Für die Kommunistische Arbeiterzeitung (KAZ) haben die UZ-Autoren Richard Corell und Stefan Müller gemeinsam mit der AG Krise der KAZ die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie in den letzten Monaten untersucht. Mit freundlicher Genehmigung der Autoren veröffentlichen wir ihre Analyse in leicht gekürzter Fassung in zwei Teilen. Der komplette Artikel ist zu finden unter: www.kaz-online.de. Teil 1 „Wer wird gerettet?“ erschien in der letzten UZ, Ausgabe 34. Im Folgenden dokumentieren wir Teil 2 „Wer verliert in der Krise?“.
Die EU-Kommission nahm am 4. Mai für 2020 einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 6,5 Prozent an. Dieser Wert liegt knapp unter dem BIP von 2009, dem Tiefpunkt der letzten zyklischen Krise. Ihm soll laut der Schätzung der EU-Kommission ein Wachstum von 5,9 Prozent im nächsten Jahr folgen. Die Arbeitslosigkeit soll vom derzeitigen offiziellen Stand von 3,2 Prozent auf 4 Prozent steigen und 2021 wieder auf 3,5 Prozent sinken.
Diese optimistische Einschätzung setzte voraus, dass sich die kaufkräftige Nachfrage im Mai und Juni wieder erholt. Die Nachfrage hängt in der BRD-Ökonomie aber zu etwa 50 Prozent am Export, angeführt vom Autoabsatz. Von dem wird im 1. Halbjahr nach Schätzungen weltweit nur die Hälfte der bereits reduzierten Planung realisiert. Zwei Drittel des BRD-Exports bleiben in Europa, vor allem den EU-Ländern. Daher stimmt die BRD den EU-Hilfsmaßnahmen zu. Weitere 15 Prozent des Exports gehen etwa je hälftig nach China und in die USA. Im „Handelskrieg“ der USA gegen die VR China ist die BRD deshalb vorsichtig und muss auf baldige Stabilisierung in beiden Ländern hoffen. In den USA ist mit einem Ansteigen der Massenkaufkraft wegen der hohen Arbeitslosigkeit nicht zu rechnen, während die Autoverkäufe in China nach Ende des Lockdown wieder zunehmen.
750.000 Betriebe melden Kurzarbeit an
Auch im Inland soll der Einbruch der Kaufkraft durch massive Hilfspakete stabilisiert werden. Die Größenordnung des Problems, die Krise auf dem Niveau von 2009 einzudämmen, wird in folgenden Zahlen deutlich: 2009 hatten 25.000 Betriebe Kurzarbeit für 3,3 Millionen Kollegen angemeldet, von denen knapp 1,5 Millionen dann tatsächlich in Kurzarbeit geschickt wurden. Derzeit haben etwa 750.000 Betriebe über 10 Millionen Arbeiter und Angestellte zur Kurzarbeit angemeldet, von denen laut Ifo-Institut (Stand 2. Juni) bereits 7,3 Millionen in Kurzarbeit sind. Von den etwa 5 Millionen kleinen Selbstständigen steht nach Umfragen trotz „Soforthilfen“ von etwa 50 Milliarden Euro etwa die Hälfte im Juli vor der Insolvenz. Die Regeln zur Insolvenzanmeldung sind aber zunächst bis Ende September gelockert.
Für große Unternehmen erhöht der Bund den Garantierahmen zur Kreditabsicherung um 357 Milliarden Euro auf nun 820 Milliarden Euro. Dazu kommen Steuergeschenke. Auch dadurch gehen die Steuereinnahmen um 100 Milliarden zurück. Bereits jetzt trägt die Masse der Bevölkerung mit Lohn- und Umsatz- bzw. Mehrwertsteuer etwa zwei Drittel der gesamten Steuerlast und wird damit letztlich die Hilfspakete für die Kapitalisten finanzieren. Das Kurzarbeitergeld wird vorläufig aus den Sozialkassen bezahlt.
Zunächst wird der Bund zur Finanzierung der „Rettungspakete“ neue Kredite in Höhe von über 200 Milliarden Euro aufnehmen. Die Maßnahmen der Bundesländer kommen hinzu. Der Fetisch „Schwarze Null“ wurde jedenfalls für 2020 aufgehoben.
Im März gingen die Kfz-Neuzulassungen in der BRD um 38 Prozent zurück, im April um fast zwei Drittel. An der Autoindustrie hängt ein großer Teil der Löhne in vielen Branchen, weshalb sie wie 2009 trotz Milliardengewinnen und Rücklagen eine generelle Auto-Kaufprämie forderte. Das konnte sie aber im Gegensatz zu 2009 nicht durchsetzen. Die Maßnahmen sind stark auf eine Förderung der Digitalbranchen ausgelegt. In dem „Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket“ des Koalitionsausschusses vom 3. Juni („Eckpunktepapier“) hieß es in der Einleitung programmatisch unter dem Titel „Corona-Folgen bekämpfen, Wohlstand sichern, Zukunftsfähigkeit stärken“: „Dazu bedarf es nicht nur der Reaktion auf die Auswirkungen der Krise, sondern viel mehr eines aktiv gestalteten innovativen Modernisierungsschubs … Diese Krise wird einschneidende Veränderungen bewirken, Deutschland soll gestärkt daraus hervorgehen.“. Die geänderten inneren Machtverhältnisse in der deutschen Finanzoligarchie im Rahmen der Gesamtstrategie des deutschen Imperialismus werden sichtbar. Macht verteilt sich nach Kapitalkraft, das heißt nach erwarteten zukünftigen Marktanteilen und Gewinnen. Überraschend ist die Zielrichtung insgesamt nicht: In den bisherigen Krisenzyklen ist es dem deutschen Imperialismus jedes Mal gelungen, innerhalb der EU und gegenüber den USA stärker herauszukommen bei seinem dritten Anlauf zur Weltmacht.
Optimistisches Szenario nicht eingetreten
Das optimistische Szenario der EU-Kommission von Anfang Mai ist bisher nicht eingetreten. Das Handelsblatt Research Institute (HRI) prognostiziert inzwischen trotz aller „Rettungsmaßnahmen“ für 2020 in der BRD einen Rückgang des BIP von 9 Prozent, einen Rückgang an Ausrüstungsinvestitionen von 13,6 Prozent und einen Einbruch des Exports um 20 Prozent. Wegen der Wahlen 2021 empfiehlt man, zumindest bis dahin das Kurzarbeitergeld zu verlängern, um Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden und ein Hilfsprogramm zum Mieterschutz aufzulegen gegen Massenobdachlosigkeit. (…)
Das internationale Umfeld hat sich auch nicht stabilisiert. Die Krise in den Hauptexportmärkten der BRD ist nicht am Abklingen. Für China kann man berechtigte Hoffnung haben, dass das Wiederaufflammen des Virus nicht zu einer neuen Epidemie und weitgehendem ökonomischen Stillstand führt. Für die USA wäre die Annahme, dass sich die Krise nach den Präsidentenwahlen nicht vertieft, sicher zu optimistisch. Die Prognosen für die großen europäischen Märkte Frankreich, Britannien, Italien und Spanien haben sich seit der oben erwähnten EU-Prognose vom Mai, die wir als optimistisches Szenario bezeichnet haben, ebenfalls verschlechtert. Dort ist mit einem noch stärkeren Rückgang des BIP als in der BRD von über 10 Prozent zu rechnen.
Wegen der zwei Schwachpunkte der BRD-Wirtschaft, Abhängigkeit vom Export und der Autoindustrie, ist mit einer Stabilisierung im nächsten Jahr eher nicht zu rechnen. BDI und DGB fordern bereits wieder einträchtig unter dem bewährten Propaganda-Titel „Digitalisierung und Dekarbonisierung“ Krisenprogramme vom Staat, aber nun wesentlich mehr als 500 Milliarden. Macron schlug schon im Mai einen „EU-Wiederaufbaufonds“ mit 1 Billion Euro Volumen vor, von der Leyen stellte 750 Milliarden in den Raum, Merkel wollte erst mal nur über 500 Milliarden reden. Hauptbedingung für das EU-Geld soll sein, dass hochverschuldete Länder wie Italien damit nicht etwa ihre Schulden abtragen, sondern das Geld (möglichst für deutsche Waren, d. Verf.) ausgeben.
Hier ist zurückzukommen auf den eingangs erwähnten Hinweis von Lenin zu imperialistischen Absprachen: Die Konkurrenz unter den Finanzoligarchen durchkreuzt ständig ihr Klasseninteresse an der Systemerhaltung.
Bei der Diskussion um die staatlichen Milliarden der Hilfspakete setzten sich die bereits vor der Pandemie gesetzten Prioritäten des deutschen Imperialismus durch: technologisches und damit militärisches Aufholen gegen den US-Imperialismus. Es zeigte sich dabei die Machtverschiebung zugunsten derjenigen der BRD-Monopole, die sich stärker auf digitale Technologie stützen, wie Siemens, SAP, Bosch und Telekom. (…) VW, BMW und Daimler, 2009 noch Platzhirsche, hinken hinterher. Im Kampf um die staatlichen Milliarden sind die Interessen der nichtmonopolistischen Kapitalisten sekundär. Das liegt auch daran, dass, wie bereits erwähnt, die Interessenvertretung der Arbeiterklasse, die DGB-Gewerkschaften, dank der vorherrschenden Sozialpartnerschaftsideologie hauptsächlich über die Betriebsräte der Großunternehmen eingebunden und ruhiggestellt werden kann.
Absicherung der Monopole hat Priorität
Bei der Aufteilung der Milliarden zeigt sich, dass die Absicherung der Monopole und da wieder schwerpunktmäßig der Digitalmonopole so weit im Vordergrund standen, dass die systemabsichernde Eindämmung der Arbeitslosigkeit, der Masseninsolvenzen und Massenobdachlosigkeit, die auch im „Eckpunktepapier“ stand, durchkreuzt wurde.
Dazu einige Fakten: Die ca. 31 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der BRD arbeiten in ca. 3,8 Millionen Betrieben, aber nur ca. 3,6 Millionen Beschäftigte arbeiten in den 4.733 Betrieben des verarbeitenden Gewerbes mit mehr als 250 Beschäftigten, den so genannten Großbetrieben, deren Rettung in den Hilfspaketen im Vordergrund steht. Etwa 10 Millionen Kolleginnen und Kollegen sind in Handel, Verkehr und Gastronomie beschäftigt, im Wesentlichen in Kleinbetrieben, bei denen ab Herbst Insolvenzwellen erwartet werden. Rund 10 Millionen Haushalte sind bei einem Einkommensverlust von 100–200 Euro im Monat in Gefahr, die Miete bzw. Kreditzinsen für die Wohnung nicht mehr bezahlen zu können.
Mit Dimitroff und Lenin durch die Krise
Wenn mit den Staatsmilliarden die Abwärtsspirale nicht aufgehalten wird, ist ein pessimistisches Szenario anzunehmen mit einem BIP-Einbruch in der BRD von vielleicht 20 Prozent. Das hieße dann auch ein Wegbrechen eines großen Teils der produzierenden Industrie mit weiteren Folgen für die anderen Bereiche der Wirtschaft. Das würde Erwerbslosigkeit für weitere Millionen in der Arbeiterklasse bedeuten, noch mehr Millionen ruinierte Kleinbürger, Börsencrash, Eurokrise, Systemkrise und entsprechende Notstandsmaßnahmen. Deutlicher als je, seit der deutsche Imperialismus sein Überleben an der Seite des US-Imperialismus 1948 durch die Spaltung Deutschlands sicherte, zeigt sich dann auch die Überlebtheit des Imperialismus, seine Angreifbarkeit und dass alle materiellen Voraussetzungen geschaffen sind, um dieses mörderische System zu überwinden. Das ist den Herrschenden durchaus bewusst, wie im oben erwähnten Strategiepapier des BMI vom März deutlich wird.
Um in dieser Situation die Bedeutung der Verankerung der Kommunisten in der Gewerkschaft, um die Bedeutung der Aktionseinheit der Arbeiterklasse zu begreifen, muss man Lenins „linken Radikalismus“ und Dimitroffs Rede auf dem VII. Weltkongress nicht unbedingt studiert haben. Es wird aber helfen.
Was wurde eigentlich aus der „Schwarzen Null“?
Der Fetisch „Schwarze Null“ wurde mit dem Konjunkturpaket vorläufig auf dem „Friedhof der Kuscheltiere“ begraben, um zum gegebenen Zeitpunkt vom Wirtschaftsflügel der CDU wieder als Zombie gegen „unmäßige Ansprüche“ der Werktätigen in Stellung gebracht zu werden, um gegebenenfalls „Notverordnungen“ zu begründen. Halten wir dagegen fest: Es gibt keine objektiv „eherne“ Grenze für die Staatsverschuldung. Schulden können bei der Zentralbank gemacht werden – wie es Draghi und die EZB die letzten Jahre vorexerziert haben; whatever it takes –, Schulden können auch gestrichen werden. Alles kein Hexenwerk – mit den Bad Banks wurde doch vorexerziert, wie das im miesesten Fall geht, und die EZB hält seit 2010 viele Staaten, die eigentlich pleite sind beziehungsweise in die Pleite getrieben wurden, über Wasser. Das macht sie im Übrigen zur Zeit mit neuem „Schwung“: Ende März 2020 beschloss der EZB-Rat das zeitlich begrenzte Ankaufprogramm für Anleihen öffentlicher und privater Schuldner mit einem Umfang von 750 Milliarden Euro und einer Zeitspanne für Ankäufe bis zum Ende des Jahres 2020.
Nach einem Beschluss des EZB-Rates vom 3. Juni wurde am 4. Juni 2020 die Erweiterung des Programms um 600 Milliarden Euro bekanntgegeben.
Das einzige Problem ist, ob die Gläubiger (auch im Ausland) mitspielen, wie lange die Gaunerkomplizenschaft im internationalen Finanzkapital hält. So hätte auch Lehmann 2008 gerettet werden können, wenn das US-amerikanische Finanzkapital, vertreten durch den Goldman-Sachs-Mann und damaligen US-Finanzminister Hank Paulsen, in Abstimmung mit den Großbanken der imperialistischen Länder („Solidarität“) für die Pleitiers geradegestanden und die Notenpresse angeworfen hätte, statt den Konkurrenten fallen zu lassen. Der dann tatsächlich herbeigeführte Bankrott hatte natürlich den willkommenen „Nebeneffekt“, dass einerseits die Pleite auf diese Weise (partiell) direkt auf die anderen imperialistischen Länder und ihre Großbanken abgewälzt werden konnte (die es unter anderem auf die Wertpapiereigner, vor allem solche wie die Pensionsfonds, Versicherungen und so weiter, und schließlich über staatliche Steuern auf die Masse der Bevölkerung weiterwälzten). Andererseits wurde damit in den USA die Last der Krise durch die Pleite der großen halbstaatlichen US-Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac auf das Kleinbürgertum und besser gestellte Teile der Arbeiterklasse abgewälzt, die buchstäblich aus ihren kreditfinanzierten Häuschen verjagt wurden.
All diese Abwälzungsmechanismen zeigen letztlich immer deutlicher: der letzte Gläubiger in diesem System ist die Arbeiterklasse, die alles schafft und mit ihren Steuern und Abgaben das ganze Staatsbrimborium aufrechterhält und der so gesehen ohnehin schon lange der ganze marode Laden gehören müsste. Er müsste der Arbeiterklasse gehören, die immer noch zusieht, wie die Bourgeoisie den Wagen weiter in den Dreck fährt. Wann sprechen wir endlich von der Eigentumsfrage? Vom Eigentum an den Fabriken und Banken, von Schuldtiteln und anderen Wertpapieren, die Anspruch auf künftige Profite und damit auf unsere Zukunft erheben?