzen. Den ‚Neoliberalen‘ kommt das entgegen, da sie dem vereinzelten Ich umso besser das Fell über die Ohren ziehen können.“
Obwohl Dehm viel aus männlicher Perspektive schreibt, befragt er auch Autorinnen zu diesem Thema, darunter Psychologinnen oder auch Irlands Schriftstellerin Sally Rooney, die die Beziehungsunfähigkeit moderner junger Menschen thematisiert. Sein umfassendes Wissen über die Künste bereichert seine psychologischen Untersuchungen, vor allem im Hinblick auf bildhaftes Denken und die Erkenntnisfunktion der Kunst.
Gegen Ende kommt Dehm, Lenin zitierend, auf andere Weise auf seinen materialistischen Ansatz als Gradmesser der Untersuchung zurück: „Lenin hat oft von der ungeheuren Persönlichkeitsentfaltung im Streik gesprochen, die alle anderen Bildungsmaßnahmen überrage. Demzufolge ist auch das Sexualleben vom emanzipatorischen Umgang mit der eigenen Arbeitswelt und mit der Organisationsform und Stärke der Arbeit verbunden. Starker Sex ist weniger von starken Titten und starkem Schwanz abhängig als allgemein angenommen, aber vielmehr von einer starken Gewerkschaft.“
Zu diesem wichtigen und schwierigen Thema wurde bisher aus marxistischer Sicht sehr wenig geschrieben. Schon deshalb leistet Dehms Buch einen innovativen Beitrag.
Diether Dehm
Pornographie und Klassenkampf
Für eine materialistische Psychologie
Promedia Verlag, Wien 2023, 312 Seiten, 28 Euro