UZ: Seit mehr als einem Jahr kommt es vor allem in Sachsen zu rassistischen Massenaufmärschen des „Pegida“-Netzwerkes. Warum ist diese Bewegung ausgerechnet im Freistaat derart stark?
Kerstin Köditz: Wenn es darauf eine klare Antwort gäbe, wäre es leichter, Erfolg versprechende Gegenstrategien zu entwickeln. Aber: Es gibt eine Reihe von Steinen, die sich zu einem lückenhaften Puzzle zusammensetzen lassen. Doch zunächst für Nicht-Sachsen der Hinweis, dass Sachsen keineswegs nur aus Dresden besteht. Und die Mobilisierungskraft von Pegida konzentriert sich deutlich auf diese Stadt. Schon in den beiden anderen Großstädten, Leipzig und Chemnitz, bekommt diese Bewegung nur einen Bruchteil der Anhänger auf die Beine. Noch dünner wird es, wenn versucht wird, die Demonstrationen in die Kleinstädte in der Peripherie dieser Orte zu exportieren.
Wenn es aber zu Aktionen mit mehreren hundert bis mehreren tausend Teilnehmenden kommt – so in der Kreisstadt Plauen –, dann handelt es sich überwiegend um direkte rassistische Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen, die entweder von örtlichen Ad-Hoc-Gruppen organisiert werden oder aber von der NPD oder anderen direkten Neonazigruppen. Es wäre also falsch, das gesamte rechte Protestgeschehen unter dem Label Pegida zu subsummieren.
Doch zu den – möglichen – Gründen: 25 Jahre Staatspartei CDU haben den berechtigten Eindruck erweckt, der Wille der Bevölkerung zähle nichts mehr und eine aktive Einwirkung auf die herrschende Politik sei chancenlos. Zehn Jahre NPD im Landtag haben dazu geführt, dass Dinge heute in Sachsen sagbar sind, die anderenorts unsagbar wären, sogar zur Normalität im Alltagsdiskurs geworden sind. Die Staatsregierung wiederum hat dieser Entwicklung nahezu tatenlos zugesehen und damit diesem Normalisierungsprozess Vorschub geleistet, der sodann in den letzten Jahren mit dem neuen Akteur AfD eine deutlich erweiterte soziale Basis gefunden hat. Wenn gegenwärtig fast zwanzig Prozent in Sachsen eine Partei rechts von der CDU wählen würden, die innerparteilich bereits rechtsaußen angesiedelt ist, kann man sich über die Zustimmung für Pegida eigentlich nicht wundern.
UZ: Sind es die Abgehängten, die Deklassierten, die in Sachsen auf die Straße gehen, oder ist es das, was man gemeinhin als Mittelschicht bezeichnet?
Kerstin Köditz: Es handelt sich um einen Querschnitt der Bevölkerung. Allerdings ist auffällig, dass sich in der Führung sehr viele kleine und mittlere Selbständige finden, die sich im sozialen Aufstieg wähnten, der aber oftmals jäh und schmerzhaft unterbrochen wurde. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Andreas Zick spricht treffend von einem „verrohten Bürgertum“.
Zu diesem gesellt sich überdurchschnittlich stark die Alterskohorte jener, die zur Wendezeit um die zwanzig waren und in den faktisch gesetzlosen Zeiten der Nachwendeära aktiv geworden waren. Gerade hier finden wir viele ehemalige Nazi-Hooligans, die heute Familienväter sind und ihre Erinnerungen von damals wieder ausgegraben haben. Auch bei diesen wäre die Annahme falsch, dass es sich um Deklassierte handelt. Im Gegenteil sind es oft Personen, die in ihrem lokalen Umfeld gut verankert sind, z. B. als Wehrleiter bei der Feuerwehr.
UZ: Im Rahmen der bisherigen Demonstrationen hetzten Redner gegen Flüchtlinge und andere sogenannte Minderheiten, sie schwadronierten über von ihnen ausgemachte Hoch- und Volksverräter, eine angebliche „Lügenpresse“ und gar Konzentrationslager. Wie bewerten Sie die Personenkreise, die an derlei Aufmärschen teilnehmen und sich dagegen verwahren, extreme Rechte bzw. Nazis zu sein?
Kerstin Köditz: Wer rassistische Sprüche klopft, ist ein Rassist. Basta. Dafür gibt es keine Entschuldigung. Wer zu Demonstrationen geht, von denen zu erwarten ist, dass dort rassistische Tiraden abgelassen werden, ist ebenso zu bewerten. Als Pirinçci seinen geistigen Mist in Dresden abgelassen hat, hat er vor allem Beifall bekommen. Dass dieser nicht so intensiv war wie bei anderen Rednern lag doch vor allem daran, dass er wegen der vielen Fremdworte von einem Teil der Anwesenden nicht verstanden worden ist.
Keineswegs darf aber der Anteil der organisierten Nazis bei diesen Aufmärschen ignoriert werden. Mehrere hundert von ihnen sind am 19. Oktober als separater Block durch Dresden marschiert und haben auch Übergriffe begangen. Der Polizeibericht hat das unterschlagen. Und als im Leipziger Hauptbahnhof ein zurückgekehrter Demonstrant Gegner mit dem Messer angriff, handelte es sich bei dem mutmaßlichen Täter nach bisherigen Hinweisen um einen Nazi aus den neunziger Jahren. In diesem Fall hat die Polizei die Angegriffenen aus dem Bahnhof gedrängt.
UZ: Aber auch der sogenannte Verfassungsschutz hat mehrfach betont, keinerlei Anhaltspunkte dafür zu haben, dass die extreme Rechte Pegida erfolgreich unterwandert habe. Wie sollen extreme Rechte eigentlich extreme Rechte unterwandern?
Kerstin Köditz: Wie soll ich den Analysen eines Geheimdienstes glauben, bei dem ein AfD-Funktionär Analysen erarbeitet? Muss nicht ein Geheimdienstpräsident, der selbst Burschenschaftler ist, eine rechtsextremistische Ausrichtung leugnen, wenn sichtbar immer wieder Burschenschafterfahnen zu sehen sind? Wenn Gruppen wie die Identitären nicht als „extremistisch“ bewertet werden, ist ihre Mitwirkung natürlich auch kein Indiz für eine Ausrichtung von Pegida in diesem Sinne. Alles, aber auch alles, was wir bisher über Pegida wissen, deutet darauf, dass eine Bewegung intendiert ist, deren letztliches Ziel der Systemsturz ist, eine „Revolution von rechts“. Dies trifft auch dann zu, wenn die in Organisationen der extremen Rechten Organisierten in der Minderheit sind.
UZ: Aktuell gelingt es auch der AfD Massenaufmärsche mit mehreren Tausend Teilnehmern zu organisieren. Fürchten Sie, dass Pegida und AfD künftig noch näher als bisher zusammenrücken könnten und dann fernab der traditionellen neofaschistischen Parteien wie der NPD oder der Partei „Die Rechte“ eine ganz neue Form rechter Massenbewegung entsteht?
Kerstin Köditz: Wer jeweils an der Spitze dieser Aufmärsche steht, ist letztlich vor allem von den lokalen Gegebenheiten abhängig. Spätestens nach der Ankündigung von Pegida, zur Partei werden zu wollen, ist zwischen beiden Gruppierungen ein Konkurrenzverhältnis entstanden, das die AfD praktisch dazu gezwungen hat, selbst zum Akteur zu werden, um die Vorherrschaft auf der Straße nicht den feindlichen Brüdern zu überlassen. Aber täuschen wir uns nicht: Für die Masse der Anhänger von Pegida ist die AfD ebenfalls inzwischen nur eine Systempartei.
Allerdings stehen wir tatsächlich vor einem neuen Phänomen in der Geschichte der Bundesrepublik. Erstmals haben wir eine außerparlamentarische Bewegung, die eine Entsprechung und einen Verbündeten in etlichen Parlamenten hat. Aller Konkurrenz zum Trotz gibt es dabei auch eine Kooperation, man spielt sich gegenseitig den Ball zu.
UZ: Welche Möglichkeiten sehen Sie, erfolgreich gegen diesen braunen Ungeist mobil zu machen?
Kerstin Köditz: Mein Optimismus hält sich in sehr engen Grenzen. Jene, die geglaubt haben, Pegida werde an der Spaltung zerbrechen, haben sehr schnell einsehen müssen, dass sie sich geirrt hatten. Ebenso jene, die hofften, Pegida werde die Sommerpause nicht überleben. Von jenen, die angenommen haben, die AfD werde den Austritt von Lucke und dessen Anhängern nicht verkraften können, ganz zu schweigen. All diese Hoffnungen sind vergebens.
Aber wenn wir etwas ändern wollen, werden wir vor allem einen langen Atem brauchen. Antirassistische Arbeit ist zu einem zentralen Aufgabenfeld geworden. Es sind strategische Debatten nötig um abzuwägen, welche Gegenstrategie wo und wie praktikabel und erfolgversprechend ist. Die Analyse muss vor dem Handeln kommen, sonst erleidet man Schiffbruch. Insofern habe ich auch noch keine fertigen Antworten. Eines aber steht für mich fest: Wir dürfen ihnen nicht die Straße überlassen. Und erst recht nicht die Meinungsführerschaft.