Wer die Welt verändern will, muss sie erkennen

Von Paul Rodermund

wer die welt veraendern will muss sie erkennen - Wer die Welt verändern will, muss sie erkennen - Politisches Buch - Theorie & Geschichte

Lena Kreymann, Paul Rodermund (Hg.)

Eine Welt zu gewinnen

Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können

PapyRossa Verlag, Köln 2018

231 Seiten, 10 Euro

Erscheinungsdatum: 2. Julihälfte

Bestellbar bei www.uzshop.de

200 Jahre Marx scheinen für viele Grund genug, sich über die Aktualität des Marxschen Denkens den Kopf zu zerbrechen. Zeitgleich mit Marx‘ 200. Geburtstag hat die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend ihren 50. Geburtstag gefeiert. Der Jugendverband hat beide Anlässe aufgegriffen und sich selbst mit dem Sammelband „Eine Welt zu gewinnen – Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können“ beschenkt.

Das von der SDAJ in Auftrag gegebene Buch soll insbesondere jungen Leuten helfen, die Welt zu begreifen und zu verändern. Dafür wird sich mit Leben und Erkenntnissen von Karl Marx, einer marxistischen Interpretation der Widersprüche unserer Zeit sowie Klassenkämpfen des 20. Jahrhunderts befasst.

Das einführende Kapitel behandelt die Entwicklung des Dialektischen und Historischen Materialismus, die Analyse der Grundstruktur der kapitalistischen Produktionsweise, den Kampf für den Sozialismus vom Bund der Gerechten bis zur Pariser Kommune. Das zweite Kapitel befasst sich mit den grundlegenden Widersprüchen und Problemfeldern unserer heutigen Gesellschaft und diskutiert mögliche Lösungen. Es beschäftigt sich mit prekären Arbeitsbedingungen der Jugend, fehlender Bildungsgerechtigkeit, der fortwährenden Frauenunterdrückung, der ökologischen Krise, Fluchtbewegungen der letzten Jahre, der Ursache von Kriegen, internationalen Abhängigkeiten und der Rolle Deutschlands sowie mit der Weltwirtschaftskrise ab 2007. Das dritte Kapitel beginnt mit der russischen Oktober- und der deutschen Novemberrevolution und beleuchtet die Debatten um eine antifaschistische Strategie vor 1933. Weitere Themen sind die unterschiedlichen Entwicklungen in DDR und BRD sowie die Protestbewegung von 1968 und die Frage, ob mit dem Ende des Sozialismus nach sowjetischem Modell nun auch das Ende der Geschichte gekommen sei.

Der Sammelband enthält Beiträge von Hans-Peter Brenner, Dietmar Dath, Heiko Humburg, Georg Fülberth, Patrik Köbele, Philipp Krämer, Lena Kreymann, Beate Landefeld, Jürgen Lloyd, Seta Radin, Paul Rodermund, Björn Schmidt, Arnold Schölzel, Werner Seppmann, Jürgen Wagner und Lucas Zeise.

Im folgenden dokumentieren wir einen Beitrag von Björn Schmidt aus dem zweiten Kapitel. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Vorabdruck.

Aus dem SDAJ-Programm auf dem UZ-Pressefest:

• Lesung aus dem Sammelband „Eine Welt zu gewinnen – Marx, der Kapitalismus von heute und was wir tun können“

• „50 Jahre Kampfgemeinschaft – Gespräch mit jungen und alten SDAJ‘lerInnen“

• „Der revolutionäre Jugendverband in diesem Land – Diskussion mit Lena Kreymann, Vorsitzende der SDAJ und Axel Koppey, Vorsitzender der DKP Hessen“

• „Kosten steigen, Löhne sinken – Workshop mit Jugendvertretern“

• „Ihr seid Träumer – Buchbesprechung und Diskussion mit dem Autor Manfred Jansen und Betriebsaktiven aus der SDAJ“

Konkurrenz und Kooperation

Internationale Abhängig­keiten und die Rolle Deutschlands

Von Björn Schmidt

Seit Jahrhunderten ist die Welt gespalten in Unterdrücker und Unterdrückte. Im Kapitalismus sind es die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Aber auch im Weltmaßstab zeigt sich diese Spaltung durch einen kleinen reichen Teil – Japan, (West-)Europa und Nordamerika – und einen großen armen Teil – Afrika, Lateinamerika und weite Teile Asiens.

In früheren Jahrhunderten wurden Länder der letzteren Kontinente durch die alten Kolonialmächte in Besitz genommen und ausgeplündert. Sklavenhandel, Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Militärstützpunkte und Absatzmärkte für ausländische Waren – das waren die Funktionen, die den Kolonien zugewiesen wurden. Mit fortschreitender Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert änderte sich das nicht. Zwar wurden Sklavenhandel und Sklavenarbeit mehr und mehr verboten, die weltumspannenden Reiche Großbritanniens, Frankreichs und anderer Kolonialmächte blieben jedoch erhalten. Mit zunehmender Konkurrenz der Mächte untereinander wurden noch die letzten Flecken der Erde zu ihrer Beute. Schließlich markierte der 1. Weltkrieg die Eskalation beim Kampf um eine Neuverteilung der Kolonien. Das Deutsche Reich etwa, obwohl spät in die Reihe der Industrienationen aufgestiegen und beim Wettlauf um die Aufteilung der Kolonien zu spät gekommen, meldete nun Ansprüche auf einen größeren Teil vom „Kuchen“ der Kolonien an. In der Folge der russischen Oktoberrevolution und später des Sieges der Völker über den Hitlerfaschismus begann eine Phase der Befreiung vieler Kolonien von der Herrschaft der Kolonialmächte. Reihenweise proklamierten neue Nationalstaaten in Afrika ihre Unabhängigkeit, einige Länder Afrikas und Asiens näherten sich politisch der Sowjetunion an. Bis zu den 1970er Jahren waren die meisten der früheren Kolonien politisch unabhängig geworden.

Rückeroberung

Parallel zur Dekolonisierung entwickelten die westlichen Wirtschaftsmächte unter Führung der USA das System des Neokolonialismus. Anstatt die Herrschaft in der „Dritten Welt“ direkt auszuüben, entstand ein System wirtschaftlicher Abhängigkeit, das mit einigen Einschränkungen bis heute existiert. Es basiert auf einer ausgedehnten Kontrolle der Wirtschaften der sogenannten „Entwicklungsländer“ durch die USA, Japan, die EU und andere Staaten, die politisch und wirtschaftlich das „Westliche Lager“ bilden. Diese Kontrolle wird beispielsweise durch Kreditvergaben mit politischen Bedingungen wie der Öffnung der lokalen Märkte für westliche Konzerne und Banken erreicht, durch politische Einmischung und militärische Drohungen. Das Ergebnis ist eine erdrückende wirtschaftliche Vorherrschaft, die die abhängigen Länder zu Rohstofflieferanten, Absatzmärkten und „verlängerten Werkbänken“ der westlichen Industriekonzerne herabstuft. Millionen Hektar Land werden in das Eigentum von Finanzinvestoren – oft aus Europa – überführt. Lokale Märkte werden durch ausländische Billigwaren überschwemmt, qualifizierte Arbeits- bzw. Fachkräfte massenhaft abgeworben.

Heutzutage wird die westliche Vorherrschaft nicht mehr hauptsächlich durch „rassische Überlegenheit“ gerechtfertigt wie noch bis ins 20. Jahrhundert hinein. Stattdessen wird ein zivilisatorisch fortgeschrittener „aufgeklärter, moderner, demokratischer Westen“ den „rückständigen, autoritären, korrupten und menschenrechtsverletzenden“ Entwicklungsländern und unliebsamen Konkurrenten gegenübergestellt. Wie aus einem Baukasten werden je nach Belieben Vorwürfe zusammengestellt, die als Etiketten den Staaten und Völkern aufgeklebt werden. Kleine Nationen, wie etwa Venezuela und Bolivien, die sich westlicher Vorherrschaft entgegenstellen, wird Nationalismus vorgeworfen. Ländern mit starken religiösen Traditionen wie auch einigen osteuropäischen Ländern und Russland Homophobie und Sexismus. Staaten mit anderen politischen Systemen, als sie der Westen hat, wie Kuba und China, werden zu „Diktaturen“. Dabei geht es nicht um die Durchsetzung von Menschenrechten und Demokratie, sondern um die Einmischung in die Angelegenheiten souveräner Staaten und darum, das westliche System als Hort der individuellen Freiheit, vor allem gemünzt auf Bürgerrechte, darzustellen. Der Rest der Welt wird zu unbelehrbaren Schülern degradiert, die in Sachen Demokratie die Nachhilfe des Westens brauchen. Neuerdings müssen sich industriell unterentwickelte Länder den Vorwurf anhören, sie seien die Klimakiller. Ausgerechnet von jenen Staaten, die mehr als hundert Jahre lang die Umwelt verschmutzt haben. Der Heimatstaat von VW, BMW, Daimler, BASF und Bayer, die BRD, spielt sich international als Hüter des Umweltschutzes auf.

Die wirtschaftliche Ungleichheit und Armut im Weltmaßstab wird auf internationalen Gipfeln wortreich bedauert, tatsächlich aber mit allen Mitteln aufrechterhalten. Zum Beispiel, wenn die EU in traditioneller Kolonialmanier versucht, sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPAs) mit afrikanischen Staaten abzuschließen. Diese werden durch die Freihandelsabkommen gezwungen, ihre Märkte über eine Dauer von 25 Jahren für die überlegene westliche Konkurrenz zu öffnen. Im Gegenzug wird ihnen Marktzugang in der EU angeboten – den sie in der Regel sowieso schon haben. Die meisten afrikanischen Staaten haben sich gegen die tödliche Umklammerung durch die EU gewehrt und die Abkommen nach 15 Jahren Verhandlungsdauer nicht unterzeichnet – auch weil sie mit China einen alternativen Wirtschaftspartner haben, der ihnen keine politischen Bedingungen stellt. So oder so verbleiben die afrikanischen Staaten aber in ökonomischer Abhängigkeit und müssen sich den Interessen ihres größeren Wirtschaftspartners unterordnen. Das politisch-wirtschaftliche System des Imperialismus dominiert dadurch nach wie vor die Weltwirtschaft. Fast drei Viertel der 2000 größten Banken und Konzerne entstammen dem westlichen Lager, mehr als 550 von ihnen allein den USA.

Einmischung, Putsch, Krieg

Zahlreiche internationale Institutionen und Vereinigungen werden vom Westen gebildet bzw. beherrscht. Sie dienen dazu, dessen weltweite wirtschaftliche Vorherrschaft abzusichern. So etwa die Gruppe der 7 (G7), die Weltbank, der Internationale Währungsfonds (IWF), die NATO, der Internationale Strafgerichtshof und die EU. Sie sind in der Lage, wirtschaftlichen, politischen und militärischen Druck auf Staaten auszuüben, die ihre Weltordnung infrage stellen. Beispiele dafür sind die Wirtschaftsblockade gegen Kuba, die Sanktionen gegen Russland, die Medienhetze und militärischen Drohungen gegen die Regierungen Venezuelas und Irans. In den letzten Jahrzehnten haben die westlichen Staaten eine „elegante“ Methode zum Sturz unliebsamer ausländischer Regierungen entwickelt: Die sogenannten „bunten Revolutionen“. Dabei werden durch westlich finanzierte Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) Protestbewegungen gegründet bzw. unterstützt, die reale oder vermeintliche Missstände aufgreifen und durch z. T. lang andauernde Massenproteste und gezielte Ausschreitungen eine Regierung in Bedrängnis bringen oder sogar stürzen. Schwerpunkte waren vor allem Osteuropa bzw. Länder der ehemaligen Sowjetunion (Jugoslawien, Georgien, Kirgisien, Usbekistan, Weißrussland, Moldawien, Armenien, Ukraine).

Doch nicht überall reicht es, zur Durchsetzung westlicher Interessen NGOs zu fördern. In Tunesien oder Ägypten kooperierte man mit den Muslimbrüdern, um die Proteste des Arabischen Frühlings zu kanalisieren. Beim Krieg, oder besser: gegen Syrien setzte man mit Hilfe befreundeter Staaten in der Region auf islamistische bzw. dschihadistische Kräfte – oftmals als „moderate Rebellen“ beschönigt –, die einen lokalen Protest schnell anfachten. Es waren die USA, die EU, und ihre Verbündeten in der Region, vor allem die Golfstaaten, die schon lange den syrischen Staat auf ihrer Abschussliste hatten. „Der Sturz des Assad-Regimes würde die Lebenslinie der Hisbollah in den Iran durchtrennen, eine langjährige Bedrohung Israels beseitigen, die Souveränität und Unabhängigkeit des Libanon stärken und dem iranischen Regime eine strategische Niederlage zufügen. Er wäre ein geostrategischer Erfolg ersten Ranges. Mehr als all die überzeugenden moralischen und humanitären Gründe liegt hier die Ursache, weshalb Assad nicht erlaubt werden kann, erfolgreich zu sein und an der Macht zu bleiben: Wir haben ein klares nationales Sicherheitsinteresse an seiner Niederlage. Und das allein sollte uns dazu ermuntern, beachtliche Risiken einzugehen, um dieses Ziel erreichen zu können.“ (US-Senator John McCain). Die deutsche Bundesregierung beteiligte sich an diesem gigantischen Kriegsverbrechen von Anfang an. Das Ziel eines „Regime Change“, also einer völkerrechtswidrigen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates, wurde vom Bündnis „Freunde Syriens“ – mit Deutschland als Mitglied der Führungsgruppe – konsequent verfolgt. Die Bundesrepublik war es – neben Frankreich – auch, die innerhalb der EU Druck für ein brutales Wirtschafts­embargo gegen Syrien machte. Und natürlich teilte sie die Ziele der USA und ihrer Bündnispartner in der Region, als diese etliche – zum Teil dschihadistische – Milizen unterstützten, die Syrien in ein Schlachtfeld verwandelten. Währenddessen entfaltete sich in deutschen Medien eine Kampagne zur Dämonisierung des syrischen Präsidenten Assad und der syrischen Armee, die für Kriegsgräuel fast ausschließlich verantwortlich gemacht wurde.

Steht ein ausländischer Staatschef den eigenen Plänen im Weg und ist die Situation günstig, so wird vom Westen ein „Regime Change“ in Gang gesetzt. Gleich ob in Form wechselnder Koalitionen oder im Rahmen der NATO. In Libyen wurde 2011 Staatschef al-Gaddafi in Folge eines NATO-Bombenkrieges gestürzt. Zuvor hatte der UN-Sicherheitsrat eine Flugverbotszone für die libysche Armee beschlossen, die von den NATO-Mächten als Einladung für ihr Eingreifen interpretiert wurde. Als „Bodentruppen“ waren auch dort von den USA, Großbritannien und Frankreich unterstützte bewaffnete Gruppen zum Einsatz gekommen, die schließlich al-Gaddafi bestialisch ermordeten. Zwar enthielt sich Deutschland in der UNO der Stimme, doch erlaubte die Bundesregierung US-amerikanischen Truppen die Nutzung ihrer Stützpunkte für den Krieg und entlastete sie beim Krieg in Afghanistan.

Die Ukraine stand schon lange auf der Liste der Länder, die der Westen in sein Herrschaftsgebiet einverleiben wollte. Bereits 2004 wurde der damalige Staatschef Janukowitsch durch den pro-westlichen Juschtschenko infolge der sogenannten „Orangenen Revolution“ ersetzt. 2010 jedoch siegte bei den Wahlen erneut Janukowitsch. Im Herbst 2013 wurden die westlichen Umsturzpläne in die Tat umgesetzt. Janukowitsch verhandelte sowohl mit Russland über einen Beitritt zur Eurasischen Wirtschaftsunion als auch mit der EU über ein sogenanntes Assoziierungsabkommen, mit dem Brüssel das Ziel verfolgte, die Ukraine aus der historisch engen Verbindung zu Russland herauszulösen. Als Janukowitsch dies ablehnte, setzte der Westen die seit 1991 von den USA mit zuvor 5 Milliarden Dollar unterstützte „Protestmaschine“ in Gang. Nach wochenlangen blutigen Straßenschlachten, bei denen faschistischen Organisationen die entscheidende Rolle zukam, wurde Janukowitsch in einem Putsch gestürzt. Anschließend startete die neue De-facto-Regierung einen lang andauernden Krieg gegen den bewaffneten Aufstand in der Donbass-Region. Gemeinsam mit den USA hatten die deutsche Bundesregierung und andere westliche Staaten einen gewaltsamen Umsturz unterstützt, um mit ihrem Einflussgebiet möglichst bis an die russische Grenze vorzurücken. Dabei wurden auch unterschiedliche Interessen zwischen den USA und der BRD deutlich. Jede Partei versuchte, „ihre“ Kandidaten möglichst hoch in der ukrainischen Regierung zu platzieren: Die USA setzten sich mit Jazenjuk gegen den „deutschen“ Kandidaten Klitschko durch. Es folgte eine seit dem Kalten Krieg nicht mehr gekannte russlandfeindliche Propaganda der Bundesregierung und der Medienkonzerne, die als Begleitmusik für den Aufmarsch von 5 000 NATO-Soldaten im Baltikum und Polen diente.

Die Europäische Union – das Europa der Banken und Generäle

Bereits am Beispiel Ukraine wird deutlich: Das Selbstbild der EU als einer „Friedensmacht“ entspricht nicht der Wahrheit. Immer wieder wird behauptet, die EU sei das Ergebnis des Ringens der Völker um gegenseitige Achtung und ein friedliches Zusammenleben in Europa. Doch bereits der immer wieder stolz vorgetragene Fakt, dass die EU den größten gemeinsamen Markt der Welt bildet, deutet auf die wahren Hintergründe hin. Es geht um die sogenannten „vier Grundfreiheiten“: Freier Warenverkehr, Personenfreizügigkeit, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapital- und Zahlungsverkehr. Von diesen Grundfreiheiten profitieren vor allem die großen Banken und Konzerne. Denn mit dem großen Binnenmarkt gingen Standortkonkurrenz, Druck auf die Löhne und sozialstaatliche Rechte einher. Die starke Exportorientierung, vor allem der deutschen Konzerne, führte zu Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit in weiten Teilen der EU. Auch in Deutschland sind diese Folgen in Form von unsicheren Arbeitsverhältnissen und „abgehängten“ Regionen wie weite Teile Ostdeutschlands spürbar. Insbesondere während der Weltwirtschaftskrise ab 2008 konnte die BRD ihren Einfluss in der EU massiv ausbauen. So verordnete sie insbesondere den südeuropäischen Ländern strikte Sparprogramme, deren Folgen Massenelend und bisweilen Verhältnisse wie in der Dritten Welt waren. Von einem einheitlichen Staatenbund oder gar einem europäischen Nationalstaat kann heutzutage weniger denn je die Rede sein. Während die BRD versucht, ihren ohnehin schon großen Einfluss beständig zu erweitern, wehren sich vor allem süd- und osteuropäische Staaten gegen die Diktate aus Brüssel und Berlin, etwa bei der nationalen Haushaltspolitik oder der Flüchtlingspolitik. Doch trotz mancher Zerfallserscheinungen bleibt die EU ein Hebel, um die Stellung der Einzelstaaten in der internationalen Konkurrenz verbessern zu können.

Mit Unterzeichnung des EU-Abkommens zur „ständigen strukturierten Zusammenarbeit“ (engl. PESCO) will die EU – und damit der deutsche Imperialismus – ihre eigenständigen militärischen Fähigkeiten ausbauen. Dieses Bestreben ist durchaus als Ausdruck zwischenimperialistischer Widersprüche zu verstehen. PESCO und die Aufrüstung des „Rahmennationenkonzepts“ der NATO in Europa ist dabei kein sich ausschließender Gegensatz: Das Ausbauen der eigenen Militärkapazitäten und -infrastruktur ist der nüchternen Erkenntnis der deutschen Monopolbourgeoisie geschuldet, dass die uneingeschränkte Vormachtstellung des US-Imperialismus ihren Zenit überschritten hat und der Aufstieg Chinas nicht aufzuhalten ist. Um die Vormachtstellung des Westens im Weltmaßstab zu verteidigen, setzt der deutsche Imperialismus deshalb auf eine eigenständige, aber eben auch kompatible Aufrüstung mit der NATO in Europa. Das richtet sich keineswegs gegen den US-Imperialismus, sondern erhöht die militärische Hebelwirkung der NATO, die nach wie vor durch die USA dominiert wird.

G7 unter Druck

Nach dem Ende des Sozialismus und der Auflösung des Warschauer Vertrages trat der Westen einen Siegeszug an, der vorerst zum Stoppen kommen könnte. Während des G20-Gipfels 2017 in Hamburg schrieb „Spiegel Online“: „Die globalen Gewichte verschieben sich: Seit dem ersten G20-Treffen von 1999 sinkt der Beitrag der etablierten Industrienationen zur Weltwirtschaft kontinuierlich. Klare Gewinner sind nur zwei Nationen.“ Gemeint sind China und Indien. Belegbar ist diese Kräfteverschiebung innerhalb der Weltwirtschaft mit Zahlen: Der Anteil der G20 an der Weltwirtschaft betrug 2017 73 Prozent. Der Anteil der G7 innerhalb der G20 betrug vor 20 Jahren noch 44 Prozent (gemessen in Kaufkraftparitäten, d. h. dem Kaufkraftniveau angepasst ans jeweilige Preisniveau), 2016 waren es nur noch 31 Prozent. Deutschlands Anteil sank von fünf Prozent auf 3,33 Prozent. Die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) hingegen haben kräftig zugelegt: Von 18,4 Prozent vor 20 Jahren auf 31,2 Prozent. Damit haben die BRICS die G7 überholt.

Angesichts der Tatsache, dass sich die neuen aufstrebenden Länder, zu denen neben den BRICS u. a. auch die Türkei und Iran zählen, in ihrem rasanten Aufstieg größtenteils nicht in das westliche Lager integrieren ließen, war die Reaktion des Westens ein engerer Zusammenschluss zwischen USA und EU/BRD, militärisch vor allem durch die NATO repräsentiert. Etwa ab 2008 wurden in den zentralen Denkfabriken der USA, der EU und der BRD ein solch enger Zusammenschluss konzipiert und umgesetzt. Er dient dazu, die westliche wirtschaftliche, politische und militärische Macht zu verteidigen. Dieser Zusammenschluss ist nicht widerspruchsfrei. Der deutsche Imperialismus ist der Juniorpartner des US-Imperialismus, nicht jedoch sein Vasall. Er sucht sich immer die günstigsten Lösungen, um weltpolitischen Einfluss zu gewinnen. Auf absehbare Zeit ist das entscheidende Bündnissystem jedoch der „westliche Block“ gegen Russland, China und Organisationen wie die Shanghai Cooperation Organisation (SCO). Daher nimmt die deutsche Bundesregierung auch die Lagerung US-amerikanischer Atombomben auf deutschem Boden und die Aufrechterhaltung der US-Militärbasen wie etwa in Ramstein in Kauf, wenngleich gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung. Und auch die unmittelbaren Geschäftsinteressen der Konzerne müssen sich der langfristigen machtpolitischen Strategie unterordnen. Zwar beschweren sich Politiker öffentlich über US-Sanktionen gegen Russland, Konsequenzen bleiben aber aus – das Bündnis mit dem US-Imperialismus ist wertvoller für die Bundesregierung als die Geschäfte mit Russland –, selbst wenn es um milliardenschwere Gaslieferungen geht.

Die NATO-Länder agieren heute im Wesentlichen als antirussischer, antichinesischer Block. Das Kalkül der außenpolitischen Eliten ist dabei, gemeinsam mit den USA die herrschende Weltordnung zu verteidigen, um so überhaupt als Großmacht auftreten zu können. So kommentierte Wolfgang Ischinger, Veranstalter der jährlichen Münchener NATO-Sicherheitskonferenz, die Folgen des Wahlsiegs von Donald Trump: „Anstatt uns pauschal von den USA abzuwenden, sollten wir mit all jenen zusammenarbeiten, die an einer Bewahrung der transatlantischen Wertegemeinschaft interessiert sind. Dazu scheinen ja auch einige Mitglieder der neuen Regierung zu zählen, die sich erfreulich deutlich zur transatlantischen Partnerschaft und Kontinuität bekannt haben – von den Trump-Gegnern im Kongress ganz zu schweigen. Zweitens ist es nicht so, dass überall auf der Welt Partner Schlange stünden, die mit Europa die liberale Weltordnung verteidigen wollten. […] Langfristig wird die liberale Weltordnung nur Bestand haben, wenn sie von beiden Pfeilern der transatlantischen Partnerschaft gestützt wird. Drittens übersehen jene, die jetzt zu einer europäischen Gegenmachtbildung zu den USA aufrufen, dass diese Option in Wahrheit gar nicht besteht. Die Europäer können kurz- und mittelfristig nicht auf die US-amerikanische Sicherheitsgarantie verzichten.“ Um eine größere Rolle im westlichen Lager zu spielen, will die Bundesregierung die Militarisierung der EU vorantreiben und selbst aufrüsten. Zu diesem Zweck wird die Absichtserklärung der NATO-Staaten von 2014 genutzt, das Militärbudget bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes zu erhöhen. Bei einem Wirtschaftswachstum von zwei Prozent pro Jahr wären das im Jahr 2024 mehr als 75 Milliarden Euro – eine jährliche Steigerung um fast zehn Prozent.

Auf dem Weg in die nächsten Kriege

Nach Jahrhunderten ist erstmals die wirtschaftliche Vorherrschaft des Westens bedroht. Doch der Trumpf des Imperialismus ist seine politische und militärische Dominanz über weite Teile der Welt. Das System aus ökonomischer Abhängigkeit, politischer Unterdrückung sowie unterschwelligen oder offenen Kriegsdrohungen und -einsätzen ist derzeit nicht in Gefahr. Doch seine Strategen und Vordenker rüsten sprichwörtlich für die kommenden Auseinandersetzungen im Weltmaßstab. Die jeweiligen Regierungen der Bundesrepublik sind mit dabei – immer mit dem Ziel vor Augen, „wachsende Verantwortung“, das heißt wachsende Kriegsbereitschaft wahrzunehmen.

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"Wer die Welt verändern will, muss sie erkennen", UZ vom 13. Juli 2018



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