Einer der noch lebenden Granden der „klassischen“ US-Geostrategie, Henry Kissinger, kritisierte im letzten Jahr die Ukraine-Politik der neokonservativen Hardliner im Weißen Haus. Er warb während des Weltwirtschaftsforums in Davos für eine diplomatische Lösung des Konflikts in der Ukraine auf der Basis eines Status quo ante bellum. Die Krim und Teile des Donbass sollten unter russischer Kontrolle bleiben; Verhandlungen müssten „in den nächsten zwei Monaten beginnen“, bevor der Konflikt „Umbrüche und Spannungen erzeugen“ würde, „die nicht leicht zu überwinden“ seien. Betriebe man den Krieg über diesen Punkt hinweg, dann würde es „nicht mehr um die Freiheit der Ukraine“ gehen, sondern „um einen neuen Krieg gegen Russland“.
Frühe Jahre
Der am 27. Mai 1923 als Heinz Alfred Kissinger in Fürth geborene ehrgeizig-elitäre junge Mann floh mit seinen Eltern 1938 vor den Nazis in die USA. Aus den persönlichen Erfahrungen der Verfolgung durch den deutschen Faschismus erwuchs allerdings keineswegs eine Verachtung für imperialistisches und ausbeuterisches Handeln. Im Gegenteil: Die US-amerikanische Elite erkannte sehr schnell die ausgezeichnete Verwendbarkeit Kissingers. Er konnte in Harvard studieren, dort 1954 seinen Doktor machen und stieg schnell in den einflussreichen Teil des Lehrkörpers der US-Eliteuniversität auf. 1955 begann Kissinger beim „Special Studies Project (SSP)“. Das SSP war eine Einrichtung zur Entwicklung einer umfassenden und perspektivischen US-Nachkriegsstrategie. Hier traf er auf die führenden Personen des US-amerikanischen Medien- und Propagandaapparats, der Außen- und Wirtschaftspolitik sowie der Atomkriegsplanung. Außerdem gelang ihm der Sprung in zahlreiche Institutionen und Thinktanks. Es war die Zeit des Sputnikschocks nach dem ersten Start eines Erdsatelliten durch die Sowjetunion 1957, welcher eine massive Aufrüstung der USA und der NATO auslöste.
Im selben Jahr publizierte Kissinger sein Buch „Kernwaffen und Außenpolitik“. Darin argumentierte er gegen die seiner Meinung nach politisch wertlose Doktrin der „massiven Vergeltung“, welche das Atomwaffenmonopol der USA widerspiegelte, und forderte die später von John F. Kennedy durchgesetzte Doktrin einer „flexiblen Antwort“ mittels kleiner, auch taktisch einsetzbarer Kernwaffen. Der Atomkrieg sollte wieder führbar werden. Der Erste Kalte Krieg hatte seinen Höhepunkt erreicht. Kalt kalkulierende, skrupellose, aber dabei zu flexiblen Lösungsansätzen fähige Machtzyniker wurden gebraucht.
1967 traf Kissinger mit Richard Nixon zusammen und gelangte damit in die inneren Machtzirkel des US-Imperiums. In dem ebenso notorisch antikommunistischen wie skrupellosen Nixon sollte Kissinger seinen „kongenialen Partner“ finden. Diese Jahre waren zentral für seinen nationalen, aber auch internationalen Ruf als Top-Außenpolitiker und Geostratege.
„Wenn der Rest von uns nicht einschlafen kann, zählen wir Schafe, und dieser Kerl (Kissinger) muss bis zum Ende seiner Tage verbrannte und verstümmelte kambodschanische und vietnamesische Babys zählen.“
Seymour Hersh
Schlächter Vietnams
Als Nixon und sein Sicherheitsberater und späterer Außenminister Kissinger im Januar 1969 ins Amt kamen, tobte der Krieg der USA gegen Vietnam. Die Tet-Offensive hatte gerade unmissverständlich klargemacht, dass die üblichen Siegesmeldungen aus Vietnam ein eitler Betrug waren. Das Pentagon reagierte mit einer massiven Eskalation des Bombenkriegs –Vietnam sollte in die Steinzeit gebombt werden. Nixon war zwar auf dem Ticket eines „ehrenhaften Friedens“ gewählt worden – doch wie so häufig hatte die Propaganda mit der Wirklichkeit nicht zu tun.
Das Duo Kissinger-Nixon torpedierte die Pariser Friedensverhandlungen und weitete den massiven Bombenkrieg auf die neutralen Staaten Kambodscha und Laos aus. Laos wurde das im Verhältnis zur Bevölkerung am stärksten bombardierte Land der Welt. Schätzungen der Zahl der durch die US-Aggression ermordeten Laoten erreichen mehr als eine halbe Million Menschen. Insgesamt luden die US-Bomber über zwölf Millionen Tonnen Bomben auf die südostasiatischen Staaten ab – mehr als fünf mal so viel wie über Deutschland und Japan im Zweiten Weltkrieg. Dabei starben etwa vier Millionen Menschen, der größte Teil geht auf das Konto des Gespanns Kissinger-Nixon.
Frieden war erst möglich, als die Nationale Befreiungsfront Vietnams die US-Truppen vertrieben hatte. Wie so oft offenbarte das Nobelpreiskomitee sein zynisches Engagement für den US-Imperialismus, indem es den Friedensnobelpreis ausgerechnet an Kissinger verlieh. Der vietnamesische Chefunterhändler in Paris, Lê Đú’c Tho˙, dem ebenfalls der Preis verliehen werden sollte, lehnte ihn daher konsequenterweise ab.
Atomkrieger
Kissinger und Nixon starteten die „Operation Giant Lance“, bei der eine Schwadron von 18 atomar bewaffneten B-52-Bombern nahezu dauerhaft über dem Nordpol patrouillierte, um damit sowohl die Vietnamesen als auch die mit ihnen verbündeten Mächte – vor allem die Sowjetunion – einzuschüchtern. Nixon hatte dazu die „Madman Theory“ erfunden, mit der er sich selbst als außer Kontrolle geraten präsentierte und so den von ihm wie von Kissinger befürworteten Atombombeneinsatz zu politischen Zwecken als möglich erscheinen ließ.
Da sich Kissinger seit den 1960er-Jahren als einer der engagiertesten und effektivsten Kriegsfalken des US-Imperiums erwiesen hatte, spielt er bis heute eine wichtige Rolle – zunächst bei zahlreichen US-Aggressionen und Regime-Change-Operationen, dann bei strategischen Debatten. Hier ist nicht der Raum, alle Konflikte darzustellen, in denen er versuchte, die Vorherrschaft des US-Imperiums zu stärken und zu stabilisieren und andererseits den Einfluss der sozialistischen Staaten und die Befreiungsbewegungen des Globalen Südens zu unterdrücken und zu zerstören. Kissinger ist unlösbar mit der brutalsten und blutigsten Phase des US-Imperialismus verbunden.
Massenmörder
Die Hilfe für die israelischen Zionisten, die Operation Anwar as-Sadat, die Unterstützung des iranischen Schahs Reza Pahlavi, die Blockadepolitik gegen Kuba, der Staatsstreich in Argentinien 1976, die Unterstützung des brasilianischen Atomwaffenprogramms in den 1970er-Jahren, die Einmischung in Rhodesien, der blutige Krieg in den portugiesischen Kolonien Mosambik, Angola und Osttimor, Bangladeschs Freiheitskampf 1971, der Indisch-Pakistanische Krieg 1971, die Westsahara, Zaire und Weiteres mehr zeigten Kissingers Präsenz an allen Brennpunkten der US-Kriegspolitik.
Einer von Kissingers großen „Erfolgen“ war der Militärputsch 1973 in Chile, welcher die gewählte Regierung Salvador Allendes und damit die Hoffnungen Lateinamerikas auf eine friedliche und von US-Interventionen unabhängige Zukunft zerstörte. Wie schon in Vietnam das computergestützte „Phoenix-Programm“, bei dem rund 40.000 Vietnamesen umgebracht wurden, hatte die US-Regierung auch in Lateinamerika ein – noch umfangreicheres – Mordprogramm gestartet: die „Operation Condor“. Etwa 50.000 Menschen wurden ermordet, bis zu 350.000 verschwanden und bis zu 400.000 wurden verhaftet und zum großen Teil gefoltert. Mit dem von Kissinger massiv unterstützten Putsch Augusto Pinochets und der Etablierung der hemmungslos asozialen „Chicago Boys“ startete die neoliberale Gegenreformation – die definitive Machtergreifung des US-Finanzkapitals.
Totengräber
Der sicherlich größte Erfolg des Gespanns Kissinger-Nixon war die tiefe Spaltung der sozialistischen Staatengemeinschaft – ein Ereignis von historischer Bedeutung. Mao Zedong hatte mit dem „Großen Sprung“ und der „Kulturrevolution“ Misserfolge erzielt und war nun auf der Suche nach einem Ausweg. Kissinger und in der Folge auch Nixon gelang es, die chinesische Führung zu einer spektakulären Kehrtwende zu veranlassen – weg von der internationalen Zusammenarbeit mit den Warschauer-Vertrags-Staaten und hin zu einem aggressiven Antisowjetismus und einer De-facto-Zusammenarbeit mit dem US-Imperium. Kissinger stellte dafür die Unterstützung der Ein-China-Politik, die Aufnahme Chinas in den UN-Sicherheitsrat, ein Ende der Förderung des tibetischen Separatismus und die Hilfe durch IWF und Weltbank in Aussicht – offenbar ein Angebot, das Mao nicht ablehnen konnte. Das Ergebnis war ein gewaltiger Sieg des US-Imperialismus. Es war die Voraussetzung für die Schaffung der US-Hegemonie nach dem Ende der Sowjetunion und – damit verbunden – für die Unterdrückung des Globalen Südens.
Kissinger war und ist einer der wichtigsten Geostrategen und Kriegstreiber des US-Imperiums – die Zahl der von ihm zu verantwortenden Opfer dürfte die jedes noch lebenden Politikers bei Weitem übertreffen. Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass er von Washington wie kaum ein anderer gefeiert wird. Allerdings haben sich – erkennbar an Kissingers eingangs dargestellter Haltung zum Ukraine-Krieg – die Zeiten doch ganz erheblich gewandelt.