Bundesaußenministerin Annalena Baerbock fordert die Bildung eines internationalen Sondertribunals zur „Ahndung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine“. Das Sondergericht soll am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorbei eingerichtet werden. Grund für Baerbocks Initiative ist, dass die Zuständigkeit des IStGH bei Aggressionsverbrechen auf Vertragsstaaten beschränkt ist. Sowohl der Angreiferstaat als auch der Opferstaat müssen hierzu Vertragsstaaten sein. Weder Russland noch die Ukraine haben das entsprechende Abkommen ratifiziert. Die Ausdehnung der Strafverfolgung auf Nichtvertragsstaaten aber würde eine Siebenachtelmehrheit der 123 Vertragsstaaten erfordern. Da eine solche Mehrheit unter den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas nicht zu gewinnen ist, schmoren die 30 NATO-Mitglieder völkerrechtlich im eigenen Saft.
Da nutzt es auch nichts, dass das EU-Parlament im Januar mit 472 gegen 19 Stimmen bei 33 Enthaltungen (alle fünf Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei Bulgariens verließen vor der Abstimmung den Saal) eine Resolution für ein Sondertribunal beschlossen hat. Der irische Sozialist Mick Wallace polarisierte in der Debatte mit Ironie, als er fragte, wo denn die Sondertribunale zu Jugoslawien, Afghanistan, Syrien und Jemen blieben – sehr zum Missfallen der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die auf eine völkerrechtlich wirksame Verurteilung Russlands dringend angewiesen ist. Ohne Verurteilung müssten nämlich die durch die Sanktionen eingefrorenen Vermögenswerte (300 Milliarden Euro) an russische Banken und Oligarchen zurückgegeben werden.
Aus der Taufe gehoben wurde die Idee des antirussischen Sondertribunals auf einer Tagung des britischen Thinktanks „Chatham-House“ am 4. März vergangenen Jahres. Stichwortgeber war der Außenminister der Ukraine, Dmitri Kuleba. Finanziert wird Chatham-House übrigens – wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags vor zwei Jahren herausgefunden hat – von der britischen Regierung, ausländischen Regierungsstellen und privaten Mäzenen.
Die vom Auswärtigen Ausschuss des Bundestags angesetzte Sachverständigenanhörung zur völkerrechtlichen Ahndung Russlands am 6. Februar sorgte nun erst einmal für einen gehörigen Dämpfer. Die Mehrheit der sieben geladenen Völkerrechtler zerlegte die letzten Reste der Baerbockschen Idee einer Sondergerichtsbarkeit. Professor Claus Kreß (Köln) riet „dringend davon ab“, Professor Christian Walter (München) hielt ein Sondertribunal mit schwacher Legitimation für schädlicher als das Eingeständnis, dass man schlicht international keine Mehrheiten fände. Professor Norman Paech (Hamburg) wies in seinem Beitrag auf die Instrumentalisierung des Völkerrechts durch den Westen hin, die angesichts seiner Angriffskriege und der extralegalen Hinrichtungen im 2001 begonnenen „Krieg gegen den Terror“ – der Tötung der Al-Kaida-Führer Osama Bin Laden und Aiman al-Sawahiri und der Ermordung des iranischen Generals Qasem Soleimani 2020 in Bagdad – mehr als deutlich werde: „Die Widersprüchlichkeit und Doppelmoral, mit der der Westen mit dem Völkerrecht umgeht, ist nach wie vor zu offensichtlich, als dass seine Politik – und vor allem die der USA – Glaubwürdigkeit beanspruchen kann.“
Für die Außenministerin hätte es ein lehrreicher Nachmittag mit vielen neuen Erkenntnissen werden können. Doch die zog es vor, in Potsdam – dort, wo sich die Bertolt-Brecht- und die Erich-Weinert-Straße kreuzen – Oberschülern etwas über feministische Außenpolitik zu erzählen. Schallschutzfenster hat das Gymnasium nicht – und so bekam die sichtlich verärgerte Baerbock ausreichend Gelegenheit, sich anzuhören, was von draußen hereinschallte. Auf der Straße intonierten protestierende Eltern Reinhard Meys Antikriegslied „Nein, meine Söhne geb’ ich nicht“: „Sie werden nicht in Reih‘ und Glied marschieren. Nicht durchhalten, nicht kämpfen bis zuletzt. Auf einem gottverlass‘nen Feld erfrieren. Während ihr euch in weiche Kissen setzt“. Eine kleine Lektion im praktischen Völkerrecht.