Wer geglaubt hatte, dass es nach Corona, Krieg, Krise und Inflation nicht mehr schlimmer kommen könnte, hat sich gewaltig geirrt. „Bald leere Süßigkeitenregale? Warnstreiks betreffen Haribo, Nestlé und mehr“ fragte besorgt die „tz“ am vergangenen Donnerstag. Dass KitKat, Goldbären, Leibniz-Kekse und einige andere Leckereien bald knapp werden könnten, daran ist nicht wie üblich „der Russe“ im allgemeinen und Putin im Besonderen oder gar die Volksrepublik China schuld. Verantwortlich für die neuerliche Misere – glaubt man dem Boulevard – ist die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). 13 Prozent aller Arbeitskämpfe in Deutschland gingen 2022 auf das Konto der kleinen, aber kämpferischen Gewerkschaft. Gemessen an ihrer Mitgliederzahl war die NGG damit im vergangenen Jahr innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes am häufigsten in Arbeitskämpfe involviert.
Für Anfang Juni stehen nun wieder Arbeitskämpfe an. Durch Warnstreiks soll in der aktuellen Tarifrunde erstmals ein flächendeckender Tarifvertrag in der Süßwarenindustrie durchgesetzt werden. Bei den ersten Verhandlungen hatte der Bundesverband der Süßwarenindustrie (BDSI) überhaupt kein Angebot gemacht. Im Rahmen der zweiten Verhandlungsrunde präsentierte der BDSI dann ein aus gewerkschaftlicher Sicht“völlig unzureichendes Angebot“. Daraufhin votierte die Verhandlungskommission der NGG einstimmig für den vorläufigen Abbruch der Verhandlungen.
Konkret fordert die NGG für die unteren Entgeltgruppen 500 Euro mehr pro Monat sowie 400 Euro für die anderen Entgeltgruppen. Auszubildende sollen 200 Euro mehr und eine Fahrtkostenpauschale von 50 Euro monatlich erhalten. Die Laufzeit soll angesichts der unsicheren Entwicklungsprognosen maximal zwölf Monate betragen.
Aus Sicht des BDSI sind die Forderungen „unverhältnismäßig und unbegründet“ – wies sollte es auch anders sein. In diesem Kapitalverband sind unter anderem Ritter Sport, Haribo, Mondelez (Milka), Ferrero, Mars, Katjes und Storck organisiert. Diese befänden sich in einer „wirtschaftlich extrem angespannten Situation“. Trotzdem habe man kräftige Lohnsteigerungen sowie die Zahlung einer Inflationsprämie von 1.500 Euro angeboten, hieß es in einer Pressemitteilung. Dort ist von einer Lohnerhöhung von 125 Euro in diesem Jahr die Rede. Im darauffolgenden Jahr soll dann ein Aufschlag von 100 Euro folgen.
Damit bleibt das Angebot mit einer kümmerlichen Lohnerhöhung von 3,8 Prozent in diesem Jahr und 2,9 Prozent in 2024 weit unter der Inflationsrate – und dies bei einer Laufzeit von 24 Monaten.
Auch die in der BDSI-Mitteilung genannte „wirtschaftlich extrem angespannte Situation“ erweist sich beim näheren Blick in die Bilanzen als Jammern auf hohem Niveau. Nach eigenen Angaben machte die Branche im vergangenen Jahr in Deutschland mehr als 14 Milliarden Euro Umsatz – dies entspricht einem Plus von rund 8 Prozent. Ein Trend, der auch durch die Wirtschaftsdaten international agierender Süßwarenkonzerne bestätigt wird. So erzielte Nestlé 2022 einen Gewinn von rund 9,5 Milliarden Euro und der Lebensmittelriese Unilever kam auf einen Nettogewinn von rund 8,3 Milliarden Euro im gleichen Jahr.
Von solchen Vermögenszuwächsen können die rund 60.000 Beschäftigten in der Branche nur träumen. Im Gegenteil: Statt mehr Geld im Portemonnaie mussten die Kolleginnen und Kollegen rund 10 Prozent Reallohnverlust seit dem letzten Tarifabschluss 2021 hinnehmen. Dies, obwohl in der Branche während der Pandemie trotz hohem Infektionsrisiko durchgearbeitet wurde.
Kein Wunder, dass die Unzufriedenheit unter den Kolleginnen und Kollegen hoch ist. „Sie erwarten eine echte Entlastung und deutlich mehr Geld, keine Peanuts“, so ein Gewerkschaftssprecher in der vergangenen Woche. „Wir werden jetzt eine Streikwelle anschieben, wie sie diese Branche noch nicht erlebt hat.“ Obst zu essen statt über den fehlenden geliebten Schokoladenriegel zu jammern wäre dann nicht nur gesund, sondern auch gelebte Solidarität.