Bereits vor dem gescheiterten Putsch in der Türkei ging die Frage um: Werden die Schenkel des geostrategischen Dreiecks mit den Eckpunkten Washington, Ankara und Moskau neu justiert? Dass sich der US-Präsident Obama weigerte, den Prediger und vermeintlichen Drahtzieher des Putschversuches, Fethullah Gülen, an Erdogan auszuliefern, ist dabei nur der letzte Anlass für eine solche Neujustierung.
Zur aktuellen Lage gehört, dass 149 von 325 Generälen in der Türkei verhaftet wurden. Das Nachrichtenportal von t-online berichtete mit Verweis auf die US-amerikanische Nahost-Seite „Al-Monitor“, dass sich unter diesen 149 Generälen vor allem „Atlantiker“ befänden, die an guten Beziehungen zu den USA, zu Europa und zur NATO interessiert seien.
Die Hinweise auf Verstrickungen und Verursacher gehen aber weiter. Die NATO-Geheimarmee Gladio sei der Urheber, wiederum gesteuert von den USA und Großbritannien, wird Habertürk auf der Nachrichtenwebsite „OdaTV“ und der HDP-Abgeordnete Ertugrul Kürkcü auf „T24“ wiedergegeben.
Gladio als Ko-Akteur wäre zurückzuweisen, wenn da nicht Ereignisse wie der Anschlag am Hauptbahnhof in Bologna am 2. August 1980 wären. Dafür wurden zunächst die „Roten Brigaden“ verantwortlich gemacht, später stellte sich heraus, dass es ein mörderisches Zusammenspiel von Gladio, Ordine Nuovo (Neofaschisten), des italienischen Geheimdienstes SISMI und der Propaganda Due (P2) war.
Und wer rückt anstelle der verhafteten Generäle in die militärische Spitze der Türkei? Es sollen „zumindest zu einem Teil“ Oberste aus einer früheren rechtsextremen Ergenekon-Gruppe sein, die angeblich den USA und der NATO distanziert gegenüberstehen. Dagegen spricht, dass Ergenekon beschuldigt wurde, ab 2003 versucht zu haben, Erdogan zu stürzen. Die 275 Urteile zu den Umsturzplänen von 2003 wurden allerdings am 21. April 2016 aufgehoben.
Die „Nachrücker“ seien eher offen für „eurasische Ansichten“. Das entspräche der Neuausrichtung Putins mit der Eurasischen Wirtschaftsunion. Der türkische Nachbar Armenien gehört bereits dazu.
Im Rundfunksender „Ulusal Kanal“ verkündet auch Dogu Perincek, Vorsitzender der Vatan Partisi (Heimatpartei), dass Gladio erneut aktiv geworden sei, als Erdogan die NATO-Mitgliedschaft kritisch hinterfragte. Er verwies zudem darauf, dass Jets der Putschisten ausgerechnet auf dem NATO-Stützpunkt Incirlik betankt worden seien – dort ist auch die Bundeswehr präsent. Der türkische General Bekir Ercan Van und elf weitere Offiziere der Basis wurden verhaftet. Irritation schließlich auch im NATO-Hauptquartier in Brüssel, aus dem Erdogan Offiziere abzog.
Das diplomatische Geplänkel um Fethullah Gülen beeinträchtigt nicht die Stellung des Militärs unter Obhut der NATO, selbst wenn Ministerpräsident Binali Yildirim schweres Geschütz in Stellung bringt: „Falls unsere Freunde trotz all dem noch weitere Beweise verlangen werden, dann (…) werden wir sehr traurig sein und müssen möglicherweise unsere Freundschaft anders betrachten.“ Eine solch knallharte Drohung weckt Befürchtungen, konkrete Auswirkungen für die NATO-Partner gibt es bereits. So wurdeauf der NATO-Basis Incirlik doch glatt der Strom abgestellt, und das unter Freunden … Vor der Basis wurde der Auszug der Yankees gefordert, überhaupt müsse der NATO-Stützpunkt verschwinden. 50 US-Atomwaffen („special weapons“) sind in Incirlik stationiert, so schnell wird der Stützpunkt also nicht verschwinden.
Die Russische Föderation ist an gefestigten Verhältnissen in der Türkei interessiert. In Erinnerung ist die Entschuldigung Erdogans für den Abschuss zweier russischer Piloten am 24. November in einem Bomber vom Typ Suchoi Su-24 über Syrien. Der ehemalige Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hatte zunächst behauptet – unterstützt von den USA –, dass die türkische Grenze verletzt worden sei. Offensichtlich war dies eine „Schutzbehauptung“. Wladimir Putin prognostizierte „ernsthafte Auswirkungen auf die russisch-türkischen Beziehungen“. Außenminister Sergej Lawrow warnte vor Reisen in die Türkei, flog auch selber nicht zu einem vereinbarten Treffen nach Istanbul. Putin legte nach und verbot Pauschalreisen in die Türkei und sowie den Import landwirtschaftlicher Produkte.
Ankara vollzog dann jedoch eine Kehrtwende, die in den Medien mit dem massiven Ausbleiben der Touristen aus der Russischen Föderation begründet wurde. Erdogan schrieb einen „Entschuldigungsbrief“, in dem von Russland als „Freund und strategischem Partner“ die Rede ist. Schon am 1. Juli besuchte der türkische Außenminister Sotschi, um dort über Wirtschaftskooperationen zu beraten.
Im September treffen sich Putin und Erdogan direkt beim G 20-Gipfel in Hangzhou in China. Dort dürften die Eckpunkte des geopolitischen Dreiecks noch etwas weiter gefasst werden, denn nun geht es um die Kooperation zwischen der Eurasiengruppe und China. Da möchte die Türkei sicherlich wenigstens am Rande profitieren.
Eine „Kleinigkeit“ am Rande dürfte dabei das Projekt „Turkish Stream“ sein. Die Pipeline soll 63 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr von Russland durchs Schwarze Meer und durch die Türkei in die EU transportieren.