Zum 150. Geburtstag der Kommunistin Alexandra Kollontai

Wenn die Freiheit Tatsache wird

Alexandra Kollontai, die vor 150 Jahren, am 31. März 1872, geboren wurde, war eine herausragende Persönlichkeit der russischen kommunistischen Bewegung. Im Exil war sie international als Rednerin und Autorin aktiv. In Deutschland wurde sie mit Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Clara Zetkin bekannt. Als Volkskommissarin für Soziales war Kollontai die erste Frau in der Geschichte in einem Regierungskabinett. Ab 1922 war sie die erste Botschafterin der UdSSR in Norwegen und Schweden.

Kollontai kam aus einer wohlhabenden Sankt Petersburger Familie. Ihr Vater stammte von ukrainischen Landbesitzern ab und wurde später General in der kaiserlich-russischen Armee. Ihre Mutter war die Tochter eines finnischen Holzhändlers und einer russischen Adeligen. Als Kind verbrachte Alexandra viele Sommer auf dem Familiengut in Finnland. Sie sprach fließend Russisch, Finnisch, Englisch, Deutsch und Französisch, Sprachkenntnisse, die nicht nur der revolutionären Bewegung zugute kamen, sondern später auch dem sowjetischen diplomatischen Dienst. Innerhalb der russischen kommunistischen Bewegung focht sie für Frauenrechte und war zudem federführend in der Sozialgesetzgebung der frühen Sowjet­republik.

Kollontais aktive politische Arbeit begann, als sie 1894 in Sankt Petersburg Arbeiterabendkurse gab. Dadurch wurde sie Teil des Politischen Roten Kreuzes, einer Organisation zur Unterstützung politischer Gefangener, die teilweise im Untergrund arbeitete. August Bebels „Die Frau und der Sozialismus“ hinterließ 1895 einen tiefen Eindruck und beeinflusste ihr zukünftiges Denken und Arbeiten.

1896 erfuhr Kollontai erste direkte Eindrücke kapitalistischer Industrie in einer großen Sankt Petersburger Textilfabrik. Kurz darauf beteiligte sie sich an Flugblatt- und Spendenaktionen zur Unterstützung eines Massenstreiks in der Textilindustrie. Die Streiks von 1896 festigten ihre Gewissheit der Notwendigkeit einer proletarischen Revolution. 1899 schloss sie sich der illegal operierenden Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDAP) an. 1905 begann sie sich aktiv der Frauenfrage zuzuwenden. Ihr Werk „Die sozialen Grundlagen der Frauenfrage“ war die erste größere Darstellung einer russischen Marxistin zu diesem Thema. Darin befürwortete sie nicht allein den Umsturz des kapitalistischen Systems, sie erklärte auch die Notwendigkeit, die Familie selbst umzustrukturieren, um wahre Emanzipation zu erzielen.

Zwischen 1905 und 1908 organisierte Kollontai Arbeiterinnen Russlands, für ihre eigenen Interessen gegen Kapitalisten, gegen bürgerlichen Feminismus sowie gegen Konservatismus und Patriarchat in den sozialistischen Organisationen zu kämpfen. Sie legte damit den Grundstein für eine Massenbewegung.

Wie viele russische Sozialisten verhielt sich Kollontai bei der Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki 1903 neutral. 1904 schloss sie sich der bolschewistischen Fraktion an und hielt für sie Kurse über Marxismus. 1905 schloss sie sich Trotzki an und verließ die Bolschewiki 1906 über die Frage eines Boykotts der Wahlen zur undemokratisch gewählten Duma, in der es ihrer Auffassung nach dennoch möglich war, für linke Forderungen einzutreten und die Machenschaften der Regierung aufzudecken.
Zwischen 1900 und 1920 galt Kollontai als führende Expertin der ­RSDAP für die „finnische Frage“. Sie verfasste zwei Bücher, zahlreiche Artikel und war Beraterin der RSDAP-Mitglieder in der zaristischen Duma sowie Verbindungsperson zu finnischen Revolutionären. Als sie 1908 für das Recht Finnlands auf einen bewaffneten Aufstand gegen das Zarenreich eintrat, wurde sie ins Exil gezwungen.

Von Ende 1908 bis 1917 lebte Kollontai im Exil. Sie reiste in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in die USA, nach England, Dänemark, Schweden, Belgien und in die Schweiz. In ihrem autobiografischen Abriss „Autobiografie einer sexuell emanzipierten Kommunistin“ ist zu lesen: „Als politischer Flüchtling lebte ich fortan in Europa und Amerika bis zum Sturz des Zarismus im Jahre 1917. Als ich nach meiner Flucht in Deutschland ankam, schloss ich mich der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands an, in der ich viele persönliche Freunde hatte, zu denen ich vor allem Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Karl Kautsky zählte; auch Clara Zetkin hatte einen großen Einfluss auf meine Tätigkeit bei der Festlegung der Grundsätze der Arbeiterinnenbewegung in Russland. Bereits 1907 hatte ich als Delegierte aus Russland an der ersten Internationalen Konferenz sozialistischer Frauen in Stuttgart teilgenommen. Diese Versammlung stand unter dem Vorsitz von Clara Zetkin und leistete einen enormen Beitrag zur Entwicklung der Arbeiterinnenbewegung auf marxistischer Grundlage.“

Schon lange vor dem Krieg begann Kollontai entschieden gegen die Kriegsgefahr zu agitieren. Auf einer Rede in Stockholm am 1. Mai 1912 erklärte sie: „Die Kapitalisten sagen immer: Wir müssen uns bewaffnen, weil wir vom Krieg bedroht sind! Und sie verweisen auf ihre heiligen Symbole: den Militarismus zu Lande, den Militarismus auf hoher See und den Militarismus in der Luft. Sie beschwören das Gespenst des Krieges, um es zwischen sich und das rote Gespenst zu stellen. Sie rufen zum Krieg auf, um sich von dem Gespenst der sozialen Revolution zu befreien. Aber die Internationale antwortet ihnen mit einem einheitlichen Ruf: Nieder mit dem Krieg! Die Arbeiter wissen, dass hinter der Kriegsdrohung der kapitalistische Staat steht, der das Volk mit neuen Steuern belasten will, dass dahinter die Kriegsindustrie steht, die ihre Profite steigern will.“

Auch in Deutschland und Österreich engagierte sie sich in der Antikriegsbewegung. Sie war im Reichstag, als im August 1914 für die Kriegskredite gestimmt wurde: „Nur Karl Liebknecht, seine Frau Sofie Liebknecht und einige andere deutsche Genossen, wie ich, vertraten denselben Standpunkt und hielten es wie ich für die Pflicht eines Sozialisten, gegen den Krieg zu kämpfen. Seltsamerweise war ich am 4. August, dem Tag, an dem über den Kriegshaushalt abgestimmt wurde, im Reichstag anwesend. Der Zusammenbruch der Sozialistischen Partei Deutschlands war für mich eine Katastrophe ohnegleichen. Ich fühlte mich völlig allein und fand nur in der Gesellschaft der Liebknechts Trost. Mit Hilfe einiger deutscher Parteifreunde konnte ich im August 1914 mit meinem Sohn Deutschland verlassen und auf die skandinavische Halbinsel auswandern.“

In Schweden wurde sie wegen Antikriegspropaganda inhaftiert. Nach ihrer Freilassung, im Februar 1915, begab sie sich nach Norwegen, wo sie gemeinsam mit Alexander ­Schljapnikow als Bindeglied zwischen der Schweiz, dem Aufenthaltsort Lenins und des Zentralkomitees, und Russland diente. Im Juni 1915 brach sie mit den Menschewiki und trat offiziell den Bolschewiki bei. Im September 1915 war sie zentral an der Organisation der Zimmerwalder Friedenskonferenz beteiligt. Ihre Schrift „Wer braucht den Krieg“ (1915) wurde in mehrere Sprachen übersetzt und in zahllosen Auflagen und Millionen von Exemplaren verbreitet. Sie unternahm zwei Vortragsreisen durch die USA, nahm an einer Gedenkveranstaltung für Joe Hill in Seattle teil und sprach von derselben Plattform wie Eugene Debs in Chicago.

Mit Ausbruch der Februarrevolution 1917 kehrte Kollontai nach Russland zurück und setzte sich für eine klare Politik der Nichtunterstützung der provisorischen Regierung ein. Sie wurde zum Mitglied des Zentralkomitees des Petrograder Sowjets gewählt. Kollontai agitierte weiter für die Revolution in Russland und begann ihre Mitarbeit an der bolschewistischen Frauenzeitung „Rabotniza“ (Arbeiterin) und drängte die Bolschewiki und die Gewerkschaften, der Organisierung von Arbeiterinnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im Mai 1917 beteiligte sie sich am Streik der Wäschereiarbeiterinnen, die die Kommunalisierung aller Wäschereien forderten. Der Arbeitskampf hielt sechs Wochen an, doch blieb die Forderung der Arbeiterinnen vom Kerenski-Regime unerfüllt.

Nach der Revolution wurde Kollontai zur Kommissarin für Soziales in der neuen Sowjetregierung gewählt. Kollontais Beschreibung vermittelt in der „Autobiographie“ einen lebhaften Eindruck ihrer Arbeit in der völligen Umgestaltung der ersten Revolutionszeit:„Meine Hauptarbeit als Volkskommissar bestand in Folgendem: per Dekret die Lage der Kriegsversehrten zu verbessern, den Religionsunterricht in den dem Ministerium unterstellten Mädchenschulen abzuschaffen (…) und die Priester in den Staatsdienst zu versetzen, das Selbstverwaltungsrecht für die Schülerinnen der Mädchenschulen einzuführen, die ehemaligen Waisenhäuser in staatliche Kinderheime umzuwandeln (…), die ersten Heime für Bedürftige und Straßenkinder einzurichten, eine nur aus Ärzten zusammengesetzte Kommission einzuberufen, die mit der Ausarbeitung des kostenlosen öffentlichen Gesundheitswesens für das ganze Land beauftragt werden sollte. Die wichtigste Errungenschaft des Volkskommissariats war jedoch meiner Meinung nach die gesetzliche Gründung einer Zentralstelle für Mutter- und Säuglingsfürsorge. Der Gesetzesentwurf zu dieser Zentralstelle wurde von mir im Januar 1918 unterzeichnet. Es folgte ein zweiter Erlass, in dem ich alle Entbindungsheime in kostenlose Heime für Mutter- und Säuglingsfürsorge umwandelte, um damit die Grundlage für ein umfassendes staatliches System der Schwangerenfürsorge zu schaffen. (…) Eine besondere Wut packte die religiösen Anhänger des alten Regimes, als ich eigenmächtig (das Kabinett kritisierte mich später für diese Aktion) das berühmte Alexander-Newski-Kloster in ein Heim für Kriegsinvaliden umwandelte. Die Mönche wehrten sich und es kam zu einer Schießerei. Die Presse erhob erneut ein lautes Geschrei gegen mich, die Kirche organisierte Straßendemonstrationen gegen meine Aktion und verhängte das ‚Anathema‘ gegen mich.“

1918 sprach sie sich gegen die Ratifizierung des Vertrags von Brest-Litowsk aus und trat aus der Regierung aus, um die Einheit des Kommissariats durch ihre Opposition in einer so entscheidenden Frage nicht zu gefährden. Der Vertrag bedeutete den Verlust großer europäischer Gebiete einschließlich Finnlands und der Ukraine für Sowjetrussland. Mit dieser Position stellte sie sich gegen Lenin, für den der Frieden Vorrang hatte.

Kollontai blieb allerdings als Agitatorin und Organisatorin aktiv und spielte eine Schlüsselrolle bei der Organisation des Ersten Allrussischen Kongresses der Arbeiterinnen und Bäuerinnen, fungierte in führenden Positionen und gründete 1919 gemeinsam mit Inessa Armand und Nadeschda Krupskaja den Frauenausschuss (Schenotdel) der Kommunistischen Partei. Dieser richtete seine Arbeit auf die Verbesserung der Lebensbedingungen von Frauen in der gesamten Sowjetunion, der Bekämpfung des Analphabetismus sowie auf die Aufklärung von Frauen über die neuen Ehe-, Bildungs- und Arbeitsgesetze. Im sowjetischen Zentralasien war der Schenotdel bemüht, das Leben der muslimischen Frauen durch Alphabetisierungs- und Bildungskampagnen sowie durch Kampagnen zur „Entschleierung“ zu verbessern. Der Schenotdel erwirkte auch im November 1920 erstmals in der Geschichte die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. In einer von mehreren Schriften zur Lage der Frau schrieb Kollontai 1919 in „Die Beziehung zwischen den Geschlechtern und der Klassenkampf“ über ihre Vision einer wirklich freien Gesellschaft, in der die Gleichberechtigung nicht allein gesetzlich geregelt ist, sondern erst erreicht ist: „wenn ihre Psyche über einen ausreichenden Vorrat an ‚Rücksichtsgefühlen‘ verfügt, wenn ihre Liebesfähigkeit größer ist, wenn die Idee der Freiheit in den persönlichen Beziehungen Tatsache wird und wenn das Prinzip der ‚Kameradschaft‘ über die traditionelle Idee der ‚Ungleichheit‘ und der Unterwerfung triumphiert“.

1921 geriet sie in Konflikt mit der Kommunistischen Partei und Lenin direkt, als sie sich öffentlich zu der Arbeiteropposition bekannte, einer Gruppierung gegen Parteizentralismus. Die Gruppierung wurde aufgelöst und Kollontai verblieb in kritischer Opposition innerhalb der Partei.

1922 trat sie auf eigenen Wunsch in den sowjetischen diplomatischen Dienst zunächst in Norwegen, dann in Mexiko, dann wieder in Norwegen und Schweden. Sie kommentiert: „Diese Ernennung erregte natürlich großes Aufsehen, war es doch das erste Mal in der Geschichte, dass eine Frau offiziell als ‚Botschafterin‘ tätig war. (…) Ich machte es mir zur Aufgabe, die rechtliche Anerkennung Sowjetrusslands zu erwirken und die durch den Krieg und die Revolution unterbrochenen Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern wiederherzustellen. (…) Am 15. Februar 1924 erkannte Norwegen de facto die UdSSR de jure an.“

Alexandra Kollontai fungierte auch als Unterhändlerin des finnisch-sowjetischen Friedensvertrags von 1940 und diente der UdSSR mit großer Gewandtheit. Bis zu ihrer Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen 1945 lebte Kollontai als Diplomatin im Ausland. Danach und bis zu ihrem Tod am 9. März 1952 diente sie dem sowjetischen Außenministerium als Beraterin.

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"Wenn die Freiheit Tatsache wird", UZ vom 1. April 2022



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