Stephen Frears’ „The Lost King“ jetzt im Kino

Wenn Dichtung zu Wahrheit gemacht wird

Geschichte, so sagt man, wird von den Siegern geschrieben. Als der erklärte Antimonarchist Stephen Frears mit seinem Film „The Queen“ (2006) die Rolle von Elizabeth II nach dem Tod von Prinzessin Diana kritisch beleuchtete, trug dies dem Film zwar viele Preise und „Queen“ Helen Mirren sogar den Oscar ein – das Bild der Royals in den Klatschmedien hat dies kaum verändert. So muss es dem heute 82-Jährigen wie ein Wink des Schicksals erschienen sein, dass es einer unscheinbaren Hausfrau aus Edinburgh gelungen ist, die Geschichtsschreibung des britischen Herrscherhauses gegen alle Widerstände wesentlich zu korrigieren: 2013 wurden die von ihr just in Frears’ Geburtsstadt Leicester entdeckten und eindeutig identifizierten Gebeine von König Richard III (1452 – 1485) offiziell und mit allen Ehren in der Leicester Cathedral beigesetzt. Für Jahrhunderte hatte er als blutrünstiger Mörder und Usurpator gegolten, ganz so, wie ihn Nationaldichter Shakespeare in seinem Bühnendrama dargestellt hatte.

Als „verlorener König“ ist nun Richard III zum Titelhelden von Frears’ neuem Film geworden – seine eigentliche Heldin aber ist jene Philippa Langley, geschiedene Mutter zweier Söhne und als CFS-Kranke beruflich und sozial gehandicapt. Als solche erlebt sie Shakespeares Drama völlig irritiert: sie bemitleidet Richard als sozial Ausgestoßenen und Sündenbock, auf den die neuen Herrscher aus dem Hause Tudor alle Schandtaten abwälzten, um ihr Regime zu legitimieren. Sein Grab zu finden und seinen Ruf wieder herzustellen, wird Philippa zur Lebensaufgabe – und für Darstellerin Sally Hawkins zu einer Paraderolle, die sicher eines Oscars würdig wäre. Großartig auch Steve Coogan (mit Michael Jones auch Frears’ Stammautor) als Philippas Ex-Ehemann John, der sie ungeniert mit einer Prostituierten betrügt oder lieber mit den Söhnen im Kino James-Bond-Filme schaut. Ungewöhnlich blass bleibt dagegen Harry Lloyd als Titelfigur, zumal ihm das Drehbuch eine Rolle zugedacht hat, die zum realistischen Grundton des Films so gar nicht passen will: Im vollen Ornat und als gekrönter König hoch zu Ross erscheint er regelmäßig in Philippas Alltag – und nur dort.

Der Märchencharakter dieser Szenen könnte in feinem Kontrast zu Philippas hartnäckigem Gerangel mit der Obrigkeit stehen, stellt Frears’ Film aber vor ein dramaturgisches Dilemma, das nur durch Sally Hawkins’ brillantes Spiel einigermaßen gelöst wird: Die Auseinandersetzung mit Stadtrat und Universitätsspitze zeigt Philippa als Mensch mit Bodenhaftung, die aber Richards „Erscheinung“ in keiner Weise hinterfragt. Verständlich also, dass ihre Gegner und auch ihre Familie sie lange nicht ernst nehmen. Erst Philippas Erfolg hat – wie so oft in der Geschichte – plötzlich viele Väter, die dann an ihr Geschwätz von gestern nicht mehr erinnert werden wollen.

Die reale Philippa Langley hat offenbar zögerlich auf das Angebot einer Verfilmung reagiert, und die Filmdatenbank IMDB schreibt ihr sogar Mitwirkung am Drehbuch zu – was den seltsam zwiespältigen Filmschluss erklären könnte. Denn als strahlend triumphierende Siegerin über die ungerechte Welt wäre sie nach Frears’ Sicht wohl nur eine Heldin von der Stange. Stattdessen sehen wir sie dort wirken und ihre Version der Geschichte erzählen, wo die Geschichtsfälschung zu allen Zeiten ihre leichtesten Opfer findet: unter der (hoffentlich!) noch unindoktrinierten Jugend. Shakespeare wird’s hinnehmen müssen.

The lost King
Regie: Stephen Frears
Unter anderem mit: Sally Hawkins, Harry Lloyd, Steve Coogan und James Fleet
Im Kino

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"Wenn Dichtung zu Wahrheit gemacht wird", UZ vom 6. Oktober 2023



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