UN und Türkei vermitteln Vereinbarung zu Getreideexport – Westen setzt in Energiekrise weiter auf Eskalation

Westen ohne Verhandlungswillen

Wenigstens in einer der großen Krisen zeichnet sich ein wenig Entspannung ab: in der Nahrungsmittelkrise, die durch den Ukraine-Krieg und die westlichen Sanktionen gegen Russland eine Zuspitzung erfahren hat. Die Vereinbarungen, die Kiew und Moskau am Freitag vergangener Woche geschlossen haben, zeigen Wirkung. Die Vorbereitungen für den ersten Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer auf den Weltmarkt seit Kriegsbeginn laufen seit Anfang dieser Woche auf Hochtouren. Russisches Getreide und russische Düngemittel sollten gleichfalls wieder verfügbar sein. Und der Weizenpreis, der Anfang März dramatisch in die Höhe geschossen war, erreichte am Freitag wieder sein Vorkriegsniveau. Damit verbessern sich die Chancen, einen sprunghaften Anstieg des Hungers zu verhindern, der im kapitalistischen Weltsystem ja ohnehin grassiert.

Die ukrainisch-russischen Vereinbarungen haben nicht nur hohen Wert für die globale Nahrungsmittelversorgung. Sie sind auch ein echter Erfolg für die Diplomatie, die in Berlin, was den Ukraine-Krieg angeht, derzeit unerwünscht ist.

Agrarminister Cem Özdemir hatte, um die Getreidevorräte der Ukraine wieder verfügbar zu machen, schon vor Monaten vorgeschlagen, Kiew doch einfach mehr Waffen zu liefern. Eine Zeitlang kursierte sogar der Gedanke, die NATO solle Kriegsschiffe ins Schwarze Meer schicken und ukrainische Getreidefrachter aus Odessa hinaus zum Bosporus geleiten – ein sicherer Weg in die weitere Eskalation. Wäre er gewählt worden, gäbe es heute statt mehr Getreide noch mehr Krieg.

Die UNO hingegen setzte schon vor Monaten darauf, nicht nur ukrainisches, sondern auch russisches Getreide sowie russische Düngemittel zurück auf den Weltmarkt zu bringen – und dazu mit beiden Seiten zu verhandeln. Es ging stets um beides: um die Aufhebung der russischen Hafenblockade, aber auch um die Aufhebung einschlägiger westlicher Sanktionen. In der Tat sehen die Vereinbarungen aus der vergangenen Woche nicht nur die Kontrolle der ukrainischen Getreidefrachter durch ein UN-geführtes Zentrum in Istanbul vor, sondern auch Bemühungen der UNO, Nahrungs- und Düngemittel von den Sanktionen zu befreien. Mitte vergangener Woche hatte die EU stillschweigend ihre Finanz- und Transportsanktionen entsprechend eingeschränkt – eine wichtige Voraussetzung für die Vereinbarungen. Nebenbei: Ohne einen Staat, der gute Beziehungen zu Russland und zur Ukraine unterhält und als Vermittler auftreten konnte, wäre der Deal kaum zustande gekommen. Dieser Staat war die Türkei.

Keine Entspannung zeichnet sich in einer anderen großen Krise ab: in der Energiepreiskrise. Die Bundesregierung und die EU setzen völlig unverändert nur auf eines: auf Sanktionen, auf Boykott, auf den schnellstmöglichen Ausstieg aus russischer Kohle, Öl und Gas, um Russland zu „ruinieren“, wie Außenministerin Annalena Baerbock Ende Februar formulierte. Dabei kommen sich die westlichen Sanktionsmächte auch noch gegenseitig in die Quere: Es hat eine ganze Weile gedauert, bis die kanadische Regierung eine zur Reparatur nach Montreal verfrachtete Nord-Stream-1-Turbine wieder freigab. Die Schuld daran, dass weniger Erdgas strömt, schiebt Berlin dennoch Moskau in die Schuhe. Dabei könnte sich, wer Energie zur Waffe macht, indem er Energieträger boykottiert (russische Kohle ab August, Öl ab Jahresende) beziehungsweise ihre Boykotte vorbereitet (russisches Gas so bald wie möglich), doch wohl ohnehin kaum beschweren, würde diese Waffe einmal gegen ihn selbst gerichtet.

Der Ausweg läge dort, wo er in der Nahrungsmittelkrise gefunden werden konnte: in der Diplomatie. Dazu freilich müsste verhandelt werden. Der Wille dazu ist in Deutschland und bei den anderen westlichen Mächten nicht da; sie setzen weiterhin alles darauf, Russland zu schwächen. Solange es dabei bleibt, ist eine Lösung der Energiepreiskrise kaum in Sicht.

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"Westen ohne Verhandlungswillen", UZ vom 29. Juli 2022



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