Zur Science-Fiction von Liu Cixin

Wer hält den Weltenzerstörer auf?

Liu Cixin ist der erfolgreichste chinesische Science-Fiction-Autor der Gegenwart. Für seine „Trisolaris“-Trilogie („Die drei Sonnen“, „Der dunkle Wald“, „Jenseits der Zeit“) gewann er nicht nur zahlreiche nationale und internationale Literaturpreise, sondern auch – als erster chinesischer Autor überhaupt – den Hugo-Award, den weltweit wichtigsten Preis für Science-Fiction-Literatur.

Der 1963 in Yangquan in Shangxi geborene Liu arbeitete als Computeringenieur in einem Kraftwerk, bevor er sich komplett dem Schreiben widmete.

Auf den ersten Blick eine Geschichte, wie sie zumindest für frühere Science-Fiction typisch war: ein technisch-naturwissenschaftlich interessierter Typ mit passender Bildung schreibt Bücher über nerdiges Zeug für andere Nerds. Und erfindet dabei wirklich Abgefahrenes. Nicht umsonst wirbt sein deutscher Verlag Heyne – neben der Begeisterung Barack Obamas – mit dem Zitat aus der „New York Times“, Liu sei „der chinesische Arthur C. Clarke“. Der Physiker Arthur C. Clarke war ein typischer Vertreter der sogenannten „Hard Science-Fiction“, die sich nahe am tatsächlichen Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und des technischen Fortschritts orientiert. Einige der Hauptfiguren im bisherigen Werk Liu Cixins scheinen die Nähe zu den Lesern der sogenannten klassischen Science-Fiction noch verdeutlichen zu wollen: Gleich mehrmals sind es junge Männer, die sich in eine Welt aus Mathematik, Physik und Computern vergraben und sich nicht trauen, Frauen anzusprechen oder zumindest „der einen“ eine Andeutung zu machen, was Sache ist. Es sind Typen, die vor lauter Schüchternheit lieber einsam bleiben. Die Frauenfiguren, auch wenn sie oft entscheidende (und höherrangige) Rollen einnehmen, bleiben erstaunlich blass.

Was macht also die Faszination der Science-Fiction Liu Cixins aus? Liu geizt in seinen Erzählungen nicht damit, der Leserin und dem Leser ein „sense of wonder“ zu bescheren, also das Staunen darüber, was möglich ist oder sein könnte, bleibt dabei aber nicht stehen und vermischt das beim Leser ausgelöste Staunen in geschickten Metaphern mit den ganz großen Fragen. Und mit den Widersprüchen, die die Versuche, sie zu beantworten, mit sich bringen.

Im ersten Band der „Trisolaris“-Reihe wird beispielsweise nicht nur extrem clever die gesamte Erfahrung und Geschichte einer außerirdischen Zivilisation der Menschheit in einem Computerspiel zugänglich gemacht, sondern auch noch anschaulich dargestellt, was die Möglichkeit der Grundlagenforschung in der Physik für die Menschheit bedeutet. Im zweiten Band liefert Liu eine so erschreckende wie simple Lösung für das Fermi-Paradoxon (Wenn da draußen noch wer ist, warum sieht und hört man nichts?), die auf zwei ganz einfachen Annahmen beruht. Erstens: Alle wollen überleben. Zweitens: Auch im Universum sind Platz und Ressourcen begrenzt. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten, aber der Schluss, zu dem Liu kommt, ist zwingend, einleuchtend und überhaupt nicht schön. Im dritten Band wird ein Märchen, erzählt unter den, man weiß es gar nicht so genau, Ohren oder Augen, auf jeden Fall aber unter der Aufmerksamkeit der Außerirdischen, zu einem Schlüssel für die eventuell mögliche Rettung der Menschheit. Das Ganze in einer Geschichte über eine Zivilisation im All, die von einer anderen entdeckt wird, in der es bewusst handelnde Elementarteilchen gibt und zehn Dimensionen, von denen eine zu einer tödlichen Waffe wird, die das gesamte Universum auslöschen kann. Nebenbei erstreckt sich die Geschichte auch noch über den unfassbaren Zeitraum von mehr als 16 Millionen Jahren.

Aber noch etwas ist erstaunlich an den Büchern von Liu Cixin – und das macht ihn, der von sich selber sagt, er sei viel näher an westlicher Science-Fiction als an chinesischer Literatur, zu einem typischen Vertreter der chinesischen Science-Fiction. Die Welt, die Liu beschreibt, ist nicht erst in Hunderten oder Millionen Jahren eine andere, sondern bereits da, wo die Geschichte in der Gegenwart spielt. Sämtliche Länder arbeiten normal zusammen und wenn es um Entscheidungen geht, die die gesamte Menschheit betreffen, haben ohne Frage die Vereinten Nationen das Sagen und in Expertengruppen sitzen Nationen gleichrangig am Tisch. Die internationale Zusammenarbeit ist selbstverständlich, selbst die USA werden natürlich eingeschlossen. Widerspruchsfrei ist das nicht. Aber die Widersprüche bei Liu Cixin sind andere, als wir gewohnt sind, und die Auflösung manches dieser Widersprüche hält Überraschungen bereit. Auch das macht die Bücher von Liu erfrischend, denn in einer solchen Welt müssen die grünen Männchen, ihre Raumschiffe oder Sonden eben nicht, wie sonst so häufig, in Washington D. C. oder New York landen, die Vereinten Nationen haben eine Generalsekretärin und die USA sind dankbar dafür, dass sie chinesische Technik nutzen dürfen, um Naturkatastrophen zu verhindern.

Die Frage danach, wem Erkenntnisse in der Physik oder anderen Naturwissenschaften gehören, spielt bei Liu keine im Vordergrund stehende, seinen Büchern aber immanente Rolle. Wer teilt was mit wem? Sollte man die Erkenntnis nicht öffentlich machen, damit ihre Grenzen gemeinsam weitergeschoben werden können? Wer kriegt Zugang zu einem Teilchenbeschleuniger? Soll Wissenschaft vom Profit abhängen? Wenn man sieht, wie gerade westliche Pharmakonzerne auf den Patenten für Covid-19-Impfstoffen sitzen, ist die Frage danach, ob Menschheitswissen nicht auch der Menschheit gehören muss, hochaktuell.

Und sie spielt nicht nur in seiner letzten Trilogie eine Rolle. „Trisolaris“ ist zwar das bis jetzt umfangreichste und erfolgreichste Werk Liu Cixins, aber nicht das einzige. Auf Deutsch erhältlich sind unter anderem auch der Roman „Kugelblitz“, der einen schüchternen Jungen von der Suche nach der Ursache des Todes der Eltern und der Erforschung dieser Ursache als Waffe zu einer bedeutenden Entdeckung in der Quantenphysik bringt, sowie mehrere Novellen und Erzählungen. „Um Götter muss man sich kümmern“ behandelt die Probleme, die eine expansive und ausbeuterische Zivilisation verursacht, im kleinen Rahmen eines chinesischen Dorfes. Die Novelle „Spiegel“ fragt danach, was aus der Menschheit wird, wenn sie die Zukunft erst kennt und es nichts mehr zu entdecken, zu erforschen und erfahren gibt, und in „Weltenzerstörer“ erreicht eine Warnung die Erde: „Alarm, der Weltenzerstörer kommt!“ Die Menschen haben Zeit, sich vorzubereiten, schaffen es fast, scheitern schließlich doch und leben ganz anders weiter, als es jemals jemand für möglich gehalten hätte. Auf der Erde gibt es auch danach noch eine Zivilisation. Und nein, es sind nicht die Außerirdischen. Aber auch nicht die Menschen.

Den Weltenzerstörer aufzuhalten muss eben nicht bedeuten, die menschliche Zivilisation so zu erhalten, wie sie ist.

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"Wer hält den Weltenzerstörer auf?", UZ vom 12. Februar 2021



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