Je mehr die Reichen reicher werden, umso mehr schadet das dem Wirtschaftswachstum. Und die Schwächung der Gewerkschaften ist auch für das Wachstum schädlich, weil sie zu den Ursachen für die Zunahme der Ungleichheit bei der Einkommensverteilung gehört.
Diese den herrschenden neoliberalen Doktrinen zuwiderlaufenden Erkenntnisse stehen ausgerechnet in einer Studie von fünf Wirtschaftswissenschaftlern des Internationalen Währungsfonds (IWF), die am 15. Juni 2015, auf den Internetseiten des IWF unter dem Titel „Ursachen und Konsequenzen von Einkommensungleichheit – eine globale Sicht“ veröffentlicht worden ist.
Nach Ansicht der Verfasser ist die Ausweitung der Einkommensungleichheit „die entscheidende Herausforderung unserer Zeit“. In den wirtschaftlich entwickelten Ländern habe die Kluft zwischen den Reichen und den Armen das höchste Niveau seit Jahrzehnten erreicht. Aber auch in den Entwicklungsländern vergrößert sie sich.
Das ist kontraproduktiv für das Wirtschaftswachstum, stellten die IWF-Wissenschaftler anhand umfangreicher statistischer Daten und Berechnungen fest: Wenn der Einkommensanteil der reichsten 20 Prozent sich um einen Prozentpunkt vergrößert, hat das zur Folge, dass das Wachstum der Gesamtwirtschaft (BIP-Wachstum) in den folgenden fünf Jahren durchschnittlich um 0,08 Prozentpunkte geringer ausfällt. Wenn hingegen der Einkommensanteil der ärmsten 20 Prozent um den gleichen Anteil (einen Prozentpunkt) erhöht wird, liegt das Gesamtwirtschaftswachstum danach um fast 0,4 Prozent höher. Die Forscher leiteten diese Feststellung aus einer Analyse der Daten aus 159 Ländern über die Zeit von 1980–2012 ab.
Eine „mögliche Erklärung“ für diese Tatsache ist nach Ansicht der IWF-Forscher, „dass die Armen und Mittelschichten dazu tendieren, einen höheren Anteil ihres Einkommens zu konsumieren als die Reichen“. Wörtlich heißt es in einer Zusammenfassung der Studie auf der entsprechenden Internetseite des IWF: „Wenn mehr Geld in diese Segmente der Gesellschaft fließt, werden sie es eher konsumieren als festlegen, was die Nachfrage erhöht und das Gesamtwachstum auf kurze Frist antreibt.“ Das bedeute, dass die Armen und Mittelschichten die wichtigsten Antriebsmotoren für das Wirtschaftswachstum seien, auf die sich die Wirtschaftspolitik konzentrieren müsse. Auch auf längere Frist bedeute anhaltende Ungleichheit bei der Einkommensverteilung, dass Arme und Mittelschichten weniger Gelegenheit zur Ausbildung und zur Entwicklung ihrer Fähigkeiten haben, was wiederum nachteilig für die Entwicklung von Arbeitsproduktivität und Wirtschaftswachstum sei.
Die IWF-Studie widerlegt damit ein Standardmärchen der neoliberalen Wirtschaftstheorie. „Die Gewinne der Unternehmer sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen“, hieß es in der Fassung deutscher Politiker. Dass das Gegenteil der Fall ist, hatten Arbeiter und Angestellte und die Gewerkschaften schon in der Vergangenheit anhand der praktischen Erfahrung immer wieder feststellen müssen. Nun belegten das auch die IWF-Wirtschaftswissenschaftler durch die Aufarbeitung umfangreicher statistischer Daten.
Es ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dass die IWF-Chefin Christine Lagarde diese Studie ihrer eigenen Wissenschaftler höchstwahrscheinlich gar nicht erst lesen, auf jeden Fall aber bei der Durchsetzung ihres harten Austeritätskurses gegen Griechenland und andere „Schuldenländer“ in aller Welt total ignorieren wird.
Dennoch verdienen die Erkenntnisse dieser IWF-Studie Beachtung, besonders in den Gewerkschaften. Die Studie befasst sich nämlich auch mit den Ursachen, warum sich die Einkommensverteilung in der Welt in den letzten Jahrzehnten weiter zugunsten der großen Vermögensbesitzer verändert hat. Da heißt es u. a.: „Flexiblere Regeln bei Einstellung und Entlassung, niedrigere Mindestlöhne und weniger kräftige Gewerkschaften (!) sind mit größeren Ungleichheiten verbunden“. Ein Rückgang der Mitgliedschaft der Gewerkschaften könne „die relative Verhandlungsmacht der Arbeit reduzieren“. Der Rückgang des gewerkschaftlichen Organisationsgrades sei unbestreitbar mit einem Anwachsen der Einkommensanteile der Spitzenverdiener verbunden. Wenn das selbst Wissenschaftler beim IWF sagen …