Der Jahresbericht zum Stand der „Deutschen Einheit“ 2021, den die Bundesregierung im Juli vorstellte, liest sich fast wie der Vollzug der „blühenden Landschaften“, die Bundeskanzler Helmut Kohl den Bürgerinnen und Bürgern der DDR versprach. So sei Deutschland nicht nur wirtschaftlich, „sondern auch auf der Ebene der Einstellungen“ zusammengewachsen. Das wiederum sei „Ergebnis dreier Jahrzehnte, die bei allen Enttäuschungen und Missverständnissen durch ein großes solidarisches Miteinander geprägt“ seien. Die anhaltenden Beleidigungen Ostdeutscher durch die Mainstream-Medien und den „Ostbeauftragten“ der Bundesregierung, Marco Wanderwitz (CDU), sprechen eine andere Sprache.
Erst vor wenigen Monaten hatte Wanderwitz den Menschen im Osten bescheinigt, „diktatursozialisiert“ und auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen zu sein. Im „Einheitsbericht“ werden als Ursachen dafür unter anderem „Benachteiligungsgefühle“ angeführt. Es geht aber nicht um „Gefühle“, sondern um wirtschaftliche Fakten. So ist dem Bericht selbst zu entnehmen, dass ostdeutsche Beschäftigte mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen im letzten Jahr über 7.600 Euro weniger als ihre westdeutschen Kollegen verdienten. Wie westdeutsche Industrie- und Automobilkonzerne dabei nach der staatlich organisierten Zerschlagung der DDR-Wirtschaft bis heute den Osten als „Niedriglohnzone“ missbrauchen, zeigt die Tatsache, dass ostdeutsche Arbeiter in der Metallindustrie bis heute fast ein Viertel weniger verdienen als im Westen. Die Liste der systematischen Benachteiligung ließe sich fortsetzen: Von der Benachteiligung bei den Renten über die Konzentration der spärlichen Rest-Industrie im Osten in der Hand westdeutscher Konzerne bis zur Dominanz westdeutscher Rektoren an ostdeutschen Unis.
Wenn es nach Wanderwitz oder den Mainstream-Medien geht, ist das „Demokratiedefizit“ der Menschen im Osten vor allem daran festzumachen, wo sie ihr Kreuz machen bei der Wahl. Welche politische Haltung ostdeutsche Bürger haben, interessiert dabei nicht. So dürfte zum Beispiel das Eintreten für eine friedliche Außenpolitik Bestandteil einer demokratischen Haltung sein, denn die Erfahrungen aus der Geschichte zeigen, dass Kriegspolitik einhergeht mit einer zum Teil massiven Einschränkung demokratischer Rechte in der Gesellschaft, weil alles – inklusive Hetze gegen den vermeintlichen „Feind“ – dem Kriegsziel untergeordnet wird. So erleben wir gerade, wie mit dem Anstieg des Verteidigungsetats die Hetze gegen Russland weiter vorangetrieben wird. In dieser Situation sind es laut Forsa-Umfrage vom Juli vor allem Ostdeutsche, die durch eine Friedenshaltung auffallen: 60 Prozent sprechen sich für mehr Unabhängigkeit von den USA als NATO-Führungsmacht und Kriegstreiber Nummer 1 in der Welt aus – im Gegensatz zu 32 Prozent der Westdeutschen. Dementsprechend wünschen sich 50 Prozent der Menschen im Osten ein engeres deutsch-russisches Verhältnis, dem nur 25 Prozent der Westdeutschen zustimmen.
Die nächste Sau, die Wanderwitz im August durchs Dorf der Medien trieb, ist die Behauptung, dass die niedrigere Impfquote gegen Covid-19 im Osten wiederum ein Hinweis auf Demokratiedefizite in diesem Teil Deutschlands sei. Im gleichen Zusammenhang offenbart Wanderwitz ungewollt selbst das fragliche Demokratieverständnis der Merkel-Regierung, wenn er für den Herbst kritiklos einen „Teil-Lockdown“ für „Ungeimpfte“ erwartet – also das weitere Aussetzen demokratischer Bürgerrechte für bestimmte Bevölkerungsteile. Zusammen mit dem faktischen Impfzwang für Arme aufgrund kostenpflichtiger Tests ab dem 11. Oktober bleibt die Frage: Wer kümmert sich eigentlich um das Demokratiedefizit der Regierung?
(aus: „Roter Brandenburger“ 3/2021)